Theater der Zeit

Report

Theater der Dinge: Streichhölzer, Postkarten, Tablet-Spiele

Das Festival Theater der Dinge an der Berliner Schaubude

von Tom Mustroph

Erschienen in: Theater der Zeit: Bühne & Film – Superstar aus Neustrelitz (01/2023)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Berlin Schaubude Berlin

Die Performance »Tiefenrausch« (»L'Ivresse des profondeurs«) von Sayeh Sirvani beim Festival Theater der Dinge an der Schaubude Berlin
Die Performance »Tiefenrausch« (»L'Ivresse des profondeurs«) von Sayeh Sirvani beim Festival Theater der Dinge an der Schaubude BerlinFoto: Coralin Charnet

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Das Festival macht seinem Namen alle Ehre. Denn es waren vor allem die Dinge, die bei diesem alljährlichen Festival der Berliner Schaubude begeisterten. Zwar waren sie von Menschen animiert. Aber wie schnell zum Beispiel einem Streichholz so etwas wie eine Seele zufiel, war berührend. Als Schlüsselmoment für’s Gelingen der Belebungsprozesse erwies sich die Freude daran, etwas zu erzählen und miteinander zu teilen.

Auch ganz kleine Dinge können Zauberkraft entfalten. Beim palästinensischen Puppenspieler Husam Abed sind es Streichhölzer und Reiskörner, die Familiengeschichten erzählen und dabei Kriegsgebiete von Syrien bis Bosnien berühren. Abed selbst hatte kaum mehr als einen Koffer, ein paar Schachteln und eben den Reis und die Zündhölzer dabei. Allein mit diesen Elementen, begabt mit mehrsprachigem erzählerischem Talent und begleitet von Soundcollagen einiger Handlungsorte zeichnet er in seiner Produktion „War Maker“ den Weg seines Protagonisten Karim Shaheen vom Libanon des Bürgerkriegs über das vom Irak angegriffene Kuwait bis ins zerfallende Jugoslawien und weiter nach Syrien nach. Shaheen und seine Familienmitglieder sind in den Erzählungen Streichhölzer. Stirbt einer, zündet Abed ein Streichholz an. Nachdem die Flamme erloschen ist, zerknickt er noch das Streichholz und steckt es in eine schwarze, wie ein Sarg wirkende Schachtel. Selten ist ein Tod einfacher erzählt worden. „War Maker“ nennt Abed sein Stück, weil sein Protagonist Shaheen, der auf der Flucht vor dem einen Krieg stets in einen neuen gerät, von sich selbst glaubt, dass es seine Präsenz ist, die den jeweiligen Krieg auslöst. Nach der Vorstellung lud Abed das Publikum noch auf die Bühne. Dort konnte man in dem Koffer kramen, der in diesem Stück das Theater war und in sich die diversen Handlungsorte aufnahm.

Nicht viel größer als Abeds Koffer war das Theater, das die tschechische Kompagnie FRAS in „Der Kleinste der Samen“ bespielte. Die drei Performer:innen, die an der Prager Theaterhochschule zueinandergefunden haben, lungern um ein kreisrundes Bühnenelement, das einer Trommel gleicht. Mit einem Figurenarsenal in gleich drei Größen – von fingernagelgroß über fingergroß bis mit zwei Händen zu spielen – erzählen sie die Geschichte eines Jungen aus dem hohen Norden, der Rentiere vor dem Verhungern rettet. Auch hier gelingt es, eine sehr intime Atmosphäre zu etablieren, etwa so, als sei man bei Freunden eingeladen und teilte Geschichten, wie einst die von Scheherezade oder die Märchen, die die Gebrüder Grimm sammelten. Reizvoll sind auch die filmischen Effekte durch die unterschiedlichen Größen der Figuren: Sind der Sami und die Rentiere ganz klein, wirken sie sehr weit weg. Nehmen die Spieler die gleichen Figuren eine Nummer größer in die Hand, fühlt man sich hingegen gleich mittendrin in der Szene. Und weil die Ungeheuer am tiefsten Seegrund, die der Held bekämpfen muss, aus bizarren Wurzeln geformt sind, die im Vergleich zum Samenjungen riesenhaft wirken, ist die Magie der Märchen ganz schnell hergestellt.

Sehr familiär ging es ebenfalls bei „Die Melancholie des Touristen“ des spanisch-mexikanischen Duos Jomi Oligor und Shaday Larios zu. Mit Postkarten, die teils mechanisch bewegt, teils als Dias an die Wand projiziert werden, mit Kleinstfiguren auf einer Miniaturbühne und mit einem per Hand weitergekurbelten Text auf einer Stoffrolle führen sie in die Lebenswelten einer zur Tourismusikone gewordenen Kubanerin sowie eines früheren Stars der Klippenspringerszene aus dem mexikanischen Acapulco ein. Ganz verzaubert folgt man diesen biografischen und mentalitätsgeschichtlichen Spuren.

Eigentlich hatte die Schaubude ihrem Festival das Motto „Spuren der Verunsicherung“ gegeben. Das passte tagesaktuell natürlich perfekt. Die anmutigsten Produktionen des Festivals weiteten allerdings den Blick auf ganz andere Horizonte: darauf, dass gemeinsames poetisches Erleben noch immer gelingen kann. Spuren der Hoffnung wurden bei diesem Objekttheaterfestival mit ganz kleinen Dingen gelegt.

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