Theater der Zeit

digitale erschließungen

eine utopie der zugänge, digitalität, diversität und theater

von Miriam Michel

Erschienen in: Arbeitsbuch 2021: transformers – digitalität inklusion nachhaltigkeit (07/2021)

Assoziationen: Debatte Dossier: Digitales Theater

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Das Internet ist frei. Digitalität hat uns in der Krise gerettet. Endlich können alle am Theatererlebnis teilhaben. Barrierefreiheit in der Kunst ist mehr als eine Rampe.

Im Kontext von Digitalität, Theater und Diversität spielt das Nachdenken über Zugänge und Zugänglichkeit eine große Rolle. Leicht kann die digitale Welt, weil sie körperlos scheint, zu einem Eden der Barrierefreiheit stilisiert werden. Hier kann jede*r rein. Aber so ist es nicht, weil das Internet, die digitalen Werkzeuge und die meisten Algorithmen nicht von und für Menschen mit Behinderung (behinderte Menschen, bitte wählen Sie eine Bezeichnung, die für Sie nichtdiskriminierend ist) gemacht wurden. Das ist nicht schlimm, aber sehr schade. Auch müssen jetzt nicht ganz schnell Computerspezialist*innen und Coder*innen mit Behinderung gesucht werden, damit alles gut wird. Es geht mir hier nicht um das Lamento, dass so wenige Frauen*, FLINTA*, LGBTQ-Menschen, BIPOC oder schwarze und eben wenige Menschen mit Behinderung (körperlich, geistig, psychisch) die digitale Welt mitbestimmen. Denn das ist, wie oben gesagt, äußerst schade, unpraktisch und ein gesellschaftlicher Verlust für alle, aber eben ausgehend von der heteronormativen, weißen, von Männern dominierten, fähigkeitsorientierten Gesellschaft, in der wir heute noch leben: keine Überraschung! Mit wie vielen Menschen mit Behinderung oder Frauen* of Color haben Sie in Ihrem IT-Grundkurs auf der Gesamtschule in einer Kleinstadt in Deutschland die Stunden verbracht? Und wie viele von diesen Menschen sind Spezialist*innen für Digitalität und Theater geworden und haben ihre eigenen Erfahrungen von Barrieren, die den Zugang zu Kunst und Kultur und insbesondere Theateraufführung unmöglich machen, in ihrer Arbeit als Ausgangspunkt nutzen können?

Wie viele Geschichten dieser Art können Sie erzählen?

Ich kenne niemanden. Keine einzige Person. Das liegt an mir, meiner Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, und am System, in dem ich lebe. Es gibt viele Spezialist*innen für Digitalität+Theater+Diversität, die ich nicht kenne. Deshalb ist dies kein Artikel über bestehende digitale Werkzeuge und Programmiersprachen, sondern (m)eine Utopie! Eine Utopie der Digitalen Erschließungen, die uns Theater gemeinsam erleben lassen, indem Digitalität auf mannigfaltige Weise genutzt wird, um neue Zugänge zu eröffnen und alte zu verbessern. Ich schreibe diesen Artikel, weil ich mich aufgrund meiner persönlichen Voraussetzung und den Menschen, mit denen ich Kunst mache, intensiv mit Barrieren beschäftige, die ich in vielen Situationen am Theater als hinderlich für mich und für andere empfunden habe. Da ich mit einigen Künstler*innen mit Behinderung zusammenarbeiten darf und in den letzten zehn Jahren viel lernen konnte, spreche ich hier nicht für, sondern aus der Gruppe der Zugangsbehinderten. Sowohl mit dem Performancekollektiv dorisdean als auch als Solokünstlerin und in verschiedenen anderen Kooperationen beschäftigen wir uns immer wieder – und in pandemischen Zeiten verstärkt – mit der Frage, wie frei zugänglich eigentlich die digitale Theaterwelt ist. Welche Werkzeuge wollen und brauchen wir, um Herstellungsbedingungen, Bühnenräume und Zuschauerräume so einzurichten, dass für alle zu jeder Zeit alles vorhanden ist? Was brauchen wir, um Theater gleichberechtigt zu kreieren und rezipieren? Im Sinne der Vielstimmigkeit habe ich Künstler*innen aus meinem Umfeld nach ihren digitalen Utopien gefragt und ihre Impulse als Teil der Utopie in den Text eingeflochten.

Barrieren in der Digitalität (unvollständig):

Sprache / Hören / Sichtbarkeit / Sehen / Dauer / Anstrengung / Lautstärke / Helligkeit / Kontrast / finanzielle Mittel / körperliches Hantieren mit den elektronischen Geräten / kognitive Fähigkeiten / Bildung / Medienkompetenz

Gehen wir davon aus, dass Barrierefreiheit bedeutet, alle Menschen mit allen Eigenschaften und Fähigkeiten können zu jeder Zeit alle angebotenen Theaterproduktionen und Kunst- und Kulturveranstaltungen rezipieren, stellen sich umgehend einige Fragen:

Muss alles für alle sichtbar, hörbar und verständlich sein? Darf das Publikum eingreifen: in Lautstärke der Musik, Helligkeit des Lichts, Wahrnehmungstechniken? Ist das nicht eine ausschließlich künstlerische Entscheidung: ob etwas brüllend laut ist oder die Bühne dunkel ist, ob die Schauspieler*innen unverständlich nuscheln und ob der Text hochintellektuell ist? Wer darf Forderungen nach Rezeptionszugängen stellen, und wie stark darf eingegriffen werden?

Es stellt sich also mit der Zugangsfrage auch die Machtfrage. Die Machtfrage nach der Eintrittserlaubnis: Wer darf zugucken? Wer darf Kunst rezipieren? Wer darf sie machen? Was passiert, wenn wir Theater für alle machen? Und wer sind alle überhaupt? Sind mit alle auch taube Menschen, blinde Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder verändertem räumlichen Verständnis, leicht reizüberflutete Menschen oder solche, die keine Noten lesen können, gar nicht lesen können, die Bühnensprache nicht sprechen, europäische Werte und deutschen Kulturkanon nicht kennen, gemeint?

Da ist es passiert, Ableismus! So schnell geht das. Ich schaue mir an, was ich alles kann, und ärgere mich darüber, dass ich jetzt Theater machen oder schauen soll, für Menschen, die nicht meine Fähigkeiten haben. Ich selektiere, basierend auf den Fähigkeiten, die ich an mir als „normal“ empfinde, und vergesse, dass andere Menschen mit anderen Fähigkeiten diese/ihre, als „normal“ empfinden. Ich denke daran, was alles nicht geht, was für ein Mehraufwand das jetzt wird, zu übersetzen oder zu beschreiben, dass die Gebärdensprachdolmetscher*innen das Bild kaputtmachen, die Übertitel zu präsent sind und die Audiodeskription in die schöne Musik reinquatscht. Aber wenn ich defizitär denke, was passiert mit meiner Haltung gegenüber multiplen Zugängen zur Kunst? Wie wäre es, wenn ich visionär darauf blickte? Was, wenn ich das Mitdenken multipler Zugänge zum Kunstwerk, als Vervielfachung von Sinneseindrücken und Öffnen von Horizonten, bei mir und dem Publikum, verstehe? Was, wenn ich ausgehe von meinen eigenen speziellen Bedürfnissen im Theater, die ich doch auch gerne erfüllt hätte:

Kein helles Licht, keine lauten Schüsse, keine megalaute Musik, keine Online-Ticket-Kaufbörsen, bei denen ich Angst habe, was falsch zu machen und Geld zu verlieren, keine Videos von geschändeten Frauenkörpern, eine Möglichkeit, die Aufführung zu jeder Zeit zu verlassen, und lachen, ohne böse Blicke zu kassieren, Gefühle zeigen als Zuschauerin im Theater ohne Scham … Huch! Schon wieder defizitär gedacht von dem aus, was ich nicht will. Dabei geht es mir doch darum herauszufinden, was ich will, was ich brauche. Was brauchen wir Zuschauer*innen? Was brauchen wir Künstler*innen?

Wie sieht eine Utopie für das digitale, diverse Theater aus?

Digitalität im Theater (unvollständig):

Untertitel / Gebärdensprachübersetzung / barrierefreie Architektur / Alternativtexte für Screenreader/ Möglichkeit, Aufführung zu unterbrechen / Audiodeskription zum Ein- und Ausschalten / Kontrolle über die sensorischen Elemente

Bevor ich meine Utopie vor Ihnen ausbreite, will ich eine Bestandsaufnahme nach bestem Wissen und Gewissen versuchen. Grundsätzlich gilt: Digitalität im Theater findet statt.

Wir sehen Aufführungen mit Live-Videos, Simultan-Text-Projektionen aus der Regieloge, Greenscreen und 3-D-Projektionen als Bühnenbild. Wir kennen die Roboter-Performance Unheimliches Tal / Uncanny Valley von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) + Thomas Melle oder die Zoom-Performance Metamorphosis von HIJINX THEATRE. Forced Entertainment haben mit End Meeting for All im Jahre 2020 eine erste Online-Zoom-Performance-Serie in die digitale Theaterwelt gebracht. Es gibt einige aktuelle Beispiele von Theater+Digitalität+Diversität, die uns zeigen, was schon möglich ist. Architektonische Zugänge sind im digitalen Raum keine Hindernisse mehr. Es sei denn, dass der Zugang zu digitalen Endgeräten und Internet aus architektonischen Gründen verstellt ist. Oder, dass man irgendwo wohnt, wo das Internet sehr langsam Daten überträgt und so den Zugang zu Online-Theateraufführungen verhindert. Hat mensch Zugang zu Online-Angeboten, oder wird im analogen Theater Digitalität eingesetzt, kann das Theatererlebnis vielfältiger werden. Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist die Akademie für Digitalität und Theater am Theater Dortmund, die ihre Arbeit aufgenommen und ausgebaut hat. Digitalität und Theater findet statt. Aber ist sie auch eine Wegbereiterin für Diversität im Theater?

Digitalität hilft, Barrieren abzubauen, und muss gleichzeitig von Barrieren befreit werden.

Die Vorteile von digitaler, automatischer Untertitelung von Stücken in verschiedenen Sprachen sowie die Notwendigkeit von Gebärendsprachübersetzung sind, wenn auch noch nicht im Mainstream angekommen, schon sichtbarer als noch vor ein paar Jahren. Durch die BITV 2.0 (Barrierefreien Informationstechnikverordnung von 2019) sind alle öffentlichen Stellen des Bundes in der BRD verpflichtet, barrierefreien Zugang zu Webseiten etc. zu gewährleisten. Damit werden EU-Richtlinien umgesetzt, die in Zukunft standardmäßig in das Webdesign, auch von Theatern und Produktionshäusern, integriert werden. Der Fonds Darstellende Künste arbeitet an barrierefreien Antragswebseiten und -formularen. Sprachsteuerungen oder Bedienhilfen wie Screenreader, Spracheingabe, Augensteuerung etc. helfen auch im digitalen Theater, Barrieren abzubauen – nicht jede*r bedient eben sein*ihr Gerät mit Tastatur, Touch Screen oder Maus. Und die eigene Arbeit sowohl mit als auch ohne Audiodeskription anbieten zu können, ist im Zeitalter von Online-Theaterserien besser umsetzbar als noch vor ein paar Jahren. Die Verschiebung einiger unserer künstlerischen Arbeiten ins Digitale, u. a. durch die Kontaktbeschränkung zur Eindämmung der Verbreitung des neuartigen Sars-CoV-2-Virus, war ein Schritt hin zum Abbau von Barrieren in Online-Theater und -Kunst. Dadurch, dass digitale Online-Kunst ohne Bezahlung verschenkt wurde und wird, erleben wir den Abbau von Klassenbarrieren im Zusammenhang mit der Rezeption. Natürlich wirft die unbezahlte Kunst andere Probleme und Ungerechtigkeiten auf, die aber an anderer Stelle zu besprechen sind.

Eine digitale Erschließung von virtuellen Räumen findet statt. Das (Online-) Digitaltheater findet statt. Wie steht es aber um die standardmäßige Schaffung multipler Zugänge zu Theatererlebnissen und den Abbau von Zugangshürden in den Köpfen der Entscheidungsträger*innen in Theater, Oper und Performance? Und nicht zu vergessen, wie ausgeprägt nutzen wir Digitalität im Herstellungsprozess des Theaters, um existierende Barrieren abzubauen? Sind da schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft?

Nein.

Digitalität + Theater eine Utopie für eine gerechtere Zukunft (unvollständig):

Ich lege also los, stelle mir vor, alles ist möglich, und es gibt Menschen, die wissen, wie diese Utopie umgesetzt werden kann. Und Geld, um jene Menschen zu entlohnen. Ich, wie gesagt, weiß nicht, wie, ich weiß nur, dass!

Bevor wir zum Theater fahren oder uns für eine Online-Performance zu Hause bereit machen, laden wir auf der Webseite des Aufführungsortes – die vom Screenreader problemlos auszulesen ist – das Programmheft zum Stück runter. Digitale Programmhefte haben Video-Interviews mit Untertiteln und Audiodeskription, Trailer und Animationen zu Bühnenbild und Thema des Abends. Sind wir eher haptisch geprägt, drucken wir das Programm aus. Die Druckversion ist auf Deutsch auch in einfacher Sprache und in Brailleschrift sowie in allen weiteren Schriftsprachen erhältlich. Alle Kurzbeschreibungen von Vorstellungen gibt es immer auch in Einfacher Sprache, und wir sind wie immer total entspannt, weil unter der Rubrik: „Wir wollten schnell noch warnen!“ freundlich formulierte Triggerwarnungen (z. B. wegen Gewalt, Missbrauch, Rassismus, Sexismus), aber auch sensorische Informationen über Lautstärke und Helligkeit oder extreme Geräusche (Schüsse etc.) zur Verfügung gestellt werden. Wir als Zuschauende, die das Bedürfnis nach Triggerwarnungen haben, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, fühlen uns so sicher. Wir anderen ohne dieses Bedürfnis müssen nicht wissen, wann es laut wird, wo weibliche Körper geschändet dargestellt werden etc., wir lesen diese Rubrik einfach nicht. So schauen wir die Inszenierung in bequemen Theatersitzen, die individuell ausbaubar und verschiebbar sind, sodass wir als Rollstuhlfahrerin unseren Besuch nicht mehr einen Tag vorher im Theater anmelden müssen. Und natürlich gibt es Sitzreihen mit viel Beinfreiheit und andere mit erhöhten Sitzen. In der Pause erzählt uns die blinde Sitznachbarin von großartigen Interviews mit den Schauspieler*innen, die sie im Programmheft gelesen hat. Also laden wir via QR-Code das Heft schnell auf unser Smartphone und lassen uns das Interview mit Hörausgabe vorspielen. Es ist noch etwas Zeit, und wir hören uns auch die Beschreibung des nächsten Akts in unserer Muttersprache, z. B. in Mandarin, an. Dann ist die Pause vorbei, angenehme Töne und Lichtzeichen zeigen an, dass es weitergeht. Bei der Online-Theateraufführung bekommen wir – wenn wir wollen – eine Nachricht aufs Telefon, wenn die Pause vorbei ist.

Schauen wir die Aufführung mit Gebärdensprachübersetzung, sehen wir die Übersetzung entweder in den „Translating Glasses“, Tablets oder im integrierten Bildschirm der Sitzlehne vor mir. Avatare übersetzen in alle Gebärdensprachen dieser Welt, simultan, während die Vorstellung läuft. Das kann auch online als zuschaltbare App zugespielt werden. Die Gebärdendolmetscher*innen, die den Avataren die Gebärden beigebracht haben, werden in den Credits genannt und ausreichend entlohnt. Ist der Gebärdendolmetscher-Avatar ins Bühnenbild integriert, z. B. auf Leinwänden oder großen Bildschirmen, sehen wir dort Videos in verschiedenen Gebärdensprachen auf mehreren Bildschirmen, sodass in der laufenden Vorstellung verschiedene Gebärdensprachen angeboten werden können. Die Avatare werden entweder im Vorfeld mit dem Bühnentext gefüttert oder übersetzen mithilfe des digitalen Hörverstehens (z. B. bei improvisierten Performances). Manche Theatermacher*innen arbeiten lieber mit Real-Gebärdensprache-Übersetzung. Die Übersetzer*in gebärdet in einem Filmset, das gut ausgeleuchtet ist, ihre Übersetzung wird digital auf die Endgeräte der Zuschauer*innen gespielt oder als Live-Video in die Inszenierung integriert. Soll die Gebärdensprachübersetzung nicht ins Bühnengeschehen integriert werden, gibt es am Eingang besagte Tablets oder „Translating Glasses“ zu leihen, auf denen wir die Gebärdensprache unserer Wahl oder Untertitel aller Sprachen dieser Welt individuell auswählen können und angezeigt bekommen. Wir gehen ins Theater und sehen eine Aufführung, die wir für unsere Bedürfnisse in südafrikanische Gebärdensprache übersetzen lassen, und unsere Sitznachbarin schaut mit deutscher Gebärdensprache, im gleichen Theater, zur gleichen Zeit. Natürlich steht, im Falle einer Aufführung in deutscher Gebärdensprache die Übersetzung in Lautsprache für hörendes Publikum zur Verfügung. Entweder durch Untertitel oder als Simultanübersetzung per Audioausgabe über Leihkopfhörer. Die individuelle Auswahlmöglichkeit per Touch- oder Sprachbedienung ermöglicht uns den Zugang, den wir brauchen. Analog dazu gibt es Untertitel in allen Sprachen (inklusive Einfacher Sprache) simultan aus dem gesprochenen Wort heraus übersetzt (online und offline). Bei Produktionen mit bestehenden Texten füttern die Dramaturg*innen die Untertitelprogramme mit dem Bühnentext, bei improvisierten Performances versteht das digitale Programm per Spracherkennung, wann was gesagt wird, und projiziert die richtigen Worte. Texthänger sind kein Problem mehr. Asynchronizität in den Untertiteln ist ein Ding aus der Vergangenheit.

Analog- oder Online-Theater, immer genießen wir die Audiodeskription, die standardmäßig vorproduziert die Bildebene beschreibt oder in die Aufführungen als künstlerisch-poetisches Stilmittel integriert ist. In Zusammenarbeit mit Autor*innen und Sprecher*innen sind alle Vorstellungen und Performances deskribiert. Wenn wir vor Ort im Theater sind, hören wir am liebsten mit unseren eigenen Kopfhörern über das Smartphone die Deskription. Per Induktionsschleifen ist sie in verschiedenen Sprachen zugänglich und kann uns beim Besuch von partizipativen, mobilen Performances durch die inszenierten Räume leiten, da sie neben Räumen und Szenen auch Wege beschreibt. Das Programm weiß per GPS, wo wir Zuschauende uns in der Installation bzw. Performance befinden. Oft ist die Deskription aber sowieso ästhetisch, künstlerisch wichtiger Bestandteil der Inszenierung, und wir werden von Performer*innen durch die Aufführung geleitet. Diese Performer*innen sprechen die Sprache der Aufführung, die durch die Tablets oder „Translation-Glasses“ wieder in jede Sprache, die wir brauchen, übertragen werden kann. Bei Online-Theateraufführungen wählen wir per Spracheingabe oder Klick die passende Audiodeskription dazu, das ist vor allem bei älteren Aufführungen praktisch, als der künstlerischästhetische Mehrwert noch nicht erkannt war.

Können wir eine Aufführung nicht mit dem eigenen physischen Körper besuchen, buchen wir das „virtual reality body pack“. Per UPS (mit Elektro-Auto) liefert uns das Theater fullbody suits und virtual-reality-Brillen für den multiplen, vollsensorischen Theatergenuss: per virtual reality gehen wir durch die Räume, interagieren mit den Performer*innen, werden berührt oder diskutieren auf Panels über das Theater der Zukunft. Körperliche Anwesenheit, ohne physisch anwesend zu sein, öffnet uns viele Türen, auch über Kontinente hinweg, z. B. bei internationalen Festivals.

Sensorische Zugänge, wie eine individuelle Lautstärkeeinstellung per Kopfhörer an jedem Sitz, sind schon lange vorhanden. Jedes Theaterhaus bietet Entspannungsräume an, in denen die Vorstellung per Video übertragen wird. Hier können wir liegen, es ist möglicherweise abgedunkelt, und auch mit Angststörungen erleben wir einen tollen Theaterabend. Es gibt alles, was wir brauchen für den ungestörten Kunstgenuss. Für Menschen mit Entscheidungsschwierigkeiten gibt es das Überraschungs-Online-Theater-Abo, das zufällig aus allen Online-Theateraufführungen für uns auswählt. Der Algorithmus stellt eine Spielzeit zusammen, die uns viel Neues zeigt. Der Auswahlprozess basiert nicht auf Marketingalgorithmen aus dem, was wir sowieso gerne mögen, sondern aus tatsächlich zufällig gewählten Kunstwerken und Inszenierungen. Wir, vom digitalen Online-Angebot müde gewordenen Menschen, bekommen so Hilfe gegen die Impulslosigkeit. Die Onlineplattform, auf der alle Theaterhäuser und freien Spielstätten Europas ihre Veranstaltungen angeben – inklusive Level an Zugänglichkeit – sind seit Langem wichtiger Bestandteil des Theater-Feuilletons. Aber Achtung! Es wird nicht alles abgepuffert, verweichlicht und reibungslos gemacht. Die digitale Erschließung von Theater und Kunst will nicht allen alles recht machen, damit die Kunst an ihnen abperlen kann, wie an frisch geölten Arbeitsplatten. Es geht darum, tatsächliche Bedarfe zu erfüllen, damit Menschen sich sicher fühlen und Spaß an dem Erlebnis Theateraufführung haben können. Das heißt nicht, und da komme ich zurück zur Frage nach Kunstfreiheit und künstlerischen Entscheidungen, dass die Inszenierungen sich nur nach den Bedarfen der potenziellen Zuschauer*innen richten sollen.

Es geht darum, Zugang geben zu wollen!

Die Möglichkeit, Kunst zu rezipieren und sich selbst ein Bild zu machen, wird nur durch die Erschließung multipler Zugänge erreicht. Rückzugsorte und Zugänge für Menschen mit psychischen Abweichungen werden oft als Verweichlichung oder Verhätschelung gelesen. Das ist eine Frage der Perspektive, denn wenn man selbst z.B. keine Überreizung in überfüllten Räumen empfindet kann man nicht sofort nachvollziehen, warum Menschen multipler Zugänge bedürfen. Wir brauchen einen Zustand, in dem Ruheraum, Audiodeskription, Gebärdensprache, Sprachbedienung, Rollstuhlplätze etc. so selbstverständlich vorhanden sind wie Stühle, Toiletten, Bühnenlicht und Heizung. Heizung und öffentliche Toiletten waren im antiken Theater ja auch noch nicht so verbreitet wie heute.

Wir erleben gerade eine Zeit der großen Veränderungen, z. B. versuchen wir, Theaterräume von Aerosolen zu reinigen, und bauen Luftreinigungsanlagen. Für Allergiker*innen ist das eine hervorragende Chance. Hätten wir dies genauso vorangetrieben, wenn jetzt nicht auch „normalen Menschen“ Filteranlagen benötigten? Wer darf wie dabei sein?

Damit komme ich zum letzten Punkt, direkt hinein ins Herz des Theaters. Wie steht es mit der Digitalität und dem Abbau von Barrieren im Herstellungsprozess?

Die Utopie geht hinein in die Probenräume und Verwaltungstrakte. Wir treffen auf Ensembles, die aus unterschiedlichen großartigen Künstler*innen zusammengesetzt sind. All diese Menschen haben eigene Bedürfnisse, die nicht als Behinderung der Arbeitsprozesse gewertet werden, sondern wertfrei akzeptiert sind. Es gibt digitale Werkzeuge an jedem Theater, der Staat bezahlt die Ausstattung. Es gibt Maschinen zum Einscannen von Theatertexten mit Übertragungsfunktion in Brailleschrift zum direkten Ausdrucken der Texte. Einfache Sprache ist keine Sonderform mehr, sondern wird standardmäßig von Dramaturgie und Verwaltung angewendet. Konzeptionsmappen kommen in verschiedenen Sprachen, alle Beteiligten haben Workshops zum Thema Audiodeskription gemacht. Autor*innen und Künstler*innen sehen sie als Teil der künstlerischen Praxis, die mit neuen Medien direkt eingesetzt und erprobt werden . Allen Beteiligten macht es Spaß, sich neue, innovative Methoden für barrierefreie Textarbeit und digitale Zugänge auszudenken. In Schauspielschulen wird Deutsche Gebärdensprache gelehrt, und taube Autorinnen schreiben Texte, die in Gebärdensprache zur Uraufführung kommen.

Es gibt digitale, virtuelle Probenräume, in denen man sich mit augmented/virtual reality und fullbody suits trifft und miteinander tanzen kann, wenn Menschen mit Immunschwäche im Team sind, die physisch nicht da sein können oder wollen. Superpraktisch, auch wenn mal wieder eine Pandemie grassiert. Die fullbody suits fungieren auch als Ganzkörpertastatur, sodass Menschen per Muskelanspannung Texte schreiben können. Spracheingabe für Schriftverkehr und per Augen gesteuertes Sprechen sind gängige Kommunikationsmittel im Probenprozess und auf der Bühne. Wir verständigen uns darauf, Lautstärke- und Lichtregulation durch die Darsteller*innen zu erlauben. Eine Person wird beim Betreten der Bühne durch Gesichtserkennung oder body scan identifiziert, braucht sie weniger Licht und leisere Musik, um nicht irritiert zu sein, dimmt sich Licht und Musik herunter. Umgekehrt wird es natürlich auch heller und lauter bei Bedarf. Die Technik von Gesichtserkennung oder body scan achtet selbstverständlich die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten. Leise oder schwache Stimmen werden standardmäßig mit Mikrofonierung unterstützt, die digitale Abmischung des Bühnensounds denkt intelligent mit. Die Einzigartigkeit der einzelnen Stimmen wird trotz Mikrofonen erhalten. Die digitale Anpassung ist aktives und progressives künstlerisches, ästhetisches Mittel.

Alle Theater sind mit digital gesteuerten Rampen (neben regulären Treppen) ausgestattet, im Probenraum, auf der Bühne, im Zuschauerhaus, der Zugang mit Rollstühlen ist mobil und unkompliziert jeder Zeit gewährleistet. Bühnenbilder aus Greenscreens zeigen nach Bedarf Landschaften oder Innenräume. Alle Darsteller*innen können sich auf der Bühne frei bewegen. Digital gesteuerte und programmierbare Prothesen werden Teil der Körper der Performer*innen, sie können z. B. komplexe Bewegungsabläufe performen. Gleichsam gibt es Rollstühle, die digital gesteuert werden und futuristische Choreografien performen. Texte werden eingesprochen und als Voice Over abgespielt und damit integraler Bestandteil der Bühnenästhetik. Performer*innen, die sich nie Text merken, sind in den Ensembles willkommen. Wir arbeiten mit Videos von Darsteller*innen, denn niemand muss vier Stunden auf der Bühne stehen, um Schauspieler*in zu sein.

In meiner Utopie finden wir in Theaterhäusern und Produktionsgemeinschaften eine Atmosphäre, in der achtsame, offene, von Ehrlichkeit und Loyalität geprägte Herstellungsbedingungen existieren. Dort können sich alle beteiligten Menschen sicher fühlen und ihre eigene „Diversität“ bzw. ihr eigenes Abweichen von einer „weißen, heteronormativen, gesunden“ Norm offenlegen ohne Angst vor Sanktionen oder Diskriminierung. Dadurch entstehen diverse Ensembles, in denen alle Bedarfe und Bedürfnisse sichtbar werden, weil wir alle von dieser sogenannten Norm abweichen. Es ist das Ende der defizitär motivierten Zugänge. Doch dafür müssen wir etwas schaffen, digital und analog, das über die gesamte technisch und digital basierte Utopie hinausgeht. Denn die besten Tools nutzen nicht, wenn wir die Machtfrage nicht angehen. Sie nicht sehen, verstehen und verändern wollen. Macht uns das, was auf der anderen Seite der Gleichberechtigung wartet, doch noch Angst? Oder ist es Faulheit?

Reden wir über Bedürfnisse und Bedarfe. Reden wir progressiv, nicht defizitär. Reden wir gleichberechtigt über unsere Forderungen. Die Anerkennung von Diversität als Grundzustand bringt nicht nur Einblicke in die tatsächlichen Bedürfnisse der bestehenden Ensembles und Gruppen, sondern verbessert auch unsere Wahrnehmung für Missstände und Hindernisse.

Durch die Diversifizierung vollzieht sich eine ästhetische Wende, in der wir nicht mehr durch das Fehlen multipler Zugänge zu unseren Kunstwerken behindert werden. Neue Zugänge gestalten neue Formen, neue künstlerische Sprachen und Potenziale. Es wird unser Sehen verändern, unser Proben, unsere Hierarchien. Wenn für alle jeder Zeit alle Zugänge frei sind, werden Menschen zusammenkommen, die sich untereinander erst mal kennenlernen müssen, weil sie sonst keinen Kontakt haben. Es wird Streit, Konflikte, Ausloten und Aushalten benötigen. Es wird genau das Gegenteil passieren, was oft kritisiert wird, die Kunst wird nicht verweichlicht, sie wird integer, und das braucht Kraft und Ausdauer.

Behindert ist man nicht, behindert wird man!

Ich danke dorisdean, Philipp Hohmann, Wera Mahne, Stefan Kaegi und Linus König für die Inspirationen und Marcus Lobbes das Vertrauen.

QUELLEN:

https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Themen/EU-Webseitenrichtlinie/BGG-und-BITV-2-0/Die-neue-BITV-2-0/die-neue-bitv-2-0_node.html

https://barrierefreiposten.de/barrierefreiPosten.html

https://www.grenzenlos-kultur.de/intro/

(https://www.burg-huelshoff.de/en/medien/mediathek/droste-festival-2020-believe-in-us/dorisdean-video-serie-jesus-criessuperstar-part-one-audiodeskription)

www.dorisdean.de

https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/unheimliches-tal-uncanny-valley

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