Theater der Zeit

Bericht

Wenn die Sonne im Quadrat aufgeht

Material-, Klang- und Bewegungsexperimente beim Festival FRATZ International

Alle zwei Jahre lädt das vom Berliner Theater o.N. ausgerichtete Kindertheaterfestival FRATZ International eine Auswahl von bemerkenswerten Gastspielen aus unterschiedlichen Ländern für die Zielgruppe von 0 bis 6 Jahren ein. Das Programm wird dezentral in verschiedenen Berliner Stadtbezirken veranstaltet und richtet sich an Kindertagesstätten, Familien und Fachpublikum.

von Gislinde Nauy

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Berlin Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theater o.N. | Zinnober

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Das diesjährige Festival präsentierte vom 13. bis 19. Mai 2022 acht ausgewählte Inszenierungen. Neben dem Figuren- und Objekttheater trat in dieser Ausgabe die Sparte Tanz als Schwerpunkt deutlich hervor. Dabei zeigten die ausgewählten Produktionen, wie ausgezeichnet sich beide Genres eignen, das sehr junge Zielpublikum auf einer Ebene anzusprechen, die auf weite Strecken auch ohne das Medium Sprache auskommt.

Die belgische Gruppe Hanafubuki schildert in „Diorama“ den Umgang der Tiere mit einem Tag, an welchem die Sonne einmal nicht rund, sondern quadratisch aufgeht. Auf der philosophischen Ebene wird die große Frage verhandelt, wie wichtig Rituale und Routinen sind und wie sehr es uns Menschen aus der Bahn wirft, wenn einmal etwas nicht so aussieht, wie wir es gewohnt sind. Dies gelingt mit einer Inszenierung aus kleinsten Dingen: Winzig steht die kleine Guckkastenbühne auf einem Tisch. Kulissen und auftretende Tiere werden seitwärts oder von oben hinein- und hinausgeschoben. Dass man dem Kulissenschieben offen zusehen kann, erweitert den Zauber für das Publikum um eine weitere Ebene. Die beiden Spieler*innen Sari Veroustraete und Samuel Baidoo bedienen die kleine Welt virtuos und bestens aufeinander eingespielt. Das gilt nicht zuletzt für die Musik, die mit winzigen Instrumenten (Mundharmonika, Pfeife oder Ukulele) und Klängen das Sicheinlassenkönnen auf diese miniatur-kleine und doch in sich vollständige Welt unterstützt. Am Ende gibt es noch ein Nachspiel: ein eigens aufgebauter Spielplatz mit Elementen aus der Inszenierung, der die Kinder zum Entdecken und Selberspielen einlädt.

Farbschlacht und Wasserspiele

Die Produktion „Kolofu“ ist ein Output aus Forschungen zu den Themen Hautfarben, Bleichen und Tönen, Kolorismus, Rassendiskriminierung und Identität der Gruppe KiNiNso Koncepts (Nigeria).

Zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer im weißen Kostüm entdecken nach und nach Farbpulver als Schlüssel zur Welt der Vielfarbigkeit. Das Pulver wird verstreut, durch die Luft geblasen, in Gesichter gemalt, in Wasser aufgelöst, miteinander vermischt. Am Ende herrscht auf der ganzen Bühne eine intensive Farbschlacht, in die die kleinen Besucher*innen nur zu gerne und mit viel Enthusiasmus buchstäblich eintauchen – von Kopf bis Fuß. Tanz, Trommeln und Gesänge runden die Perfomance zu einem Erlebnis ab, das auf mehreren Kanälen zugleich anspricht und fesselt. Der optische Effekt ist bemerkenswert, und der spielerische unverbrauchte Umgang mit Farbpulver als Material zeigt ein großes Verständnis für den kindlichen Blick auf die Welt und deren erste Ergründung.

Dabei beruhigt es, dass die Frage des Rassismus nicht mit dem moralischen Zeigefinger thematisiert wird. Doch bleibt es fragwürdig, ob bei der angesprochenen Zielgruppe (2- bis 6-Jährige) der Zusammenhang zwischen der Ästhetik eines Farbenspektrums und der Gleichwertigkeit von unterschiedlichen Hautfarben nicht doch unverstanden verhallt.

Der „wässrig-musikalischen“ Performance „bubbles“ des Theater o.N. gelingt es, Kindern ab 2 Jahren etwas über den Zauber moderner Musik zu vermitteln: Das Publikum lauscht gebannt dem Tropfen von Wasser, dem Blubbern, wenn man mit Strohhalm oder einer Klarinette in ein mit Wasser gefülltes Goldfischglas hinein bläst, und trägt schließlich selbst aktiv zu diesem außergewöhnlichen Klangteppich bei, wenn irgendwann alle auf ihrem eigenen Eiswürfel herumkauen. Die Theorie, dass das experimentelle Musiktheater ein geschultes akademisches Gehör benötigt, wird hier widerlegt. Und das ganz nebenbei. Denn eigentlich steht im Vordergrund ein ästhetisch in sich stimmiges Spektakel aus Ausstattung, Klängen und Licht. Das Nachspiel-Angebot, bei dem die kleinen Zuschauer*innen selbst mit „blubbern“ dürfen, wird nur allzu gerne angenommen.

Insgesamt trägt das FRATZ-Publikum, ebenso international aufgestellt wie die Künstler*innen, maßgeblich zu einer euphorischen Festival-Stimmung bei, die sich durch alle bespielten Berliner Stadtteile gleichermaßen hält. – www.fratz-festival.de

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