Theater der Zeit

Thema: Martin Linzer Theaterpreis

Die Spieler

Divers, aber nicht divergent und in jeder Hinsicht außergewöhnlich – Das mit dem Martin Linzer Theaterpreis ausgezeichnete Ensemble des Schauspielhauses Bochum im Porträt

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Akteure Schauspielhaus Bochum

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Einer schleicht sich an, hat ein Gewehr, führt etwas im Schilde. An der Rampe sitzt Jens Harzer als Nikolaj Alexejewitsch Iwanow, er hält ein Buch in der Hand, scheint kurz davor, einzuschlafen. Der sich da anschleicht, ist der ständig besoffene Gutsverwalter Borkin. Nähergekommen, zielt er auf seinen Herrn, will ihn ein bisschen erschrecken, weiter nichts. Harzer zuckt zusammen, aber er behält ganz und gar die Contenance. Keine Empörung, kein Aufschrei, nur ein müdes Lächeln. Dies ist der stumme, fabelhaft komische Auftakt der Tschechow-Inszenierung von Johan Simons. Der weitgereiste Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, dieser „Iwanow“ sei die einzige Aufführung der Spielzeit, die man unbedingt gesehen haben müsse. Das war ein paar Wochen vor Corona.

Borkin ist Thomas Dannemann, der 2005 bei Jürgen Gosch Macbeth und vorher den Bassow in den „Sommergästen“ gespielt hat. Wer es sich leisten kann, einen superben Spieler (und auch Regisseur) wie Dannemann in einer, nun ja, Nebenrolle zu besetzen, der schöpft offensichtlich aus dem Vollen. Zusammen mit Martin Horn und Bernd Rademacher bildet Dannemann ein veritables Männertrio, lauter Nichtsnutze, vom müden Iwanow erduldet, jedoch nicht ernst genommen. Anders als der junge Arzt Lwow, der heimlich in Iwanows kranke Frau verliebt ist und sich über die Eskapaden des Hausherrn rechtschaffen empört. Der 1993 geborene Marius Huth spielt ihn brillant, mit einer Schärfe, die wiederum an seinen schneidigen Jurastudenten Erich aus den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ erinnert: Geistige Antipoden, Humanist hier und Protofaschist dort, subkutan verbunden durch die eindrückliche Präsenz ihres Auftritts.

Kann man ein Ensemble porträtieren? Zumal ohne Ungerechtigkeiten, denn jede und jeden zu nennen wird kaum möglich sein? Es geht wohl nur nach dem Suchscheinwerferprinzip: Einzelne herausgreifen, stellvertretend für alle, die dieses bemerkenswerte, diverse, aber nicht divergente Bochumer Ensemble ausmachen. Ein Ensemble, das erklärtermaßen ein Spiegelbild des Bevölkerungsschnitts sein soll, wie man ihn in der Bochumer Innenstadt, etwa im sogenannten Bermuda3Eck, der quirligen Vergnügungszeile zwischen Schauspielhaus und Bahnhof, antrifft. Etablierte polyglotte Kräfte, Nachwuchsspieler, Migrantenkinder der zweiten und dritten Generation und „alte weiße Männer“.

Menschen wie die Baselerin Gina Haller, Jahrgang 1987, eine grazile Erscheinung mit kurzem Haar und dunkler Haut. Ihr Spiel hat etwas berührend Spontanes, Direktes, bisweilen scheinbar Ungeformtes. In Simons’ „Hamlet“ ist sie eine androgyne Ophelia-Horatio als Doppelfigur, ein Alter Ego des von Sandra Hüller gespielten Dänenprinzen. In „Iwanow“ spielt sie die Sascha, eine junge, leidenschaftliche Frau, die den verheirateten Titelhelden begehrt und, ohne besondere Mühe, erobert. Wild geworden vor Verlangen nach einem in dieser Welt so offensichtlich verlorenen Mann. In Karin Henkels „Geschichten aus dem Wiener Wald“ spielt Haller eine mediokre Mutter und die perfide Großmutter abwechselnd, ein Kabinettstückchen ohne Tiefgang, aber mit viel Witz.

In der Horváth-Inszenierung ist Marina Galic eine spröde, zerbrechliche und doch auch zunehmend starke, selbstbewusste Marianne, neben dem Berliner Ulvi Teke, der an dem salbadernden Strizzi Alfred weniger das Wienerisch-Bräsige als das Empfindliche, notorisch Gekränkte und ewig Missverstandene betont. Teke war, in einer unwirklichen Bomberjacke, auch der verliebte König Alfons in Simons’ Eröffnungsinszenierung „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwanger. Ein drahtiger, gelenkiger Spieler, zudem erfreulich vielseitig. Tekes Partnerinnen dort waren keine Geringeren als Anna Drexler, früher im Ensemble der Münchner Kammerspiele, und Hanna Hilsdorf als Frau und ­Geliebte des pflichtvergessenen Königs.

Doch zurück zu „Iwanow“, jener Inszenierung, die dem FAZ-Votum zum Trotz nicht zum abgesagten Berliner Theatertreffen eingeladen wurde – stattdessen hätte der Bochumer „Hamlet“, verdientermaßen, dorthin reisen dürfen. Da wäre etwa Marina Frenk, 1986 in Moldawien geboren und als Siebenjährige nach Deutschland gekommen: Sie gehörte bereits dem Bochumer Ensemble von Elmar Goerden an (2005–2010), spielt und singt in diversen Ethnopopbands und hat auch schon ihren ersten Roman mit dem hinreißenden Titel „ewig her und gar nicht wahr“ publiziert (s. S. 56) – ein ubiquitäres Multitalent. Als solches stattet sie die reiche und übellaunige Witwe Babakina, wirklich eine Nebenrolle, mit einem trockenen Mutterwitz aus. Tschechows Dramaturgie produziert ja episodische Strukturen, in denen jeder und jede die Chance nutzen muss, sich mit ein paar entschiedenen Strichen für wenige vergängliche, aber unvergessliche Momente in den Vordergrund zu spielen. Johan Simons erlaubt sich den Scherz, die gerade nicht aktiven Figuren wie Requisiten in ein riesengroßes Regal im Hintergrund der von Johannes Schütz entworfenen ­Bühne zu räumen. Stumm schauen sie von dort dem Spiel zu. Zu diesen meist Anwesend-Abwesenden gehört auch der spielsüchtige Steuereinnehmer Kosych, den Konstantin Bühler mit seinen stereotypen Sprüchen knapp am Rand einer interessanten Karikatur präsentiert. Sandra Hüller und Jens Harzer in allen Ehren, aber das Bemerkenswerte an diesem Bochumer Ensemble ist ja eben, dass auch mittlere und kleinere Rollen großartig besetzt werden können. In „Hamlet“, um noch einmal den Schauplatz zu wechseln, sind Konstantin Bühler und Ulvi Teke Rosenkranz und Güldenstern (oder Güldenstern und Rosenkranz?), jedenfalls ein eher bizarres, fast nachdenkliches, nicht vordergründig komisches Komikerpaar, keineswegs harmlose Sparringspartner für Hüllers Hamlet.

Den ersten Totengräber spielt eine temperamentvoll-clowneske Jing Xiang, und den zweiten eine etwas affektiert-redescheue Ann Göbel. Stefan Hunstein, auch er ein früherer Münchner Kammerspieler, gibt einen impulsiven und jähzornigen, durchaus herrschsüchtigen König Claudius. Bernd Rademacher, während Anselm Webers Intendanz meist nur in Episodenrollen zu sehen, blüht unter Johan Simons auf: Als kauzig-trockener Polonius, als schluffiger Zauberkönig in „Geschichten aus dem Wiener Wald“, auch als von seiner Frau entmachteter Gutsherr Lebedew in „Iwanow“ – anrührende Porträts von Männern mit Vergangenheit, mehr oder weniger reiner Unschuld, fataler Spottlust und flagranter Melancholie. Denn auch so kann man das Klischee „alter weißer Mann“ ein wenig charmanter umschreiben.

Zu den unbestrittenen Protagonisten am Bochumer Schauspielhaus zählen natürlich Simons’ niederländische Landsleute, seine Ehefrau Elsie de Brauw, studierte Theologin und Psychologin, die in Lot Vekemans’ „Gift“ zu sehen ist. Und Pierre Bokma, ein Mittsechziger, der in der „Jüdin von Toledo“ brillierte und Ende April den König Lear in Simons’ Regie hätte spielen sollen, wenn nicht die Krise dazwischengekommen wäre und diese Premiere in den ideellen temporären Schnürboden geschossen hätte. Und dann noch Guy Clemens, der zwei Rollen in dem Doppelabend „Plattform/Unterwerfung“ nach Michel Houellebecq übernommen hat, sowie der in Brüssel geborene, Französisch sprechende Mourade Zeguendi, der in „Unterwerfung“ mit sardonischem Humor den islamischen Uni-Präsidenten Robert Rediger spielt.

Was Johan Simons mit der Aussage meint, das Theater dürfe und müsse Dinge behaupten, die vielleicht nicht auf den ersten Blick unmittelbar einleuchten oder konventionellen Erwartungen entsprechen, sieht man frappierend an der Besetzung des bra­chialen Fleischers Oskar in Henkels Horváth-Inszenierung „­Geschichten aus dem Wiener Wald“. Mourad Baaiz, 1991 in Brüssel geboren, nordafrikanisch verwurzelt, ist das glatte Gegenteil eines körperlich mächtigen Metzgermeisters, nämlich ein feminin wirkender Mann mit schwermütigem Blick, dessen latent-aggressive Anwandlungen (wenn er seine Braut Marianne mit einem verunglückten Judogriff auf den Donaustrand katapultiert) völlig überraschend und, nach herkömmlichen Begriffen, eher unglaubwürdig in die plane Erzählung platzen. Das muss man erst einmal akzeptieren. Aber diese Behauptung, quasi am entgegengesetzten Ende des Klischees, wirft ein anderes Licht auf die Figur. Deren weiche Seite, ihre Sentimentalität, ist hier einmal nicht die verdrängte Umkehrung eines grobschlächtigen Charakters, sondern es ist umgekehrt: Die unterschwellige Grobheit befreit sich nur ausnahmsweise, an Sonntagnachmittagen, wenn Verlobung gefeiert wird.

Ausnahmeschauspielern wie Sandra Hüller und Jens Harzer zuzusehen, ist eine große Freude. Doch Harzer hat recht: Mögen die beiden auch hin und wieder sich selbst genug sein, wie in Kleists „Penthesilea“, die sie unter Verzicht auf alle weiteren Rollen zu zweit spielen, so ist doch die Idee überholt, es komme nur auf die Besten an, der Rest könne getrost im Mittelmaß verharren. In Bochum ist das ganz gewiss anders. Hat man sich darüber einmal verständigt, darf man bewundern, wie souverän Harzer diesen traurigen, haltlosen, zynischen und empathischen Gutsbesitzer, Arbeitgeber, Freund, Ehemann, Liebhaber seinerseits aus dem Mittelmaß befreit, wie er das Schwanken dieser kleinen Seele austariert und scheinbar unwiderstehlichen Versuchungen preisgibt, bevor ihr letztes Stündchen schlägt.#

Und bewundern darf man, wie Hüller, die überraschenderweise erklärt, das Shakespeare-Stück je zuvor weder gelesen noch gesehen zu haben, mit umso frischerer, unvoreingenommener Energie die Rolle des Hamlet interpretiert. Und wie sie zwar die femininen Züge des Prinzen annimmt und verwertet, wie sie ihm aber auch eine männliche Unerbittlichkeit, Spottlust, sogar Mord­bereitschaft abgewinnt: Eigenschaften eines Menschen, der nicht zu (entscheidungs-)schwach, sondern vielmehr zu intelligent ist für das sattsam bekannte Niveau dieser Rosenkranz-und-­Gül­den­stern-Welt. Hüller hat recht: Man muss das nicht zynisch finden. Hamlet ist ein Spieler, und ein besserer als alle anderen. Gerade deshalb wird er – der Rest ist Schweigen – verlieren.

Wenn die Theater eines Tages ihre Pforten wieder öffnen, wird das Schauspielhaus Bochum nicht nur mit einem vermutlich wegweisenden „König Lear“ aufwarten, sondern auch mit einem musikalischen Abend unter dem zweideutigen Titel „Herbert“. Der Popstar Herbert Grönemeyer, der seine Heimatstadt einst mit der Liedzeile „Du Blume im Revier, Bochum, ich komm’ aus dir“ noch unsterblicher gemacht hat, als sie ohnehin schon ist, trifft auf seinen Namensvetter Herbert Fritsch, der zwar kein Bochumer, sondern Augsburger ist – aber diese kleine Differenz sollte die Vorfreude nicht trüben. //

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