Auftritt
Schauspiel Köln: Das letzte Fünkchen Hoffnung
„Imagine“ von Alexander Kerlin, Kay Voges und Ensemble (UA)– Regie Kay Voges, Bühne Pia Maria Mackert, Kostüm Mona Ulrich, Videoart Mario Simon, Jan Isaak Voges, Musik und Sounddesign Tommy Finke, Choreografie Berit Jentzsch
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Kay Voges

Am Ende liegen alle tot auf der Bühne. Fast alle. Die beiden Kamera-Roboter, die 105-minütig unablässig das Bühnenbild umkreist haben, fangen noch eine letzte Spur Leben auf. Mit dunkler, warmer Stimme singt die Schauspielerin Anke Zillich „Imagine“ von John Lennon und Yoko Ono, ein Lied der Hoffnung, das die Friedensbewegung und Amnesty International benutzen, ein Lied über eine Welt ohne Staaten, ohne Kriege, ohne Himmel und Hölle. Und wahrhaftig regt sich eine der Leichen vorne auf der Bühne. Es ist noch nicht alles vorbei.
Das ist das Ende von „Imagine“, der Eröffnungsinszenierung von Kay Voges am Schauspiel Köln, aus bekannten Gründen immer noch nicht im Schauspielhaus, sondern im Depot in Köln-Mülheim. Ein Abend wie eine Zwischenbilanz, als hätten Kay Voges und Ko-Autor Alexander Kerlin die wichtigsten Bestandteile ihres bisherigen Schaffens in Dortmund und Wien zusammengetragen, um sich dem Kölner Publikum vorzustellen.
Da ist die sich unablässig bewegende Kamera, wie sie zuerst in „Das Fest“ am Schauspiel Dortmund zu sehen war. Hier sind es zwei auf Schienen, das Ensemble muss sich an ihnen orientieren und auf die Sekunde genau vor der Linse sein. Dabei noch im stummen Spiel Charaktere zu etablieren und sie glaubhaft zu verkörpern, ist eine virtuose Aufgabe, die alle perfekt erfüllen. Dann die collagierten kurzen Szenen, die sich zuerst wiederholen, dann weiterentwickeln und zu großen Bildern kulminieren. Das erinnert an die „Borderline Prozession“, den wohl größten Wurf von Kay Voges und Team bisher. Die wunderbare Bühne von Pia Maria Mackert zeigt ein Dorf mit mehreren Häusern und einer Kirche im Zentrum. Auch die dem Publikum abgewandte Seite wird bespielt und über zwei große Screens sichtbar gemacht.
Locker angelehnt ist das Stück an Peter Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“, das nur aus Regieanweisungen besteht. Die Uraufführung von „Imagine“ war an dem Tag, als Claus Peymann in Berlin beerdigt wurde. Peymann hat 1992 am Wiener Burgtheater die Uraufführung inszeniert, licht und heiter, mit kurzen Abgründen, eine poetische Feier des mediterranen Lebens. „Imagine“ ist nun eine Antithese mit ähnlichen Mitteln. Die Menschen schleppen sich durchs Leben im immergleichen Takt. Wer mit einem anderen übernachtet hat, bezahlt ihn am Morgen für seine Dienste. Der Pfarrer steht vor der Kirche im fahlen Licht und wirkt wie ein Geist. Wer sich die Videobilder anschaut, sieht die gleichen Szenen in ganz anderen Farben. Sie wirken viel satter und bunter als im realen Bühnenbild, ein Verfremdungseffekt, der an Filme von David Lynch erinnert. Vor allem wenn man – wie ich – zufällig kurz vor der Kölner Premiere noch „Blue Velvet“ gesehen hat.
Ein älterer Mann fällt hin und stirbt. Die anderen plündern ihn aus, ziehen ihm die Kleidung vom Leib, lassen ihn erst lange liegen, dann wirft jemand eine schwarze Mülltüte auf den Körper. Später erwacht er wieder zum Leben, und schnell bildet sich eine Sekte. Der Auferstandene (Uwe Schmieder, ohnehin unkaputtbar) wird in die Kirche geführt und ekstatisch gefeiert. Es steckt also doch noch eine Sehnsucht in dieser kaputten Gesellschaft. Sie wollen erlöst werden und an etwas glauben, egal an was und wen. Die Gewalt wird immer roher, schließlich finden sich alle in einem letzten Rave, die Körper zucken, bis sie nicht mehr zucken. Sondern nur noch da liegen. Der Rest ist „Imagine“.
Das Großartige an diesem Theater von Kay Voges ist seine Offenheit. Das Stück ist eine Gegenwartsbeschreibung, doch die Bilder und Figuren sind nicht eindeutig. Jeder und jede kann sie weiterdenken, weiterfühlen und mit dem eigenen Leben verbinden. Auch nach der Premiere von „Imagine“ sagen viele, sie wollen sich das Stück schnell noch einmal anschauen. Das ist bei Kay Voges oft der Fall. Wer allerdings schon viel von ihm gesehen hat – zum Beispiel die bereits erwähnte „Borderline Prozession“ – geht nicht ganz beglückt aus der Premiere. Denn die stummen Szenen und Geschichten waren schon mal eindringlicher und berührender. Das Ensemble ist Ko-Autor gewesen, jede und jeder hat die eigene Rolle mitgestaltet und bekommt eine ähnlich große Kamerapräsenz. Das ist verständlich, um sich in Köln vorzustellen. Aber mehr Fokussierung würde aus einem guten einen sehr guten Theaterabend machen.
Aber auch so bleiben große Bilder, eine stimmungsvolle Musik von Tommy Finke, ein Flow-Erlebnis und Dankbarkeit für das Fünkchen Hoffnung am Ende. Außerdem die Überzeugung, dass das Schauspiel Köln eine aufregende Zeit vor sich hat.
Erschienen am 29.9.2025