Theater der Zeit

Kolumne

Worüber ich nicht geschrieben habe

Der Raum einer Kolumne ist unendlich

von Ralph Hammerthaler

Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)

Assoziationen: Debatte

Anzeige

Anzeige

„Sex Göttin Zensur“ hieß meine erste Kolumne in dieser Zeitschrift. Damals ging es um Alexeij und sein Projekt „Reine Pornografie“, noch dazu um einen verstimmten Oberbürgermeister in München, die aufgeschreckte Lokalpolitik und eine Drohung am Telefon durch eine CSU-Stadträtin: HörenS, wollenS nicht lieber verzichten auf Ihr Theater mit der Pornografie? Weil sonst schaut es nicht gut aus mit dem Geld von der Stadt, da wir mit Steuergeldern, verstehenS, keine Pornografie fördern können. Indem sie Alexeij das Geld wegnahmen, versuchten sie, ihn zu zensieren. Aber er spielte trotzdem sein Theater, angeblich mit einem Staatsanwalt auf der Premiere, im Anzug und mit Aktenkoffer, ganz so, wie er im Buche steht. Erschienen ist die Kolumne im September 2007.

Für eine Kolumne bin ich überallhin. Oder umgekehrt, ich bin überallhin und sah nicht selten eine Kolumne heraufdämmern. Irgendwann rief P. bei mir an; in Berlin traf ich ihn wieder. Seine Mitbewohnerin erzählte, P. sei erst seit Kurzem aus dem Krankenhaus zurück, er habe einen Versuch gemacht, doch zum Glück mit den falschen Tabletten. Für die Süddeutsche hatte ich einst über sein Leben berichtet, Hunger und Elend in der Jugend, dann die Liebe zu einer reichen, älteren Frau, dann die millionenschwere Erbschaft. Das Geld investierte er in eine Diskothek in Dänemark, aber er fiel den Betrügereien des Geschäftsführers zum Opfer. „Pleite eines Millionärs“, titelte die Zeitung. Bei der Heilsarmee noch hing die Diskokugel, ein Relikt aus goldenen Zeiten, an der Decke seines Zimmers; in der jetzigen Wohnung steckte sie verpackt in einem Karton. Zum Abschied stellte ich ihm die Kinderfrage: Was würden Sie heute anfangen mit einer Million? P. sagte: Sparen.

Ich habe über alles Mögliche geschrieben und über alles Mögliche auch nicht. Und ich habe, wenn ich mir das Mögliche vornahm, dieses Mögliche nie ausgeschöpft.

Worüber ich nicht geschrieben habe, ist das Krankenhaus in Prishtina (obwohl es immer wieder um Kosovo ging). Wie ich mit Jeton, dem erfolgreichen albanischen Stückeschreiber, der dort auch mein Verleger ist, über den Korridor schlurfte, ihn stützend, weil er bei jedem Schritt vor Schmerz das Gesicht verzog. Gleichzeitig spürten wir die Kraft unserer Freundschaft. Und wie ich unten im Foyer Saša entdeckte, den serbischen Schriftsteller, der ebenfalls da war, um nach Jeton zu sehen. Damals musste das Festival ohne Jeton auskommen. Am letzten Abend tranken und tanzten wir, um dann, ehe es hell wurde, eine offene Kneipe zu suchen. Wir, das waren die Übriggebliebenen, der Rest von dem Ganzen. Ich weiß nicht mehr, wem es zuerst auffiel, aber plötzlich redeten alle davon, auch wir Deutschen, Elke vom Spiegel und ich: An diesem Tisch versammelt saß das alte Jugoslawien. Es war, als hätte jede Teilrepublik, die beiden Provinzen eingeschlossen, jeweils eine Repräsentantin oder einen Repräsentanten geschickt. Hätten wir das Treffen bewusst herbeigeführt, wäre es nichts als Kitsch gewesen. So aber hatte es etwas Magisches. Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, trug Nikola ein Gedicht vor.

Worüber ich nicht geschrieben habe, ist die Wiederbegegnung mit Olga in Shanghai (obwohl es eine Shanghai-Kolumne gab). Eigentlich lebt Olga in Moskau und ist Theaterjournalistin. Spätabends kamen wir, angereist aus aller Frauen und Herren Länder, im französischen Viertel zusammen, und da rief sie mir über den Tisch zu: Du hast dich verändert, du wirkst viel selbstbewusster als damals in Omsk, auch männlicher. Irgendwie siehst du jetzt aus wie Putin. Das gefällt mir.

Worüber ich nicht geschrieben habe, ist, dass ich Sepp, lange Jahre mein Co-Kolumnist, auf dem Theatertreffen über den Weg lief und er auf den Verlagscontainer vorm Haus der Berliner Festspiele deutete. Hast gsehn? Da steht unser Arbeitgeber. Und wie er dann ­trocken lachte. Und wie ich mitlachte.

Worüber ich nicht geschrieben habe, ist, dass der mexikanische Regisseur David einen Hund hatte, der sich Tag und Nacht aufführte wie im Theater (obwohl es eine Kolumne über Mexico City gab). Der Hund hieß Fleck, und David redete nur deutsch mit ihm. Rasse Beagle, ließ sich Fleck von keiner Ermahnung beeindrucken. Gegen sein aufgeregtes Hin und Her konnten wir nichts ausrichten. Aber ­Mozart. Erklang Mozart-Musik, legte er sich ins Körbchen.

Worüber ich nicht geschrieben habe, so kommt es mir vor, ist zu vieles, als dass ich es je nachholen könnte. Der Raum einer Kolumne ist unendlich. Warum hat mich P., kurz nachdem sein Versuch, sich das Leben zu nehmen, gescheitert war, angerufen? Nach so vielen Jahren? Für ihn war ich nicht mehr als eine Sechzig-Minuten-Bekanntschaft. Hoffentlich hat er seine Diskokugel wieder aufgehängt.

Das waren sie, gut vierzehn Jahre, siebenundfünfzig ­Kolumnen. Es ist vorbei. So wie die Dinge jetzt stehen, will ich nicht mehr dabei sein. Nicht einmal das schöne Lied „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ hilft weiter. Die Wurst ist gegessen. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"