Theater der Zeit

Theater der Zeit 10/1946

Menschliche und künstlerische Persönlichkeit

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Erschienen im Oktober 1946

Gedruckte Ausgabe

Broschur mit 32 Seiten

Format: 210 × 290 mm

ISSN: 0040-5418 (Broschur)

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Theaterspiel ist Menschengestaltung, deren Material der Mensch selbst ist. In dieser Feststellung ist zweierlei enthalten.

Einmal, dass der Bühnenkünstler alles Menschliche tief erfassen muss. Er muss Menschenkenner sein. Das Menschliche ist aber, abgesehen vom grob Physischen, nur zu erkennen, zu begreifen aus dem Gesellschaftlichen, von dem es weitgehend, ja letztlich ganz bestimmt wird. Der schöpferische Prozess des Menschengestalters führt also aus dem Individuellen in die Zusammenhänge des Kollektiven (die sich als Widersprüche geben) und von dort wieder zum Individuellen: zur Rolle, zur Partie. Je künstlerisch wahrer das Gesamtwerk ist, um so selbstverständlicher geht der gestaltende Künstler diesen Weg - so selbstverständlich, dass ihn die meisten, trotz seiner Kompliziertheit, unbewusst gehen und sich das Endergebnis, nämlich die fertige Gestaltung, ganz als Produkt ihrer eigenen Individualität zurechnen. Der Künstler pflegt dann zu sagen, er habe seine Rolle „ganz von sich aus“ gestaltet, er habe „alles aus seinem Innern geschöpft“ oder auch, er habe „sich selbst gespielt“. Die Tatsache, dass alle glaubhafte Menschengestaltung unmöglich wäre, hätte nicht schon der Dichter den zu gestaltenden Menschen in die richtigen, das heißt wahrhaften Zusammenhänge mit dem Gesellschaftlichen gebracht, wird dabei vom Bühnenkünstler ebenso gern übersehen wie die andere Tatsache, dass auf dem Theater die Gestaltung auch der einzelnen Rolle stets nur im Kollektiv des Ensembles erfolgen kann, also im Spiel und Widerspiel mit andern Gestaltern, die andere gesellschaftliche Kräfte individuell verkörpern. Der Bühnenkünstler neigt deshalb, obwohl er Ausübender der am stärksten gesellschaftgebundenen Kunst ist, im persönlichen Leben sehr leicht zu einem extremen Individualismus.

Der Nachsatz unserer einleitenden Feststellung - dass die Person des gestaltenden Bühnenkünstlers zugleich das Material seiner Gestaltung ist - unterstreicht noch die Tendenz der individualistischen Abspaltung vom Gesellschaftlichen. Es gehört schon ein ziemlich hoher Grad gesellschaftlicher Erkenntnisse dazu und überdies die Fähigkeit dialektischen Denkens, um zu verstehen, dass es kein Paradoxon, sondern nur natürlich ist, wenn das Höchstmaß an individueller Eigenart in der künstlerischen Gestaltung erst die ganze, die kollektive, die gesellschaftliche Wahrheit ergibt - und umgekehrt. Mit andern Worten: dass das Bewusstsein des Persönlichkeitswerts überhaupt nur künstlerisch fruchtbar, nur zum „höchsten Glück der Erdenkinder“ wird, wenn es zugleich das Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber den andern „Erdenkindern“, nämlich der menschlichen Gesellschaft ist.

Jeder Künstler schafft für die Öffentlichkeit, für das Publikum. Am unmittelbarsten der Bühnenkünstler. Dass er dabei die höchste individuelle Befriedigung, das größte Glück für sich selbst empfindet, ändert nichts daran. Es ist im Gegenteil einer der stärksten Beweise gerade für die gesellschaftliche Bindung des Künstlerindividuums. Man hört manchmal, dass es irgendwann, irgendwo einmal Bildhauer, Maler, Musiker, Dichter gegeben habe, die aus einer Art gesellschaftfeindlicher Eifersucht zeitlebens ihre Werke geheimgehalten hätten - aber von einem Schauspieler, der sein Leben lang im stillen Kämmerlein Rollen studiert und ohne Partner sich selbst vorgeführt habe, ward noch nie etwas vernommen.

 

All diese (nicht einmal originellen) Betrachtungen wären müßige Gedankenspielereien, besonders müßig in der heutigen Zeit, wollten wir sie nicht mit unserer heutigen Zeit in konkrete Verbindung bringen.

Dem deutschen Bühnenkünstler ist die Aufgabe gestellt, sein Volk zu demokratischem Denken und Fühlen zu erziehen.

Er kann und soll dies selbstverständlich mit den Mitteln seiner Kunst. Denn er ist Künstler, nicht Lehrer und nicht Politiker.

Man möchte im ersten Augenblick glauben, es genüge also, wenn der Regisseur fortschrittliche Werke inszeniert, der Darsteller ihre Gestalten spielt; vielleicht, so ist man noch geneigt einzuräumen, hätte der Regisseur noch am ehesten Gelegenheit, fortschrittliche Zeitbezogenheiten unterstreichend herauszuarbeiten, fruchtbare Assoziationen zu wecken, rückschrittliche Tendenzen, sofern sie im Werk auftauchen, abzubiegen oder ganz zu entfernen - der Darsteller hingegen könne nur seine vom Autor fest umrissene Rolle mehr oder minder gut spielen.

Stimmt das?

Es stimmt natürlich nicht, wie jeder wirkliche Schauspieler weiß. Denn Menschendarstellung ist kein Kunstgewerbe, sondern künstlerisches Transponieren des eigenen Individuums in ein anderes, vom Dichter vorgeschaffenes. Die Individualität - die künstlerische und menschliche Persönlichkeit - des Darstellers bestimmt erstaunlich weitgehend (mit Hilfe des Regisseurs oder auch ihm zum Trotz) das Charakterbild der zu gestaltenden Figur. Man denke einmal an den Shylock im „Kaufmann von Venedig“: wieviele verschiedene Auffassungen lässt diese Rolle zu! Dabei braucht keine Shakespeare Gewalt anzutun; sie können alle „richtig“ sein, alle im Dichterwort ihre Stütze finden. Und doch kann durch die eine Auffassung tiefes Mitleid mit dem verspotteten Vater und Ekel vor den venezianischen adligen Lausbuben erzeugt werden, durch die entgegengesetzte Auffassung aber Hass gegen den unbarmherzigen Gläubiger, der das Messer wetzt und rachsüchtig auf seinem Schein besteht. Der Darsteller des Shylock bringt also ganz individuell eine gesellschaftliche - das heißt politische - Tendenz in das Werk. Und weil das dramatische Spiel mit seinem Gegeneinander handelnder Personen ein eminent gesellschaftlicher Vorgang ist, werden die Partner positiv oder negativ in die Tendenz einbezogen. Die Aufführung erhält insgesamt von einer schauspielerischen Individualität her ihre gesellschaftliche Tendenz - um so stärker, je stärker die Persönlichkeit dieses Schauspielers ist.

Der Beispiele ließen sich viele beibringen; und am beweiskräftigsten werden sie vielleicht, wenn man sie aus Zeitstücken wählt. So steht und fällt das augenblicklich vielgespielte russische Stück „Stürmischer Lebensabend“ mit der Auffassung, die der Darsteller der Hauptrolle (des Professors Poleshajew) zur Gestaltung bringt. Mag der Darsteller diese Figur mit noch so vielen „kleinen liebenswerten und humorvollen Zügen“ naturalistisch ausstatten (wie es beispielsweise leider Paul Wegener tat) - sein Professor bleibt ein verkalkter Raunzer, der zufällig auf die revolutionäre Seite gerät, und die fortschrittliche Tendenz des ganzen Stückes versandet in langweiliger Propaganda. Ein (möglicherweise künstlerisch viel schwächerer) Darsteller, der jedoch eine Individualität fortschrittlicher Prägung bei der Gestaltung des Professors einzusetzen hat und bewusst einsetzen will, verzichtet, weil er spürt oder weiß, worauf es hier ankommt, auf alle Naturalismen und ist bemüht, die humanistische Tendenz der Rolle und damit des Stücks herauszuarbeiten: statt langweiliger Propaganda entsteht dann, trotz mancher Schwächen des Werks, ein realistisches Abbild stürmischer gesellschaftlicher und damit interessanter, tief menschlicher Kämpfe.

Darauf kam es zu allen Zeiten und kommt es heute besonders an: die menschliche und künstlerische Persönlichkeit (die bei uns zwölf Jahre lang der Barbarei zu dienen hatte, und sei es oft auch nur passiv, zur Aufrechterhaltung eines schönen Scheins) wieder für die Ehrlichkeit, die Menschlichkeit, die Freiheit, den Fortschritt einzusetzen!

Das aber hat gleichermaßen in der Kunst wie im Leben zu geschehen. Denn Kunst und Leben sind nicht voneinander zu trennen, wie wir soeben sahen. Ihr Schnittpunkt liegt im Gesellschaftlichen, das heißt: im Politischen. Ein Künstler, der heute „unpolitisch“ sein möchte, wird zwangsläufig zum politischen Rückschrittler - denn seine Kunst verliert ihr ureigenstes Lebenselement: die befruchtende Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit, zwischen Kollektiv und Individuum. Er verliert, wenn er sie überhaupt besaß, auch als Künstler Farbe, Kraft und Halt.

Der Weltfremde und noch mehr der mit „Weltfremdheit“ kokettierende Künstler hat nicht erst heute, er hat (wie besonders die Jahre der Hitlerschande gezeigt haben) schon immer ausgespielt. Er untergräbt seine eigene menschliche Würde und künstlerische Existenzberechtigung.

Seine menschliche Würde: denn es ist würdelos, sich auf die Stätte seines Wirkens, auf das Theater als moralische Anstalt zu berufen, wenn man (aus Unwissenheit oder aus Indolenz) bereit ist, jeder beliebigen Moral oder Unmoral dienstbar zu sein, vorzugeben, ein Volk mit umerziehen zu wollen, ohne selbst erzogen zu sein.

Seine künstlerische Existenzberechtigung: denn wer sich selbst zum Werkzeug jeder beliebigen gesellschaftlichen Macht degradiert, treibt Missbrauch mit seinem Talent. Er lügt. Er lügt oft am niederträchtigsten dort, wo er gestaltend sein Bestes gibt.

 

Aber die Sache hat neben ihrer moralischen und kunstästhetischen Bedeutung noch eine durchaus praktische, die - eben weil es letztlich um die Kunst geht - doch wieder an den Lebensnerv der Kunst rührt.

Mag nämlich der Künstler in vorgetäuschter Lebensfremdheit (tatsächlich muss er ja, wenn er Menschen-Gestalter sein will, Menschen-Kenner sein!) sich abseits vom politischen Leben seiner Zeit stellen, oder mag er, einer gewissen, gegen die Einheit unseres Volks wühlenden Tagespresse folgend, seine individualistischen Eigenbröteleien und Nörgeleien für die Höchstform demokratischer Haltung ausgeben -: in beiden Fällen wird er sich selbst und seiner Kunst am meisten schaden.

Niemand wird heute vom Künstler verlangen, dass er Parteipropaganda treibt oder auch nur öffentlich für die Wahl einer bestimmten demokratischen Partei eintritt, falls er nicht von sich selbst aus dieses Bedürfnis oder die Notwendigkeit dazu verspürt. Aber was von ihm billigerweise verlangt werden kann, ist dies: dass er sich Klarheit darüber verschafft, welche gesellschaftlichen Kräfte - in diesem Falle: welche politische Partei - bisher am stärksten bemüht waren, nach dem Zusammenbruch die materielle und ideelle Grundlage seiner künstlerischen Betätigung neu zu schaffen; welche weiter bemüht sind, sie zu sichern und zu verbreitern. Praktisch gesprochen: Wer hat sich für den raschen Wiederaufbau zerbombter Theater eingesetzt? Wer hat die Bühnen bisher subventioniert und will sie weiter subventionieren? Wer hilft durch Schaffung von Besucherorganisationen? Welche Presse nimmt eine wahrhaft kunstfördernde Haltung ein?

Das alles sind gewiss sehr alltägliche Dinge; aber sind sie nicht von höchster Wichtigkeit für den Künstler wie für seine Kunst? Und schließlich: ist die anscheinend nur materielle Frage, ob im Bühnenleben wieder das Theaterkonzern-Unwesen unseligen Angedenkens aufkommen soll, nicht in letzter Instanz schlechthin künstlerisch entscheidend? Denn um was geht es hier anders als um eine kapitalistische Rationalisierung mit all ihren üblen Folgen: Verhindern der Ensemblebildung; Zerschlagen der bestehenden Ensembles; Reklamerummel mit wirklichen oder aufgeplusterten Stars; daneben Schaffen einer „Reserve“ aus Engagementlosen; Gagendrückerei; Verschleudern der Eintrittskarten, weil sich die Häuser leeren; und endlich: Konfektion statt Kunst! Der Künstler, der seine Kunst ernst nimmt, hat also nicht nur das Recht, er hat sich selbst und seinem Volk gegenüber die Pflicht, sich mit den politischen Grundsätzen der verschiedenen Kräftegruppen - der Parteien - vertraut zu machen; er muss sich klarmachen, dass trotz aller schönen Reden und subjektiver Kunstliebe diejenigen, die für die sogenannte Unternehmerfreiheit eintreten, objektiv die monopolkapitalistische Misswirtschaft von Theaterkonzernen gutheißen und fördern: es ist dies keine Frage des bösen Willens oder des guten Herzens - es ist die Konsequenz eines politischen Programms. Und umgekehrt ist es ebenso: Verstaatlichung oder zumindest Kommunalisierung der Theater (denn Sozialisierung ist nur in einem sozialistischen Staat möglich) heißt die programmatische Forderung der Gegenseite. Was das für die Theater bedeutet, braucht unsern Lesern nicht breit erläutert zu werden: Ensemblebildung, künstlerisches Arbeiten mit größten Entwicklungsmöglichkeiten, materielle Sicherstellung.

In die Sprache der Politik übersetzt, bedeutet das für den Bühnenkünstler: Du kannst dich entscheiden entweder für jene gesellschaftlichen Kräftegruppen, also Parteien, deren Programme sich für dich und deine Kunst zerstörend erweisen, oder aber für jene, die materiell und ideell den kulturellen Fortschritt, die Entwicklung einer neuen deutschen Kunst gewährleisten.

Die Wahl, sollte man meinen, werde dem echten Künstler nicht schwerfallen.

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