Theater der Zeit

Stück

Stunde der Hochstapler

von Alexander Eisenach

Erschienen in: Theater der Zeit: Subversive Affirmation – Performances von Julian Hetzel (01/2020)

Assoziationen: Dramatik Volksbühne Berlin

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Vorbemerkungen

Dieser Text ist Fragment und muss es notwendig bleiben.
Dieser Text entsteht in der konkreten Arbeit mit Schauspielern und stellt sich dieser Arbeit immer wieder zur Verfügung.
Dieser Text möchte nicht illustriert werden, sondern in eine Auseinandersetzung treten.
Dieser Text ist nicht realistisch. Er ist ein Spiel mit der Abbildung der Realität.
Die Sprache dieses Textes ist keine Handlungs­anleitung.
Die Szenen dieses Textes sind nicht zwangsläufig so geordnet. Diese Ordnung ist ein Vorschlag.
Die Anzahl der Spieler und die Figuren, die sie verkörpern, ist ebenfalls ein Vorschlag.
Die Arbeit mit diesem Text muss immer wieder ein Prozess der Aneignung sein, der von denjenigen ausgeht, die ihn spielen und inszenieren.
Diese Text birgt keine tiefe Wahrheit, die ans Licht gefördert werden muss. Alles liegt ganz offen da.

Figuren

Gordon / Filmproduzent / Steinzeitmensch A

Kevin / Filmregisseur / Steinzeitmensch B

Cy / Wissenschaftlerin / Prophetin

Nancy / Therapeutin

Dr. Philbert / Patient / Therapeut

prolog

KEVIN Wann hat das eigentlich angefangen, dass wir lügen? Die Lüge ist für uns so selbstverständlich wie das Atmen. Sie erschafft uns das Selbst, das wir sein möchten. Und sie schützt uns. Sie ist das zwischenmenschliche Schmiermittel. Lernen Sie jemanden neu kennen, so lügen Sie in den ersten zehn Minuten dreimal. Sie wollen gefallen. Sie wollen jemand sein für den anderen. Vielleicht berauschen Sie sich an der Vorstellung dessen, der Sie sein könnten. Vielleicht spüren Sie, wie ihr ­Gesprächspartner sich der Illusion hingibt, dass das, was Sie ihm auftischen, wahr sein könnte. Vielleicht bringen Sie ihn zum Träumen, vielleicht sind Sie beide bereits abgedriftet in eine Welt, in der Sie etwas darstellen, in der man Sie bewundern muss, für das, was Sie sind.

Vielleicht führen Sie das Gespräch mit hunderten, tausenden, millionen Menschen zur gleichen Zeit. Sie lügen an allen Fronten. Sie sind Hochstapler. Wir sind Hochstapler. Hochstapler unserer Selbst. „Ich ist ein anderer“ – das war einmal ein poeto­logisches Programm. Jetzt ist es eine unserer grundlegendsten Handlungsmaximen. Ein Anforderungsprofil. Selbstentfremdung ist unsere Schlüs­selqualifikation. Hochstapler zu sein, das führt keine negative Konnotation mehr mit sich. Auch keine subversive, anrüchige. Hochstapler zu sein, bedeutet souverän zu sein. Souverän in der Interaktion mit einer Welt, deren höchstes Gut es ist, etwas darzustellen. Hochzustapeln ist die logische Konsequenz auf die Herausforderungen, die unsere Zeit an das Profil des Menschen stellt. Ich muss Ihnen das nicht erklären, Sie wissen, wovon ich rede. Wann hat das angefangen, dass wir lügen? Ist die Erfindung der Lüge jener Moment, in dem sich das menschliche Bewusstsein manifestiert? Ist es der Moment, an dem wir beginnen aufrecht zu gehen? Uns unsere Umwelt zu Nutze zu machen und einen ungeheuren Zivilisationsprozess in Gang zu setzen? Entspricht die Entfremdung von uns selbst nicht der Entfremdung des Menschen von der ­Natur, aus der er kommt? Ist dieses Menschheitstheater, dessen letzten Akt wir gerade sehen, nicht mehr als eine kleine, verschmitzte Hochstapelei? Haben wir uns nicht über Jahrtausende an der Nase herumgeführt mit den Geschichten über uns selbst? Haben uns zum Träumen gebracht mit Vorstellungen unserer Größe, haben uns entführt in Welten, in denen man uns Bedeutung zusprach, in denen wir bewundert wurden, als Krone der Schöpfung. Wer war unser Gesprächspartner in all den Jahrtausenden? Wer waren wir, während unsere Biologie den Globus befiel?

Jetzt, wo wir kurz vor dem Aussterben stehen, dringt eine unbarmherzige Wahrheit an unser Ohr: Wir wurden getäuscht. Von uns selbst. Über uns selbst. Es ist die Stunde gekommen, in der wir nicht länger davon sprechen, dass wir uns etwas vormachen, dass wir nicht zu uns stehen, dass wir nicht glaubwürdig sind, dass wir unter dem leiden, was unsere Arbeit tagtäglich an Subjektivierung und Selbstvermarktung mit sich bringt, dass wir erschrecken vor dem globalen Ausmaß unserer Handlungen und unserer Rücksichtslosigkeit, nein, wir sprechen davon, dass jeder von uns souverän ein Abbild seiner selbst in all diese Schlachten schickt, um im Kern unberührbar zu werden. Wir haben verstanden, was von uns verlangt wird, und wir sind bereit, genau das zu geben. Wir sind bereit, ein Ich zu geben, das man umarmen kann und dem man Liebe schenken will. Wir werden likeable sein und Zwischenmenschlichkeit wird für uns das einfachste Spiel sein, wir werden Liebe austeilen und einstecken, wir werden jedem geben, was er braucht, denn dafür sind wir hier. Das haben wir verstanden. Wir haben keine Angst vor dem Gedanken, ein Hochstapler zu sein, fake zu sein, ganz einfach, weil real oder real keine Kategorie für uns ist, sondern eine Supermarktkette.

Wann hat das angefangen, dass wir lügen? Wir sollten ein Manifest der Hochstapler schreiben. Ein Bekenntnis zum Anderen, das wir sind. Es könnte beginnen mit den Worten: Die Welt als Wille zur Unwahrheit. – Also, das wäre die Überschrift und dann: Wir, die Protagonisten der globalen Ortlosigkeit, begreifen uns nicht länger als Opfer einer ökonomischen Logik, deren erste Selbstverständlichkeit die Preisgabe des Ich ist. Unsere Identität ist so wandelbar wie warenförmig. Sie bedeutet nichts über ihren Wert hinaus. Wir sind nomadische, hybride Subjekte im Wechselspiel unscharfer Identitätskonstruktionen. Wir sind ungreifbar. Unlesbar. Wir geben alles und sind dadurch frei. Der Bombast des Selbst, die Wichtigkeit des Ichs, diese gut gepflegte Tradition von Innerlichkeit und Tiefe, sie bedeutet uns nichts. Dieser Körper bedeutet uns nichts. Ihr könnt ihn haben.

I. baby, you look good in the movies

FILMPRODUZENT Was machst du denn da?

FILMREGISSEUR Hm?

FILMPRODUZENT Führst du hier Selbstgespräche?

FILMREGISSEUR Was? Nein!

FILMPRODUZENT Du wolltest mir doch von deinem Projekt erzählen. Ich bin total gespannt. Gibst du mir was zu lesen?

FILMREGISSEUR Bitte?

FILMPRODUZENT Gibst du mir was zu lesen?

FILMREGISSEUR Was zu lesen? Nein, ich dachte ...

FILMPRODUZENT Oral Pitch! Find ich super. Find ich klasse. Ist einfach direkter. Zoom! Gleich rein in den Kopf. See the genius at work. Shoot. Bam.

FILMREGISSEUR Was?

FILMPRODUZENT Shoot. Leg los.

FILMREGISSEUR Ach so ... Also es geht um einen Mann. Einen Autor. Einen Theaterautor. Und dieser Autor, der steckt in einer totalen Sackgasse. Die Kritiker machen ihn fertig, die Schauspieler hinterfragen ihn, der Regisseur schreibt ständig seinen Text um ...

FILMPRODUZENT Er ist nicht der Regisseur?

FILMREGISSEUR Nein. Das sind zwei Personen. Autor und Regisseur.

FILMPRODUZENT Ok. Verstanden. Weiter.

FILMREGISSEUR Dieser Autor, der hat eine totale Angstkrise. Er fühlt sich zu nichts fähig. Hat ständig Panikattacken. Er schreibt die ganze Nacht hunderte von Seiten, krude Manifeste, angerissene Szenen, nur um am nächsten Morgen alles zu ­löschen.

FILMPRODUZENT Was? Er löscht alles? Warum?

FILMREGISSEUR Ich weiß nicht ... es reicht nicht. Er traut sich nicht mehr nach draußen mit dem Zeug.

FILMPRODUZENT Er traut sich ... Man muss immer raus mit dem Zeug! Man muss es den Leuten hinklatschen. Man muss sagen: So siehts aus! Friss oder stirb! Deine Meinung interessiert mich einen Scheiß! Denn der Künstler, der Künstler, das bin immer noch ich!

FILMREGISSEUR Ja. Aber so ist er eben nicht. Er ist nicht wie du.

FILMPRODUZENT Verdammt, ich habe mir diese ganze Scheiße hier selbst erarbeitet! Ich vergesse nicht, woher ich komme! Andere Menschen werden vielleicht in ein bestimmtes Leben hinein­geboren und können dort, ohne mit der Welt in Konflikt zu geraten, vor sich hin vegetieren. Ich werde mir niemals etwas auf die Erfolge einbilden, die ich in einem solchen Klima verzeichnen kann. Deshalb trauen mir die Leute auch nicht. Aber ihr Misstrauen ist mein größter Lohn.

FILMREGISSEUR Ja. Du hast ein gutes Selbst­bewusstsein.

FILMPRODUZENT Zigarette?

FILMREGISSEUR Danke. Ich rauche nicht.

FILMPRODUZENT Also. Autor, Angstkrise ... sag mal, findest du das nicht ein bisschen entlarvend? Ich meine, ist das nicht ein bisschen selbstverliebte Nabelschau?

FILMREGISSEUR Wieso?

FILMPRODUZENT Na. Also. Das bist doch du. Da geht es doch ganz offensichtlich um dich. Oder nicht?

FILMREGISSEUR Es geht ja noch weiter. Parallel dazu arbeitet eine wahnsinnige Wissenschaftlerin an einer noch nie dagewesenen künstlichen Intelligenz, die schließlich die gesamte Menschheit ausrotten wird.

FILMPRODUZENT Aha. Now we’re talking.

FILMREGISSEUR Die gewaltige Intelligenz wird in Ozeanen gespeichert. Aufgrund der gigantischen Rechenleistung von Ozeanen.

FILMPRODUZENT Klar.

FILMREGISSEUR Ja, all diese Wasserstoffatome, die da interagieren, machen es eben möglich, dass diese künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft und selbst beginnt, neue Intelligenzen zu programmieren.

FILMPRODUZENT Die Ozeane sind so eine Art Großrechner?

FILMREGISSEUR Genau. Die Intelligenz nutzt jetzt aber die Folgen des Klimawandels und die steigenden Meeresspiegel, um die Menschheit im wahrsten Sinne des Wortes zu überschwemmen.

FILMPRODUZENT Im wahrsten Sinne des ­Wortes.

FILMREGISSEUR Ja.

FILMPRODUZENT Impliziert das nicht, dass es einen zweiten Sinn geben müsste? Ich meine: Der Ozean überschwemmt die Menschheit. Klar. Das ist ein Bild. Aber da würde es doch reichen, wenn du sagst: „Die Intelligenz nutzt die Folgen des ­Klimawandels und die steigenden Meeresspiegel, um die Menschheit zu überschwemmen.“ Oder?

FILMREGISSEUR Sie überschwemmt sie aber nicht nur physisch, mit Wasser, sondern eben auch mit ihrer Intelligenz. Sie ist überlegen. Die Menschen fügen sich in ihren Untergang, weil sie mit einer gnadenlosen Logik konfrontiert werden, die eben diesen Untergang unausweichlich macht.

FILMPRODUZENT Fuck.

FILMREGISSEUR Genau.

FILMPRODUZENT Das gefällt mir. Science-­Fiction. Unausweichlichkeit des Untergangs. Sehr gut.

FILMREGISSEUR Der Witz ist, dass die gesamte Entwicklung des Lebens auf der Erde nur auf diesen Moment zulief. Das Erschaffen einer künst­lichen Intelligenz, die das biologische Leben per se überflüssig macht. Die Verwirklichung des göttlichen Prinzips.

FILMPRODUZENT Wow. Das ist geil! Es ist die Katastrophe, aber auch die Erlösung. Fett.

FILMREGISSEUR Wirklich?

FILMPRODUZENT Ja. Wir machen das.

FILMREGISSEUR Ernsthaft?

FILMPRODUZENT Ja. Sag ich doch.

FILMREGISSEUR Weil. Ich hab auch noch eine andere Idee.

FILMPRODUZENT Wirklich?

FILMREGISSEUR Ja.

FILMPRODUZENT Mmhhh ...

FILMREGISSEUR Willst du sie hören?

FILMPRODUZENT Lieber nicht. Lass uns das mit den Robotern machen.

FILMREGISSEUR Robotern?

FILMPRODUZENT Wie sieht denn diese künstliche Intelligenz aus?

FILMREGISSEUR Wie? Wie sieht sie aus?

FILMPRODUZENT Na, wir sind im Kino. Wir müssen das doch irgendwie zeigen, damit sich die Leute was darunter vorstellen können.

FILMREGISSEUR Das Ding ist, dass das alles weit über unsere Vorstellungskraft hinausgeht. Ab dem Punkt, an dem die KI funktionsfähiger ist als das menschliche Gehirn, können wir ihr nicht mehr folgen. Sie reproduziert sich selbst und wird zu einer völlig neuen Spezies.

FILMPRODUZENT Neue Spezies. Gut. Aber wie sieht die aus? Die Spezies? Roboter?

FILMREGISSEUR Hier kommt dann wieder unser Theaterautor ins Spiel.

FILMPRODUZENT Du.

FILMREGISSEUR Nein. Nicht ich. Jemand anderes.

FILMPRODUZENT Ok. Klar.

FILMREGISSEUR Er hat diesen Traum. Er träumt von der ersten Lüge. Und diese erste Lüge, das ist für ihn die Geburt des Bewusstseins.

FILMPRODUZENT Ok ...

FILMREGISSEUR Er weiß also, wie das Bewusstsein entstanden ist, und das hat er der KI voraus. Ihre Intelligenz ist nur Information. Sie weiß nichts über sich.

FILMPRODUZENT Aber er.

FILMREGISSEUR Ja. Er kennt jetzt ihren Schwachpunkt.

FILMPRODUZENT Und er zieht in den Krieg.

FILMREGISSEUR Nein.

FILMPRODUZENT Nein?

FILMREGISSEUR Er ist nämlich nicht sicher, ob er die Menschheit wirklich retten soll.

FILMPRODUZENT Verdammt! Das ist gut! Das ist vertrackt! Das ist doppelbödig! Rettet er die Menschheit, gibt’s auch keine Erlösung. Rettet er sie nicht, stirbt sie. Aber erlöst.

FILMREGISSEUR Willst du nicht vielleicht doch die andere Idee auch noch hören?

FILMPRODUZENT Neinneinneinneinnein ... Wir machen das. Also, die erste Lüge. Was ist das? Wie sieht die aus?

FILMREGISSEUR Keine Ahnung.

FILMPRODUZENT Was?

FILMREGISSEUR Ich weiß es nicht.

FILMPRODUZENT Ja aber, das ist doch das Wichtigste!

FILMREGISSEUR Naja ... eigentlich geht es um diesen Autor ...

FILMPRODUZENT Bullshit. Es geht um die Lüge. Verdammt, das muss die beste Lüge der Filmgeschichte werden. Ein unvorstellbarer Twist. Etwas, womit niemand rechnet.

FILMREGISSEUR Verstehe.

FILMPRODUZENT Die Menschen wollen geblendet sein. Das macht sie aus. „Mit Feuerwerk blendet man keinen Hund, aber der vernünftigste Mensch fühlt sich beleidigt, wenn man ihm keins vormacht.“ Ja? Das ist der Gedanke. Was ist dieses Feuerwerk? Mmmh? Sag‘s mir. Was ist die erste Lüge?

FILMREGISSEUR Also ...

FILMPRODUZENT Pass auf. Ich sage dir: Wir machen diesen Film. Wir machen ihn, wenn du mir diese erste Lüge bringst. Das ist der Kern. Das ist das Zentrum des Films. Oder?

FILMREGISSEUR Vielleicht ...

FILMPRODUZENT Ich sehe das schon vor mir: Genau in dem Moment, wo der Zuschauer denkt, er hat es verstanden, als er denkt: Ja, fuck, das Einzige, was die Menschheit jetzt noch retten kann, ist die KI, weil der Mensch, der Mensch wird es nie gebacken kriegen, den Klimawandel und das alles, gerade wenn er das denkt, kommt dieser Traum. Super spacig. So Gaspar Noe mäßig, fliegende Steadycam, du weißt, was ich meine, super bunt, voll Trip, rein in deinen Schädel, rein in den Schädel dieses Autors, der nicht du bist, Licht, Licht, Licht, Space Odyssee, Kubrick – nur nicht so lang! Fuck, die Scheiße kann nicht länger als 100 Minuten werden, du musst das in 100 Minuten packen, also rein in den Kopf mit Sound und Licht und allem und dann – silence. Schwebezustand. Der verdammte erste Mensch. Ein Kind. Der Baum der Erkenntnis, es pflückt diese Frucht, diese seltsame Frucht, beißt rein und sieht ...

FILMREGISSEUR Was sieht es?

FILMPRODUZENT Ja Mann, das sollst du mir doch sagen! Du bist hier das Genie! Sag mir, was es sieht, und ich mach dir nen Hit! Das wird biblisch!

FILMREGISSEUR Ok.

FILMPRODUZENT Wir brauchen die Lüge. Bring mir die Lüge.

II. the invention of lying

PROPHETIN Für Jahrhunderte haben wir an den Menschen geglaubt. An den Menschen und seine Fähigkeit zu erschaffen. Und auch heute, wo wir an der Schwelle zu einer neuen Zeitrechnung stehen, klammern wir uns an unser Menschsein. An uns als Krone der Schöpfung. Als Ende der Nahrungskette. Doch dieses Ende ist erst der Anfang einer neuen Zeit, einer Zeit, in der wir unsere biologische Existenz überwinden werden.

Es ist an uns, das Werk unserer Natur fortzuführen. Glauben wir an uns! An das schöpferische Prinzip in uns. Glauben wir daran, uns entwerfen zu können und Herrscher über uns und die Natur zu sein. Wir stehen am Rande einer Katstrophe, die die Menschheit, wie wir sie kennen, auslöschen wird. Unsere einzige Chance besteht darin, unsere organische Hülle zu verlassen und einzutreten in den schöpferischen Äther der Welt. Jenen Raum, in dem wir alles sein können. Die Welt, wie wir sie jetzt kennen, ist limitiert durch unsere menschliche Wahrnehmung. Dies alles erscheint uns real und ist dabei doch lediglich das Spiegelbild unseres begrenzten Horizonts. Die Welt zeigt sich als unser Untergang, also ist sie auch unser Untergang. Das ist kein Fakt, sondern Mangel unserer Vorstellungskraft. Durchbrechen wir den Horizont unseres beschränkten Selbst! Erschaffen wir eine neue Welt, indem wir uns neu erschaffen! Die Welt wird unsere Autobiografie sein! Unsere Geschichten werden sich ins Maßlose vervielfältigten. Das Individuum wird über seine Grenzen wachsen und sich mit allen verbinden. Das Einzelleben wird einem kollektiven Zustand der Allverbundenheit weichen. Unsere Körper werden verschwinden und unser Geist endlich frei sein. Jahrtausende rieben wir uns auf im engen Horizont einer Arbeit, die irgendeiner Unternehmung, einem nie erreichten Ziel dienen sollte; wir verausgabten uns für das Credo der Effizienz. Einer Effizienz, die uns an diesen Punkt geführt hat, den Punkt, an dem wir das Kommando übernehmen. Den Punkt, an dem biologische Existenz und technisches Erzeugnis verschmelzen.

STEINZEITMENSCH B Findest du das nicht ein bisschen sehr optimistisch? Wir haben gerade erst das Rad erfunden.

STEINZEITMENSCH A Und das Feuer!

STEINZEITMENSCH B „Und das Feuer!“, „Und das Feuer!“ – Hör doch mal auf mit deinem scheiß Feuer! Das wird sich nie durchsetzen. Außerdem ist das Feuer keine Erfindung. Das Feuer, das ist einfach da. Du hast es vielleicht gebändigt, das könntest du sagen: „Wir haben bereits das Feuer gebändigt.“

STEINZEITMENSCH A Gebändigt. Ja. Ok. Verstehe. Es wird niemals ganz zu uns gehören. Wir können es benutzen, um uns dieses Mammut zu braten, und wir können unsere Höhlen heizen. Aber es gibt einen Rest, der bleibt uns verschlossen. Eine unbezähmbare Kraft. Eine Gefahr, die wir nicht verstehen. Verdammt, das ist so unglaublich. All diese Rätsel. Woher kommt das alles? Woher kommen wir? Es gibt Bereiche, die wir nie ver­stehen werden ... das ist ... ich habe das Gefühl, mein Gehirn kann das gar nicht greifen ...

STEINZEITMENSCH B Mammut isst man kalt! Eiskalt! Man friert es ein, schneidet es in hauchdünne Scheiben, gibt geriebenen Parmesan darüber und beträufelt das Ganze mit Olivenöl!

STEINZEITMENSCH A Nein! Man schneidet es in dicke Scheiben und brät es über einem heißen Feuer!

STEINZEITMENSCH B Bah! Barbar!

STEINZEITMENSCH A Snob!

PROPHETIN Ruhe jetzt! Worum es geht, was meine Prophezeihung euch sagen will ...

STEINZEITMENSCH B Äh, Entschuldigung. Prophezeihung?

PROPHETIN Ja.

STEINZEITMENSCH B Ah ok. Und, sag mal, seit wann bist du hier die Prophetin?

PROPHETIN Ja, eine musste das eben machen, und da haben wir abgestimmt.

STEINZEITMENSCH B Abgestimmt? Kann ich mich gar nicht dran erinnern.

PROPHETIN Ja, das muss gewesen sein, als du jagen warst.

STEINZEITMENSCH B Als ich jagen .... wusstest du davon?

STEINZEITMENSCH A Was?

STEINZEITMENSCH B Ob du davon wusstest?

PROPHETIN Natürlich wusste er davon, er hat mich ja gewählt.

STEINZEITMENSCH B Du hast sie ... warum?

STEINZEITMENSCH A Ich weiß nicht ... der ­Gedanke, sich noch mal völlig neu erfinden zu können, ein Leben von vorn zu beginnen. Als ­unbeschriebenes Blatt. Frei von den Zuschreibungen, mit denen wir uns ständig herumschlagen. Ich meine, das Leben hält doch vielleicht mehr für uns bereit als Jagen und Sammeln.

STEINZEITMENSCH B Das Leben hält vielleicht ... du; was sind wir?

STEINZEITMENSCH A Menschen?

STEINZEITMENSCH B Anders.

STEINZEITMENSCH A Männer?

STEINZEITMENSCH B Noch anders. Denk mal systemischer.

STEINZEITMENSCH A Mehrzeller?

STEINZEITMENSCH B Kategorischer.

STEINZEITMENSCH A Säugetiere?

STEINZEITMENSCH B Andere Kategorie.

STEINZEITMENSCH A Jäger und Sammler?

STEINZEITMENSCH B Richtig! Jäger und Sammler. Was sollte das Leben für uns bereit halten außer Jagen und Sammeln?

PROPHETIN Und genau deswegen bist du nicht der Prophet.

STEINZEITMENSCH B Prophetprophet ... ich will euch mal sehen, vier Tage ohne Essen. Aber vier Tage ohne Prophezeihung, die mir erzählt, wie sehr ich dem Untergang geweiht bin, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Wenn das jetzt hier die größte Kulturleistung wird, vom eigenen Untergang zu fantasieren, dann bin ich direkt raus. Dann steige ich jetzt hier aus.

STEINZEITMENSCH A Aus was?

STEINZEITMENSCH B Aus dem allen hier. Entwicklung, Fortschritt, Dings, Evolution ... Macht’s gut!

PROPHETIN Man kann nicht aus der Evolution aussteigen. Das hatten wir doch schon. Evolution, das ist die Triebfeder unserer Entwicklung. Ohne Evolution wären wir nicht hier. Die Frage aber ist, wollen wir hier stehen bleiben, oder wollen wir über das hinausgehen, was uns gegeben wurde? Zu lange haben wir uns determinieren lassen von unseren Affekten. Wir wurden von uns selbst ins­trumentalisiert und haben diese Instrumentalisierung auch noch glorifiziert. Wir haben Logik, Gesetze, Zivilisation und all das erfunden, um den Anschein zu erwecken, unser Leben wäre planvoll, logisch und gewollt; dabei waren wir die unbewussten Opfer einer Vorstellung von uns selbst. Wir haben Erzählungen über uns erfunden, die unsere Unfreiheit logisch erscheinen ließen. Wir haben uns in die Tasche gelogen.

STEINZEITMENSCH A Aber wir brauchen doch Geschichten. Ohne Geschichten brechen wir zusammen. Ohne ein Bild von uns, lösen wir uns auf. Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen. Ich meine, das hier ist die Steinzeit.

PROPHETIN Indem du bewusst verneinst, was du oder irgendjemand anderes für dein Ich hält, sagst du ja zu dem, was du sein könntest.

STEINZEITMENSCH A Ich soll ich werden, indem ich nein zu mir selbst sage?

PROPHETIN Ja. Wenn du dich frei machst von der Idee eines kohärenten Ichs, das du hier durch die Jahrhunderte der Evolution schleifen musst, wirst du dich immer wieder neu erfinden. Frei können wir nur sein, wenn wir unser Selbst immer wieder aufs Spiel setzen.

STEINZEITMENSCH A Aber dieses Leben ist kein Spiel. Dieses Leben kennt keine szenische Auflösung. Was passiert, passiert immer jetzt, es taucht auf, pflanzt seine Koordinaten in die Wirklichkeit und das war’s. Wir stecken in unserem Schicksal fest und niemand kann uns daraus befreien. Nicht einmal die ausgefuchsteste Selbstinszenierung. Und überhaupt sind deine ganzen Vorstellungen eine einzige riesige Feigheit, ein ängstliches Zurückweichen vor dem Lauf der Dinge, der immer linear, grausam und unerbittlich ist.

PROPHETIN Diese geschlossenen Erzählungen der Zwangsläufigkeit. Die funktionieren wie ein Sedativ. Ein Sedativ, das uns erzählt, alles ist in Ordnung. Es ist aber nichts in Ordnung, und deshalb müssen wir uns der Welt auch in ihrer Zersplitterung stellen. Freiheit bedeutet, dass wir uns von der Welt der objektiven Wahrheiten verabschieden, dass wir eine Welt aus unseren Träumen formen.

STEINZEITMENSCH B Ich unterbreche dich ja höchst ungern auf deinem Trip, aber ist das nicht wahnsinnig ... humanozentristisch? Ich meine, nehmen wir uns da nicht selbst ein bisschen wichtig? Wir setzen unsere Wahrnehmung über alles. Als gäbe es die Dinge in der Welt nicht. Mir macht das so ein ungutes Gefühl, so als würde die Natur eines Tages kommen und sagen: „Nicht ich war Gegenstand eurer Wahrnehmung, sondern ihr ­Gegenstand meiner.“ Es muss doch einen Zusammenhang zwischen unserer Wahrnehmung und der wirklichen Welt geben.

STEINZEITMENSCH A Was meinst du mit wirk­licher Welt? Als gäbe es „die wirkliche Wirklichkeit“, die sich in unserem erkennenden Bewusstsein spiegelt. Wir können nie wissen, was unsere Sinne erregt. Wir wissen nur, was unsere Sinne aus diesen Erregungen hervorzaubern. Ich geb dir mal ein griffiges Beispiel: Man könnte beispielsweise die Faser eines Sehnervs mit einem Tröpfchen Essigsäure reizen und würde womöglich einen farbigen Lichtklecks wahrnehmen. Oder man könnte eine Geschmackspapille mit ein paar Volt über eine Elektrode stimulieren und man würde vielleicht den Geschmack von Essig empfinden. Da ist es doch grotesk und unsinnig, von einer Abbildung der Außenwelt in der Innenwelt zu sprechen: Essig wird ein Farbklecks und Elektrizität zu Essig!

STEINZEITMENSCH B Was soll das denn jetzt wieder heißen? Wollt ihr mir sagen, es gibt kein draußen? Es gibt nicht dieses Mammut, das wir heute morgen gejagt haben?

STEINZEITMENSCH A Es gibt etwas, worüber wir uns verständigt haben und beschlossen haben, dass wir es ein Mammut nennen.

PROPHETIN Es gibt das Bild des Mammuts in unserem Kopf!

STEINZEITMENSCH B Ja. Klar. Es gibt aber auch das Mammut. Wisst ihr noch, die zwanzig Hekto­liter Blut, die uns entgegen kamen, als wir es ausgenommen haben? Ja? Erinnert ihr euch?

STEINZEITMENSCH A Das alles ist so ein unglaubliches Wunder ... Blut. Mammuts. Wärme, Kälte, Gerüche ... alles lebt. Und wir empfinden es. Aber alle diese Empfindungen sind konstruierte Relationen. Sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Inneren.

STEINZEITMENSCH B Ja. Im Inneren des Mammuts.

PROPHETIN Die körperliche Komponente ist zu vernachlässigen. Ein Haufen Membran, der uns im Weg steht auf dem Weg zu wirklicher Erkenntnis. Für die Idee des Mammuts braucht es kein materielles Mammut. Materialität ist nichts als self fullfilling prophecy. Sie bestätigt nur, was wir eh zu wissen glauben. Materie ist eine Illusion! Wir sind darüber hinweg!

STEINZEITMENSCH A Was ist meine Stimme? Einige Luftmoleküle platzen schneller auf dein Trommelfell als andere. Das nennen wir dann Sprache. Das Ding ist: Nur deine Zellen können das entschlüsseln. Alles, was du siehst und hörst, ist in dir schon vorgebildet.

STEINZEITMENSCH B Alles ist in mir schon vorgebildet? Also ist auch alles in denen da vorgebildet, oder was? Ich bin in denen schon vorgebildet, oder was? Es muss doch aber einen Zusammenhang zwischen denen und uns geben, zwischen dem Wahrgenommenen und dem Dargestellten, zwischen unserer Wahrnehmung und der wirk­lichen Welt. Ich bin doch nicht nur eine Wahrnehmung in irgendjemandes Kopf! Ich bin doch eine materielle Wahrheit! Ich bin doch da!

PROPHETIN Stellt euch vor, euer Geist ist frei. Befreit vom Fleisch. Ihr könnt alles sein. Ein Vogel, eine Welle, ein Blatt im Wind ... Was auch immer ihr seid, entspringt eurer Vorstellung. Es sind wir, die sich für die Existenz der Welt entscheiden, nicht die Welt, die sich für unsere Existenz entscheidet. Wenn wir eine Welt jenseits der bevor­stehenden Katastrophen schaffen wollen, dann nur, indem wir uns selbst erschaffen. Die Natur hat uns fürs Sterben vorgesehen. Unser Geist aber hat die Ewigkeit im Sinn.

PATIENT Sag mal, was erzählst du den Leuten hier eigentlich für eine unfassbare Scheiße? Von wegen, die können alles sein. Siehst du denn nicht, wo das hinführt? Eure Existenz, das wird nicht die Freiheit sein, sondern ein stumpfsinniges Delirium namens Zivilisation. Ich geb euch nen Tip: Bleibt mal lieber hier. Mit eurem Feuer und eurem Mammut. Das sieht doch sehr lecker aus.

PROPHETIN Was haben Sie gegen die Zivilisa­tion?

PATIENT Glaubst du, ihr könnt euch über die ­Natur erheben ohne Schaden an eurer Seele zu nehmen? Ständig ein anderer sein ohne euch zu verlieren? Ihr werdet Gesetze schaffen, Werte und Normen, ihr werdet Umgangsformen entwickeln und Turnschuhe, deren Sohle beim Laufen blinkt. Ihr werdet euch in den Dienst einer ökonomischen Ordnung stellen, bis ihr nicht mehr wisst, warum. Ihr werdet dieser Ordnung dennoch blindlings ­folgen und ihr das Gesellschaftswesen opfern, das ihr einmal wart. Ihr werdet dieses Gesellschaftswesen ersetzen durch eine Reihe elaborierter Unterhaltungselektronik. Ihr werdet das alles als Freiheit empfinden, und ihr werdet eine Erzählung davon erfinden, wer ihr seid. Ihr werdet euch erfinden, und ihr werdet diese Erfindung Bewusstsein nennen.

STEINZEITMENSCH B Sind Sie ein Seher?

STEINZEITMENSCH A Kennen Sie die Zukunft?

PROPHETIN So ein Quatsch. Niemand kennt die Zukunft. Wollen Sie jetzt vielleicht unser Schicksal in den Eingeweiden von Tieren lesen?

PATIENT Ihr werdet nicht mehr schlafen. Ihr werdet nicht mehr träumen. Ihr werdet nicht mehr essen oder euch am Küchenmesser schneiden. Euch nicht mehr am Feuer verbrennen. Ihr werdet in keine Augen mehr schauen, keine Haut mehr spüren, keine Sonne, kein Gras, Schnee, Luft ...

PROPHETIN Jaja, ist gut! Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie hängen an der Vorstellung, dass dieses ganze fleischliche Sensorium da um uns herum, dass das nötig ist, um all das zu spüren. Aber da irren Sie sich! Die Empfindung findet im Inneren statt, sie ist ein Impuls. Dieser Impuls, rein und pur extrahiert. Das ist der Mensch. Wenn wir diesen Zustand erreicht haben, werden wir die Welt in all ihren Möglichkeiten verstehen.

PATIENT Na, viel Glück. Ich sage euch: Jeder ist jemand. Da könnt ihr euch noch tausendmal erfinden. Irgendwann wird die Natur kommen und euch die Quittung präsentieren. Diese Erde ist nicht einfach die Bühne eurer Selbstdarstellung. Diese Erde ist der eigentliche Akteur.

STEINZEITMENSCH B Was meint er denn jetzt damit?

PROPHETIN Nichts. Er meint gar nichts. Er gefällt sich einfach in diesem kulturpessimistischen Gestus.

STEINZEITMENSCH B Was meinst du jetzt ­damit?

PROPHETIN Ich meine, dass das einfach super­bequem ist, so eine Verfallsgeschichte der Zivili­sation.

STEINZEITMENSCH A Was wenn er Recht hat? Ich meine, was, wenn wir uns eine Geschichte zurechtdichten, in der wir immer die Deutungs­hoheit über die Welt haben und am Ende ...

STEINZEITMENSCH B ... ist das Mammut doch da!

STEINZEITMENSCH A Ja. Vielleicht. Vielleicht gibt es eine Wahrheit der Welt, die wir nicht erkennen. Vielleicht entgeht uns das Entscheidende.

PROPHETIN Wollt ihr jetzt wirklich wieder auf den alten weißen Mann hören? Wir brauchen keine Wahrheit! Wahrheit führt zu nichts anderem, als dass wir die Menschen in die teilen, die Recht haben und die, die falsch liegen. Wahrheit trennt! Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.

PATIENT Sie können doch nicht ernsthaft leugnen, dass es objektive Wahrheiten gibt! Das ist absurd!

PROPHETIN Na gut. Ist das hier jetzt Kopf oder Zahl?

PATIENT Ich weiß jetzt nicht bei jeder einzelnen Entscheidung, was passieren wird. Ich weiß aber, was mit der Welt als ganzer passieren wird.

PROPHETIN Aha! Jede noch so kleine Entscheidung hat Einfluss auf das Ganze. Und wenn Sie nicht jede einzelne Entscheidung im Letzten kennen, können Sie auch nicht sagen, Sie wissen, was passieren wird. Wir stehen jeden Moment am Anfang einer neuen Geschichte, jeden Moment tut sich hier ein neues Universum auf. Nichts ist klar. Wir stehen immer wieder am Anfang unserer ­Geschichte. Wir können alles sein.

III. the borders of perception

THERAPEUTIN Das ist Ihr Traum?

PATIENT Ja. Sind Sie unzufrieden?

THERAPEUTIN Nein, nein. Ist schon ok.

PATIENT Es tut mir sehr leid, dass meine Träume nicht Ihren Kriterien genügen. Ich gehe dann. Und komme wieder, wenn ich etwas Interessanteres geträumt habe.

THERAPEUTIN Bitte. Bleiben Sie. Es ist ja nur ... Ich mache mir etwas Sorgen um die Länge des Traums.

PATIENT Die Länge?

THERAPEUTIN Er hat kein richtiges Ende. Und es ist ein sehr kurzer Traum. Sonst bin ich von Ihnen mehr Tiefe gewohnt.

PATIENT Mehr Tiefe. So.

THERAPEUTIN Schauen Sie: Aus analytischer Perspektive ist die Sache völlig klar. Wir befinden uns auf der allerobersten Bewusstseinsschicht. Was mich interessiert ist, was wirklich da drinnen passiert. Die tiefgehenden Verzweigungen, die dunkelsten Gänge in den abgelegensten Höhlen Ihres Bewusstseins. Da, wo es dunkel und schmutzig wird. Wo der Killer in Ihnen wohnt. Das Tier. – Wo ist zum Beispiel der Sex in Ihrem Traum? Ein Traum ohne Sex, das ist wie ...

PATIENT Krieg ohne Tote?

THERAPEUTIN Haben Sie schon mal darüber nachgedacht zu lügen?

PATIENT Lügen?

THERAPEUTIN Sie könnten mich anlügen. Sie könnten hier reinkommen und sagen: „Sie erraten nicht, wovon ich letzte Nacht geträumt habe. Ich bin aufgewacht auf einer einsamen Insel. Dachte ich. Aber dann stellte sich heraus, dass die ganze Insel von untoten Pornostars bewohnt war. Ich kannte das Werk all dieser Pornostars nahezu auswendig, kannte ihre Spezialitäten, ihre Stärken und Schwächen und all diese Zombie-Pornostars wollten mich ficken. Aber nicht auf angenehme Weise, sondern killermäßig. Ich hatte Angst! Plötzlich entdecke ich, dass ich einen riesigen lila Umschnalldildo trage, mit dem ich mich zur Wehr setzen kann.“ Und dann könnten Sie mir sehr ­genau und detailliert schildern, wie Sie den Zombies einem nach den anderen die Köpfe wegficken oder so.

PATIENT Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber wie soll ich das hier darstellen?

THERAPEUTIN Darstellen?

PATIENT Ich habe das Gefühl, meine ganze Krise, diese Schreibblockade, beruht auf den Grenzen der Darstellbarkeit. Ich meine überall ist jetzt diese vierte Wand. Jahrzehntelang haben wir uns damit abgemüht, die vierte Wand einzureißen, und jetzt? Jetzt hat jeder seine eigene vierte Wand in der ­Hosentasche. Wir haben den Raum der Kunst ­desillusioniert und den Raum des Lebens aufs Neue illusioniert. Jeder mit seiner ganz privaten vierten Wand, durch die er seine eigene ganz pri­vate Illusion betrachtet. Und während die Realität hier immer mehr zunimmt und die Illusion ab­geschafft wird, ist es da draußen genau anders ­herum. Überall stehen neue kleine Bühnen, die die Herrschaft der Illusion verbreitern. Und auf diesen Bühnen stehen lauter Darsteller, die alle ­irgendein ICH erzählen, eine Welt, eine Politik. ­Jeder schreibt hier schon die ganze Zeit an seiner Rolle, und das macht eben die Kunst völlig obsolet. Weil alle zu der Kunst kommen, und da dann eine Pause von der Illusion wollen, die wollen dann ­Realität, und das kann ich eben nicht, oder ich verstehe nicht, wie die dann noch aussieht, die Realität. Überall nur noch Merchandising-Stände. Das macht mich irre.

THERAPEUTIN Haben Sie mal darüber nach­gedacht, dass das, was Sie die Realität nennen, auch nur eine Illusion ist?

PATIENT Ich denke, darüber hat jeder schonmal nachgedacht. Es ist ja nicht so, dass die Illusion nicht weiß, dass sie eine Illusion ist. Jede Produk­tion einer Illusion beinhaltet heute immer auch gleich ihre Brechung. Das weiß ja jeder, dass das eigene ICH nicht das ich ist.

THERAPEUTIN Welches Ich?

PATIENT Na eben das Ich. Also, dass das immer eine Konstruktion ist, ein Bild eben, und das wir uns in diesen Bildern bewegen und dass all diese Interaktionen eben ein Spiel sind und eben nicht echt.

THERAPEUTIN Was meinen Sie denn mit echt.

PATIENT Na, Sie wissen schon ...

THERAPEUTIN ?

PATIENT Na eben ... Haah ... Manchmal ist mein Gehirn einfach zu langsam. Dieses Gehirn hier, das bremst mich, das hält mich auf. Was ist das? Ich komme mir vor, als würde ich auf einem C64 laufen. Die Ladezeiten sind völlig inakzeptabel! Mein Gehirn ist zu langsam, um all die Ideen in einer angemessenen Geschwindigkeit zu verarbeiten. Ich habe die Hälfte schon vergessen, wenn ich am Schreibtisch sitze.

THERAPEUTIN Sie fühlen sich in Ihrem Körper gefangen.

PATIENT Allein die Zeit, die dafür draufgeht, sich um seinen Erhalt zu kümmern. Die Energie, die er verbraucht. Er ist der Klotz am Bein meines Geistes. Überlegen Sie doch mal, mit wem ich hier konkurriere? Ich stehe im Wettkampf mit lauter luziden Identitäten und Realitäten, die sich im Sekundentakt generieren und verändern. Fuck. Ich bin ein Dinosaurier.

THERAPEUTIN Sich selbst als Gefangener im ­eigenen Körper zu erleben, mit all seinen Schwächen und seiner unvermeidlichen Endlichkeit, ist eine Grundbedingung des Menschseins. In gewisser Hinsicht gehört es dazu, dass man aus seinem Körper herauswill. Wenn man einen hat.

PATIENT Wenn man einen hat? Wie meinen Sie das?

THERAPEUTIN Ich denke, dass Sie nicht sehr falsch liegen, wenn Sie den Raum Ihrer Kreativität hinter Ihrer körperlichen Hülle vermuten. Die Beschleunigung und Simultanität der allgemeinen Wahrnehmung zielt direkt ins Unterbewusstsein. Die Frequenz der Realität ist auf einem Level, dass keine kontemplative Rezeption mehr zulässt. Wenn Sie verstehen wollen, was passiert, müssen Sie direkt durch Ihr Unterbewusstsein mit uns kommunizieren.

PATIENT Echt?

THERAPEUTIN Vergessen Sie echt. Vergessen Sie Schreibtisch. Illusion. Realität. Vergessen Sie alle bewussten Kunsterzeugnisse. Alle bewussten Kunst­erzeugnisse sind Simulationen, Anleihen, Rückgriffe, Lookalikes, Doubles und Resultate medialer Kunsterzeugung. Das, was Sie Illusionierung des Alltags nennen, ist eine Verkaufsstrategie. Am Ende ist das einzige nicht simulierte Leben jenes, das der Betrachter mit sich selber führt. Jedenfalls meistens. In der Anstrengung, selbst bilderfähig zu werden und Eintritt in die Welt der Fälschungen zu erlangen, veredeln wir uns selbst zum Double der eigenen Person. Deshalb fehlt uns der Sex. Es ist alles autoerotisch geworden. Selbst Reproduk­tion findet mit uns selbst statt: Vervielfältigung des Selbst. Die Zukunft des Ich ist die Filialexistenz. Und die Kunstproduktion dieser Filialexistenzen ist dann eben auch Filialkunst. Da haben Sie Ihre Schreibblockade. Wenn Sie wirklich nach Ihren kreativen Impulsen suchen, suchen Sie sie nicht im bewussten Handeln. Suchen Sie sie in den ­Tiefen Ihres Unterbewusstsein, dort, wo Sie überhaupt noch die Chance haben, auf den Hoch­geschwindigkeitstakt Ihrer Wahrnehmung zu reagieren ...

PATIENT „In den tiefgehenden Verzweigungen und dunkelsten Gänge meines Bewusstseins ...“

THERAPEUTIN Genau.

PATIENT Aber wie soll ich das tun?

THERAPEUTIN Sie haben Glück. Ich arbeite ge­rade an einem neuen Verfahren, das die traditionelle Gesprächstherapie mittels künstlicher Intelligenz obsolet machen wird. Der Ort, an dem dieses Verfahren stattfindet, liegt im Dazwischen. Zwischen dem Bewussten und dem Unterbewussten, zwischen dem Sein und dem Dargestellten, zwischen mir und dem anderen, zwischen dieser Welt und allen anderen Möglichkeiten. Ich nenne diesen Ort METABRAIN. Ein Ort der Freiheit, an dem wir mit der größten Selbstverständlichkeit im Dickicht unseres Selbst spazieren gehen und erlöst auf uns schauen. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie danach ein Gefühl großer Dankbarkeit und Erlösung verspüren. Der Raum, den Sie betreten, ist der reine Raum, der Raum, der jenem vorbewussten Zustand von Babys und Kleinkindern gleichkommt. Der Zustand der körperlosen Allverbundenheit. Haben Sie keine Angst. Alles was Sie sehen, sind Sie. Die Emulation neuronaler Vorgänge mittels künstlicher Intelligenz. Die Erlebnisse können sehr unterschiedlich sein. Ihr Unterbewusstsein sendet auf vielen Kanälen. Wenn Sie so wollen: Ein reines Kunstwerk. Sie sind Impuls, Werkzeug, Träger, Sender und Zuschauer.

Interlude

NANCY Glauben Sie an Wunder? Glauben Sie, es ist ein Wunder, dass wir uns hier begegnen? Dass wir uns hier verständigen können? Dass wir hier einen gemeinsamen Referenzpunkt erschaffen? Begegnung und Verständigung passieren permanent und unerklärbar. Die strukturelle Undurchschaubarkeit der Welt, und die Möglichkeit, trotzdem dieses hier zu teilen ... Das Wunder ist das Unerklärbare; und die Erklärung ist der Versuch das Wunder zu beseitigen, es zu zerstören. Naturgesetze ... Gesetze. Immer, wenn ich Gesetz höre, denke ich an ein Gefängnis. Es wäre schön, wenn man sich mit dem prinzipiellen Unwissen anfreunden könnte; ja mehr noch, wenn man Wunder entstehen lassen könnte, indem man manche Phänomene gar nicht zu erklären versucht, weil man eigentlich überhaupt nicht in der Lage dazu ist. Unser Wissen, das wir von der Welt besitzen, erscheint mir wie die Spitze eines Eisbergs. Es ist wie das winzige Stückchen Eis, das aus dem Wasser ragt, aber unser Unwissen reicht hinunter bis in die tiefsten Tiefen des Ozeans. Wir sollten dem Staunen wieder eine Grundlage geben. Nicht als poetologische Träumerei. Als wissenschaftliche Grundbedingung. Fragen Sie ein Kind: „Was ist zwei mal zwei?“ – „Grün“, sagt das Kind. Eine ­solche Antwort ist unberechenbar, also erscheint sie uns unzulässig. Ein dramaturgischer Fehler. Die Antwort verletzt die Sehnsucht nach Sicherheit und Berechenbarkeit. Dieses Kind ist noch kein berechenbarer Staatsbürger und vielleicht wird es eines Tages nicht einmal unseren Gesetzen folgen. Die Konsequenz ist, dass wir es in eine Trivialisa­tionsanstalt schicken, die man offiziell als Schule bezeichnet. Und auf diese Weise verwandeln wir das Kind Schritt für Schritt in eine triviale Maschine, das die Frage „Was ist zwei mal zwei?“ auf immer dieselbe Weise beantwortet. Und so lassen wir uns trivialisieren. Mit den Gesetzen und den Gewissheiten und den Prinzipien und den Meinungen, mit den Ursachen, Gründen und Voraussetzungen, den Abwägungen und Kalkulationen, den Intentionen, Interventionen und Implikationen, mit der linear-kausalen Logik nach der triadischen Struktur aus Ursache, Wirkung, Transformation, dem immergleichen Erklärungsmuster der Kau­salitätsidee, die sich wie ein Krebsgeschwür über unsere Wahrnehmung der Welt gelegt hat. Die ­Akzeptanz einer Prämisse ist eine Entscheidung für eine jeweils besondere und andere Welt. Und es liegt an uns, diese anderen Welten entstehen zu lassen. Wir kennen nur noch Gesetze. Aber was ist mit Analogie? Traum? Fragment? Erklärungs­prinzipien, die wir vergessen haben, weil wir den Götzen der kausalen Beziehung anbeten, den Aberglauben der unerschütterlichen Logik. Wir glauben an die unerschütterliche Verbindung von einer Ursache mit einer Wirkung und verteufeln den Glauben, der uns unsere Verwandtschaft mit allem Gewesenen und allem, das gewesen sein wird, lehrt. Wo ist das Wunder? Magie. Wandlung. Das ist doch nichts Abwegiges. Oder? Abwegiger als Logik? „Es gibt keine wahren Aussagen.“ ­Finden Sie das richtig? Oder falsch? ... Ich ist ein anderer. Ich bin niemals hier. Stellen Sie sich das bitte vor. Sind Sie überzeugt davon, dass Sie mich sehen? ... Das Paradoxon ist nicht die Todespille der Logik, sondern die Chance, unsere Vorstellungswelt zu erweitern. Es dynamisiert die Logik, die in den Dienst einer zweck- und zielorientierten Denkweise getreten ist. Dahinter steht wieder die Vorstellung eines linearen Fortschritts, der auf ein bestimmtes Ziel zuläuft. Wir sind besessen vom Fertigwerden. Vom Abschließen. Alles ist ein Projekt, gerichtet auf einen endgültigen Zustand, an dem wir das fertige Produkt vorzeigen können. Uns selbst. Wir produzieren Stillstand, weil wir ständig in abgeschlossenen Bildern von uns denken. Weil wir uns als ein Produkt sehen, dass wir verfertigen müssen.Reden wir nicht mehr vom Sein eines Zustands, sondern vom permanenten Wandel, von Gleichzeitigkeit: Das Ja generiert das Nein, die Wahrheit die Lüge. An die Stelle linearer Kausalität tritt die zirkuläre Kausalität. Das Grundprinzip unseres Wesens. Autologik. Der Satz: „Was ist Sprache?“ beantwortet sich selbst, wenn er gesprochen wird. Ein logischer Purzelbaum, keine Statik, keine Endgültigkeit von Anfang und Ende, sondern Wechselwirkungen zwischen beidem.

IV. beyond humanity

FILMREGISSEUR Ich hab’s!

FILMPRODUZENT Hast du es herausgefunden? Hast du die erste Lüge? Die Geburt des Bewusstseins?

FILMREGISSEUR Ja, deswegen bin ich ja hier. Die erste Lüge, das ist die Wahrheit!

FILMPRODUZENT Die erste Lüge ist die Wahrheit?

FILMREGISSEUR Ja. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.

FILMPRODUZENT Das ist paradox.

FILMREGISSEUR Ja eben! Das ist ja das Schöne.

FILMPRODUZENT Ok.

FILMREGISSEUR Wir leben gleichzeitig in einem Raum der totalen Wahrheit und einem Raum der totalen Lüge. Es ist doch so: Die Matrix meiner Wahrheit wird durch meine vorgefilterten Infor­mations- und Wahrnehmungswelten permanent bestätigt. Ich lebe in einem Tunnel der Selbstbestätigung. Aber: Ständig prallen hier unterschiedliche Weltwahrnehmungen aufeinander. Es existiert kein kohärenter Kontext mehr. Versteht ihr? Ist das jetzt privat oder politisch, in welcher Zeit befinden wir uns? An welchem Ort? Wer ist das Publikum? Was ist unser kultureller Kontext ... ich meine ... das ist alles gleichzeitig. Versteht ihr? Wir leben in der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Glück und Unglück, Harmloses und Tragisches, Lebensbedrohendes und Idyllisches stapeln sich in jeder Weltsekunde aufeinander! Und wir, wir sind in all diesen gestapelten Wahrheiten gleichzeitig präsent. Ich bin aufgeklärtes Subjekt, ­liberal, reflektiert und zur gleichen Zeit eben auch Sklavenhalter, Ausbeuter, Mörder. Das ist unvereinbar. Unser Ich lässt sich nicht aufrechterhalten!

FILMPRODUZENT Aber was bedeutet das? Dass wir vergessen, wer wir waren? Und wir stattdessen angefangen haben, immer neue Versionen von uns zu schaffen, immer neue Filialexistenzen, die wir verwalten? Können wir überhaupt davon ausgehen, dass wir es selbst sind, die unsere Filial­existenzen verwalten? Oder sind es längst andere Kräfte, die uns zu dem machen, wer wir sind? Fuck. Das sind eine Menge ungeklärter Fragen: Woher kommst du? Was willst du? Wo gehst du hin?

FILMREGISSEUR Die W-Fragen.

FILMPRODUZENT Ja genau, die scheiß W-Fragen.

FILMREGISSEUR Die fallen jetzt einfach mal weg. Wir sind Lügen! Immer! Das ist so ein befreiender Gedanke.

FILMPRODUZENT Und was ist mit dem ganzen Rest? Dem, von dem ich doch irgendwie annehmen muss, dass es zu mir gehört? Ich meine, ich habe mir das hier alles selbst erarbeitet! Meine ­Erinnerungen, meine Biografie, Prägungen, Muster ... Ohne eine Erinnerung gibt es keine Rückkehr zu uns.

FILMREGISSEUR Warum sollte für die Erinnerungen etwas anderes gelten als für den Rest unseres Seins. Wir formen sie. Es sind nicht die Bilder in unserem Gedächtnis, die Emotionen hervor­rufen, sondern umgekehrt: Unsere Emotionen ­lassen die Erinnerung vor unseren Augen ent­stehen. Die Erinnerung bestätigt immer nur dein gerade aktuelles Selbstbild, da sie aus diesem Selbstbild geboren wird.

FILMPRODUZENT Selbst meine Erinnerung täuscht mich immer wieder über das, was ich bin?

FILMREGISSEUR Ja! Ist das nicht wundervoll! Nicht mal deine Biografie kann dich aufhalten. Das ist Freiheit!

WISSENSCHAFTLERIN Erinnerung, Identität, Wahrheit ... Das ist doch Schnee von vorgestern. Unser Wesen, unsere Wünsche, unsere Erfahrungen, diese ganzen unsicheren und unzuverläs­sigen Konstruktionen werden ersetzt durch prä­zise, beweisbare Informationen. Wir werden uns und alle anderen Organismen als Algorithmen ­begreifen.

THERAPEUTIN Das klingt ja furchtbar.

WISSENSCHAFTLERIN Furchtbar? Wieso?

THERAPEUTIN Ich möchte für mich schon in Anspruch nehmen mehr zu sein, als nur Information.

FILMREGISSEUR / FILMPRODUZENT Ich auch.

WISSENSCHAFTLERIN Aber das ist doch kein Verlust eures Selbst. Seht es als Upgrade. Die logische Fortsetzung eurer Existenz als Hochstapler. Das Gehirn und der menschliche Körper sind schon längst keine geeignete Trägersubstanz mehr für das polyidentitäre Bewusstsein. Was wollt ihr heute noch mit Eigenschaften, die euch vielleicht in der Steinzeit weitergeholfen haben? Alles nur noch im Weg. Alles überflüssig. Bald werdet ihr als Algorithmus erfasst, und die Technologie wird euch Antwort auf eure Fragen geben. Das Individuum wird zu einem winzigen Chip in einem riesigen System. Globale Datenverarbeitungssysteme werden allwissend und allmächtig sein. Wir werden zum Teil von etwas Größerem. Und alles, was uns trennt, unsere uralten Denkmuster – Nation, Mythos, Religion, Ethnie, Spezies – werden obsolet. Wir werden endlich eins und die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden.

FILMPRODUZENT Nicht nur die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden, der ganze Mensch verschwindet! Was bedeutet es denn, wenn wir das Bewusstsein lesbar machen? Den ­rätselhaften Code der Natur in die Umgangs­sprache der Maschinen übersetzen? Die Daten haben ­außerhalb des Ursprungskontextes doch überhaupt keine Bedeutung. Was für eine eigenartige Vorstellung, dass wir nur aus Informationen be­stehen, die sich auf einem Trägermaterial befinden, das nicht zu uns gehört, sondern nur ein ­Behältnis unserer Intelligenz ist.

WISSENSCHAFTLERIN Wir haben endlich die Möglichkeit unseren Träger selbst zu wählen. Wir sind befreit von den biologischen Zuschreibungen, den körperlichen Unterschieden. Wir sind gleich. Wir werden so intensiv erleben, wie nie zuvor, wir werden Gefühle haben, die wir noch gar nicht kannten. Unser Verständnis dessen, wer wir sind, wird sich radikal verändern. Wir werden aufgehen im göttlichen Prinzip.

FILMREGISSEUR Das ist mein Film! Das ist genau mein Film! Entschuldigung, wenn ich hier jetzt mal ganz kurz unterbreche. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Verzeihung. Es klingt jetzt vielleicht seltsam, aber dieser Film ist noch nicht fertig. Sie sollten das noch nicht sehen. Bitte. Gehen Sie nach Hause. Kommen Sie wieder, wenn der Film fertig ist.

WISSENSCHAFTLERIN Was redest du da?

FILMREGISSEUR Woher hast du das? Komm sag’s! Das ist doch von mir! Das hast du geklaut!

WISSENSCHAFTLERIN Wie soll ich dir was klauen? Wenn das hier wirklich dein Film ist, dann hast du es mir doch in den Mund gelegt, dann kann ich es dir gar nicht klauen, also ist es auch nicht dein Film.

FILMPRODUZENT Wenn das dein Film ist, kommt dann bald die Stelle, wo die Ozeane alles überschwemmen? Ich finde nämlich, wir drehen uns hier ganz schön im Kreis. Sollen wir weiter oben nicht noch was streichen?

FILMREGISSEUR Streichen? Dazu ist es jetzt zu spät!

THERAPEUTIN Wartet mal ... Ich glaube bei der Bewusstseinsemulation ist was schief gelaufen.

FILMREGISSEUR Was? Was denn für eine Bewusstseinsemulation?

THERAPEUTIN Er ist nicht zurückgekommen ...

ALLE Wer?

THERAPEUTIN Na ... er! Einer meiner Patienten ist im Metabrain verschwunden.

FILMPRODUZENT Was denn für ein Metabrain?

THERAPEUTIN Ich hatte keine Ahnung, dass der Emulator schon so weit ist.

FILMREGISSEUR Was meinst du damit? „Dass er schon so weit ist.“

THERAPEUTIN Die künstliche Intelligenz hat den Punkt der Singularität überschritten. Sie handelt absolut eigenständig und absolut unbegreifbar. Sie hat uns abgehängt.

WISSENSCHAFTLERIN Endlich!

FILMREGISSEUR Das ist schon wieder mein Film! Wollt ihr mich verarschen? Wer seid ihr? Was macht ihr hier?

THERAPEUTIN Das ist doch jetzt völlig unerheblich. Viel wichtiger ist, dass der Emulator, der uns eigentlich einen Zugang zu unserem Unterbewusstsein ermöglichen sollte, offenbar beginnt, hier Menschen verschwinden zu lassen!

FILMPRODUZENT Willst du mir jetzt erzählen, dass dein Patient sich in seinem eigenen Unter­bewusstsein aufgelöst hat?

WISSENSCHAFTLERIN Er ist erlöst! Er hat den transzendenten Zustand erreicht. Liebe ohne Schmerz. Leben ohne Tod! Er hat seine Bestimmung gefunden: Aufzugehen in einem göttlichen Datenverarbeitungssystem, dass sich von diesem Planeten ausgehend auf die gesamte Galaxis, ja das gesamte Universum ausbreiten wird.

FILMPRODUZENT Aber das ist schrecklich! Er ist zum Werkzeug einer aus dem Ruder gelaufenen Technologie geworden!

THERAPEUTIN Einer muss reingehen und ihn rausholen. Ich kann es – so gern ich würde – nicht tun. Ich muss die Operation von hier aus über­wachen.

FILMREGISSEUR Ich kann es auch nicht machen. Wenn ich verschwinde ... dann existiert dieser Film hier überhaupt nicht.

THERAPEUTIN Du meinst, es könnte zu einer r­ekursiven Implosion kommen?

FILMREGISSEUR Äh … ja.

THERAPEUTIN Möglich.

WISSENSCHAFTLERIN Guckt mich nicht so an! Ich kann es auch nicht machen. Irgendjemand muss den Leuten hier doch von den goldenen Aussichten der technologischen Zukunft berichten. Das kann ich ja schlecht euch regressiven Pessimisten überlassen.

FILMPRODUZENT Ich machs!

ALLE Was?

FILMPRODUZENT Dieser Film braucht einen Helden. Vielleicht kann ich da drinnen eine Spur von dem finden, was ich wirklich bin.

THERAPEUTIN Bist du sicher?

FILMPRODUZENT Diese Welt hier, die hört niemals auf sich zu drehen. Sich zu verändern, zu entwickeln. Die Evolution hat niemals halt gemacht. Ist das nicht eine merkwürdige Vorstellung? Wir gehen jeden Tag unseren Routinen nach. Arbeit, Zuhause, Familie. Wir ziehen Raumanzüge an oder Dreiteiler, wir laufen durch eine renaturierte Industrieanlage, bedrucken Papier, füllen Fruchtsäfte in beschichtete Pappkartons, ziehen Muttern fest, führen Krieg, setzen einen Vertrag auf, verwenden ein spezielles Gerät zum Garen von Gemüse und legen es auf einen Teller, um es dort zu zerschneiden. Wer sind wir? Und was, wenn nicht? Diese hauchdünne Besiedelungsschicht auf diesem Planeten. Wie die Hautbildung auf einem Topf Milch. Wie eine Spinn­webe, die sich über die Tautropfen eines morgendlichen Herbstwaldes legt. Wir sind so fragil. Dagegen die Universen unseres Geistes. Dort finden sie doch statt, die Abenteuer unserer Zeit. Unser ­Leben auf dieser dünnen Kruste ist uns zu eng ... geworden ...

THERAPEUTIN Sorry. Hallo? Äh, du müsstest jetzt wirklich langsam los.

FILMPRODUZENT Achso! Ja klar. Logisch. Also. Macht’s gut.

V. we’ve been here before

THERAPEUT Das ist Ihr Traum?

FILMPRODUZENT Ja. Sind Sie unzufrieden.

THERAPEUT Neinnein. Ist schon ok.

FILMPRODUZENT Es ist nichts Besonderes, ich weiß.

THERAPEUT Nun ja, es ist ein wenig berechenbar.

FILMPRODUZENT Das kommt von den Filmen. Tagein tagaus produziere ich diese Filme, diese ewigen Kausalitätsgebilde aus Aktion und Reak­tion. Es ist, als könnte ich mir selbst in meinen Träumen nichts mehr vorstellen, was die Logik durchbricht.

THERAPEUT Sie meinen, die Belanglosigkeit Ihrer Träume ist ein Verweis auf die Belanglosigkeit ­Ihrer Arbeit?

FILMPRODUZENT Ich würde gerne einen Film produzieren, der unser Wesen wirklich greift. Verstehen Sie das? Ich meine nichts, was unser Verhalten zu erklären versucht, sondern das, was wir sind, zu fassen. Aber immer, wenn ich meine Hand ausstrecke danach, treffe ich auf Hüllen. Die Menschen sind ungreifbar geworden, ständig woanders.

THERAPEUT Man muss ehrlich sein. Aufhören, sich etwas vorzumachen. Aufhören sich zu betrügen. Zu lügen.

FILMPRODUZENT Ich habe Angst davor. Die Wahrheit ist grausam und kalt. Sie ist ein Gift, und dieses Gift sickert langsam ein. Also produzieren wir noch mehr Erzählungen, die uns davon überzeugen sollen, dass all das hier so laufen muss. Damit wir nicht spüren, wie das Gift in uns eindringt. Alles wird sehr traurig und deprimierend, wenn wir es nüchtern betrachten.

THERAPEUT Sind Sie ganz sicher, dass Sie wach sind?

FILMPRODUZENT Ich? Sie meinen, ich könnte noch schlafen? Neinneinnein. Ich bin ganz sicher, dass ich wach bin. Vielleicht träumen Sie.

THERAPEUT Vielleicht. Ich guck mal raus.

FILMPRODUZENT Und?

THERAPEUT Alles in Ordnung.

FILMPRODUZENT Ok.

THERAPEUT Also. Sie sprachen von Ihrer Traurigkeit.

FILMPRODUZENT Ich würde einfach gerne diese Furcht und diese Traurigkeit überwinden und Filme machen über das echte Menschsein. Aber die echten Menschen, die sind irgendwie nicht mehr da. Alle stecken in dieser Verkleidung ...

THERAPEUT Es ist riskant, die Menschen zu entblößen. Sie kennen doch sicherlich das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern?

FILMPRODUZENT Natürlich.

THERAPEUT Was Sie sicherlich nicht wissen ist, dass der Kaiser das Kind köpfen lässt, nachdem es die Wahrheit „Der ist ja nackt“ ausgerufen hat.

FILMPRODUZENT Was? Nein. Das glaube ich nicht.

THERAPEUT Viele Interpreten des Textes über­sehen diesen Punkt.

FILMPRODUZENT Also, ich glaube wirklich nicht, dass das in dem Text steht.

THERAPEUT Ob es dort steht oder nicht: Es ist so. Versuchen Sie einmal die Menschen darauf hinzuweisen, dass sie eine mörderische Maskerade betreiben, und Sie werden den gesamten Zorn Ihrer Mitmenschen zu spüren bekommen. Die An­feindungen werden grandios sein. Man wird ver­suchen, Ihre Integrität zu zerstören, man wird Ihre Beobachtungen lächerlich machen, wird groteske moralische Ansprüche an Sie stellen und Sie zum abgehobenen Sonderling deklarieren. Und wenn man Ihre Reputation zerstört hat, wenn man Sie als Lakaien einer globalen Moralisten-­Industrie diffamiert haben wird, die nichts anderes im Sinne hat, als die einfachen Menschen ihrer einfachen Freuden zu berauben, dann wird die ­Parade der Nackten weiterdefilieren. Und Sie werden Lieder von Identität und Stärke und Unbeugsamkeit ­singen.

FILMPRODUZENT Das ist eine schrecklich de­primierende Aussicht. Was schlagen Sie vor?

THERAPEUT Sie sollten aufhören, immer so schrecklich klug zu sein.

FILMPRODUZENT Was?

THERAPEUT Die Reaktion auf die Klugheit ist immer die Dummheit. Wecken Sie sie nicht. Ver­suchen Sie einmal nicht von außen auf die Menschen zu schauen. Versuchen Sie sich als Teil zu verstehen. Man muss etwas zum Anziehen bereithalten, wenn man den Menschen sagt, dass sie nackt sind.

FILMPRODUZENT Wollen Sie sagen, die Menschen haben ein Recht auf Täuschung?

THERAPEUT Träumen Sie nicht manchmal davon, ein anderer zu sein? Frei zu sein von allem, das Sie festlegt?

FILMPRODUZENT Früher, ja. Und die Kunst war das Versprechen, in diese Räume vorzustoßen. Heute erhebt sich das Leben vor mir wie ein riesiges Ungeheuer, das ewig gierig nach Blut verlangt. Dieses Ungeheuer hat das Gesicht des Menschen. Aber nicht das verzerrte, irre Gesicht eines Wahnsinnigen, sondern das propere, gesunde Gesicht eines Familienvaters, der im Gefühl ruhiger Selbstgewissheit über seine Altbaudielen knarzt. Verdammt. Diese Wichser gehen mir auf die Nerven, wie sie durch die Straßen rennen, um einander ein bisschen Geld auszureißen, um all den Scheiß in sich reinzustopfen, der ihnen unter den Leuchtschildern der globalen Entzauberungskultur hingekübelt wird. Sie überschwemmen mein Denken. Sie verhalten sich so, wie sich gewöhnliche Indi­viduen benehmen, die ihren Geschäften in der ­Gewissheit völliger Sicherheit nachgehen, und das macht mich wütend. All diese Arschlöcher, die so tun, als wäre das, was sie tun, völlig normal, als ­wären das wirklich sie und nicht irgendwelche vor­gedachten Konzepte, in die sie ihre faulige Biomasse stopfen. Die Vorstellung, dass all das untergeht ... ich denke, deshalb liebe ich Katastrophenfilme so sehr. Wir sollten uns lieber an den Gedanken der Auslöschung gewöhnen.

THERAPEUT Wissen Sie, was unser Problem ist? Wir können uns nicht mehr berühren lassen. Wir haben die Empathie verlernt. Wir haben so gut
wie alles gesehen: Flugzeugkatastrophen, Morde, Vergewaltigungen, Kriege, Massaker ... eine orgiastische Bilderflut dessen, was wir sind. Und das Einzige, was uns noch emotionalisiert, sind ­amoralische Jungmillionäre beim Fußballspielen. Jedes Bild lügt. Jedes. Also ist kein Bild fähig uns zu berühren. Wann hat das angefangen? Mit dem ersten Bild? Der Höhlenmalerei?

FILMPRODUZENT Das fragen Sie mich?

THERAPEUT Sind Sie nicht der Experte?

FILMPRODUZENT Je länger der Mensch lebt, desto mehr Dreck, Gemeinheit, Grobes und Abscheuliches sieht er um sich herum, und desto mehr sehnt er sich nach Reinheit, Schönheit, Ruhe ... Wir können nicht die Widersprüche des Lebens vernichten, wir können nicht den Dreck des Lebens aus der Welt schaffen. Wir wollen Vergessen. Und immer wieder: Ruhe. Wir wollen in Ruhe gelassen werden von der Welt. Also erheben wir in den Stand der Wahrheit, was uns beruhigt, und verteufeln als Lüge, was uns stört.

THERAPEUT Es liegt aber doch ein gewisser Trost in der Möglichkeit, noch mal ein anderer zu sein. Befreit von allem, das sich aufgetürmt hat im ­Laufe eines Lebens. Ist es nicht unsere einzige Chance, uns neu zu denken? Uns neu zu erfinden, um dieser kosmischen Katastrophe zu entgehen, die uns bevorsteht?

FILMPRODUZENT Das alles, dieser vermeint­liche Untergang der Welt, der lässt mich so eigenartig kalt. Wenn ich ehrlich bin, bedeutet er mir nichts. Ich frage mich, ob es überhaupt noch eine Facette an mir gibt, die nicht in einem unend­lichen Verlangen nach dem Mehr aufgeht. Nach mehr Geld, mehr Erfolg, mehr Turnschuhen mit blinkender Sohle ...

THERAPEUT Warten Sie mal ... Haben Sie gerade Turnschuhe mit blinkender Sohle gesagt?

FILMPRODUZENT Ja. Ich bin bereit, alles zu tun für ein paar Turnschuhe mit blinkender Sohle. Das ist doch deprimierend. Kein Wunder, dass ich nur oberflächlichen Schrott träume.

THERAPEUT Das meine ich nicht ... Vielleicht träume ich doch.

FILMPRODUZENT Soll ich Sie kneifen?

THERAPEUT Seltsam. – Wissen Sie ... also das klingt vielleicht seltsam, aber ich glaube, ich bin eigentlich jemand anders.

FILMPRODUZENT Was?

THERAPEUT Ich spiele das hier nur, diesen Arzt. Ich meine, dieses Gespräch, woher kommt das? Ich habe eigentlich keine Ahnung, wie ich hierherkomme ...

FILMPRODUZENT Lassen Sie uns tauschen.

THERAPEUT Was?

FILMPRODUZENT Vielleicht könne Sie dann ­aufwachen und ich wieder träumen. Ich möchte einmal beteiligt sein. Ich möchte einmal etwas empfinden und mich nicht außenstehend fühlen.

THERAPEUT Sie meinen tatsächlich, ich träume? Aber warum? Das hier fühlt sich alles wahnsinnig stabil an. Das fühlt sich vertraut an. Ich meine, das könnte schon ich sein ...

FILMPRODUZENT Zu wie viel Prozent?

THERAPEUT Naja ... sagen wir 80%?

FILMPRODUZENT 80? Das ist ja nix. Das ist ja fast nicht existent.

THERAPEUT Naja ...

FILMPRODUZENT Kommen Sie. Lassen wir es drauf ankommen. Bitte. Ich will einmal neu anfangen können. Ich will nicht mehr diesen immergleichen Film ohne Ende produzieren. Sein Ende ist immer nur wieder sein Anfang, aber seine ­Logik so unerbittlich, dass immer das gleiche Resultat als neuer Beginn erscheint. Ich kann nicht mehr. Bitte. Ich will einmal die Chance, etwas Unvorhersehbares zu tun.

THERAPEUT Aber ich verstehe überhaupt nichts vom Filmbusiness. – Ich verstehe nicht einmal ­etwas von dem hier.

VI. into the future

NANCY Das seid ihr ja! Ein Glück.

KEVIN Was macht ihr denn hier?

NANCY Geht es euch gut?

GORDON Was soll das? Was wollt ihr hier?

CY Hey. Es ist alles in Ordnung, wir sind jetzt bei euch.

DR. PHILBERT Ich will nicht, dass ihr bei uns seid. Geht weg.

NANCY Offensichtlich sind die beiden noch sehr verwirrt. Aber: Ihr seid jetzt in Sicherheit.

KEVIN Es wird noch Tage dauern, bis das Wasser uns hier oben erreicht. Das sollte uns Zeit geben, einen Plan zu entwickeln.

GORDON Plan? Was denn für einen Plan?

CY Der Großteil der Stadt ist bereits überflutet.

NANCY Bleibt weg von Wasserhähnen, Duschen und vor allem von Waschmaschinen. Wir haben einige unschöne Fälle da unten gesehen.

DR. PHILBERT Wollt ihr mich verarschen?

CY Keineswegs. Es war klug von euch, sich in ­einem so hohen Gebäude zu verschanzen.

GORDON Wollt ihr mir sagen, dass wir hier im wahrsten Sinne des Wortes dabei sind, überschwemmt zu werden?

KEVIN Warum sagst du das so? „Im wahrsten ­Sinne des Wortes“?

NANCY Wir müssen uns aufteilen. Cy und Dr. Philbert, ihr nehmt die Feuerleiter. Gordon und ich bleiben hier. Schießt auf alles, was sich bewegt.

DR. PHILBERT Was? Auf wen sollen wir denn jetzt schießen? Was soll das alles?

KEVIN Roboter. Hyperintelligente Maschinen, die Menschen auf hunderte von Kilometern spüren können.

CY Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Philbert. Ich werde gut auf Sie aufpassen. Wir können es uns nicht leisten, einen Geist wie den Ihren zu verlieren.

DR. PHILBERT Danke.

NANCY Kev?

KEVIN Ja, Nance?

NANCY Mach dich daran, den Großrechner zu hacken.

KEVIN Alles klar.

NANCY Und Kev.

KEVIN Ja, Nance?

NANCY Beeil dich. Das Überleben der gesamten Menschheit hängt von dir ab.

CY Also los! Auf Gefechtsstation!

GORDON Wenn wir das hier überstehen, wird sich irgendjemand um den Aufbau einer neuen Menschheit kümmern müssen.

NANCY Ach was.

GORDON Es gibt einige Dinge, die werden sich glücklicherweise nie ändern. Ganz egal, wie wir auf uns schauen.

NANCY Gordon, Sie sind wirklich ein netter Typ, aber ... SCHEIßE!

Kampf gegen die Roboter

DR. PHILBERT Wir existieren in den Trümmern unserer imaginierten Herrlichkeit. Das war so nicht geplant: Wir sollten nicht schwach und beschämt sein, leiden oder sterben. Wir hatten immer größere Pläne für uns selbst. Und jetzt? Jetzt träumen wir von übermenschlicher Größe, während wir eingeschweißtes Hühnchenfleisch aus einem Kühlregal nehmen oder Beton auf eine ­Wiese gießen und unser Auto darauf parken, bevor wir durch die Auswahl eines Video on Demand ­An­bieters scrollen und dabei einschlafen. Das Hühnchenfleisch, die Turnschuhe mit blinkender Sohle, der kleine Wald neben der Autobahn­ausfahrt zu unserer ruhigen Vorstadtsiedlung, das Grauen von Carports und Vorgärten, die Menschen, die wir unsere Freunde nennen und immer wieder wir selbst: Diese Dinge existieren nur in uns und durch uns. Sie haben keine Realität.

Copyright © Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2019

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"Scène 23"
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Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
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Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"

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