Vom Unterwegssein im Dazwischen
Mehdi Moradpour
von Rieke Süßkow
Erschienen in: Arbeitsbuch 2020: Stück-Werk 6 – Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt (07/2020)
Assoziationen: Akteure
Schaut man sich Mehdi Moradpours Biografie an, wundert man sich nicht über die turbulente Dynamik seiner Texte. Ebenso wie sein Leben vom Unterwegssein geprägt ist – er wuchs in Iran auf und ging mit 21 Jahren nach Deutschland – so ist auch sein Schreiben von einer inneren Unruhe gezeichnet, die beinahe physisch spürbar ist. Seine Suche bewegt sich dabei immer im Dazwischen: zwischen den Welten, den Sprachen und den vermeintlich widersprüchlichen Polen.
In „ein körper für jetzt und heute“ (UA Schauspielhaus Wien 2018) nimmt er uns mit auf einen Streifzug durch eine traumartige, apokalyptisch anmutende Landschaft aus „ideologischen trümmern“, weißen Maulbeeren, vor Öl triefenden Robbenkadavern und leer stehenden Rohbauten, der sich immer mehr zu einem reißenden, überbordenden Sprachfluss entwickelt. Plötzlich wird uns beim Lesen der Boden unter den Füßen weggerissen, und wir werden hin- und hergewirbelt – von einer Situation in die nächste.
Die zwischenmenschlichen Szenen, in die wir hineingesprudelt werden, erlauben uns, kurz zu verweilen. Für Momente erscheint alles wie angehalten. Die Figuren wirken, umgeben von der Gewalt der Metatextebene, in ihren banalen Dialogen beinahe bewegungslos und klein. Dabei gibt es keine klassische Hierarchie. Vielmehr stehen die Pole heilig und profan, laut und leise, groß und klein, Makro- und Mikrokosmos stets gleichwertig nebeneinander. Die Figuren sind nicht per se das maßgeblich handelnde und vorantreibende Element. Vielmehr wirken sie in der ersten Hälfte des Textes noch wie kleine aufploppende Handpuppen, die zwar zutiefst ernst genommen werden, aber ebenso machtlos wie die Leserinnen und Leser in den Strudel des Sprach- und Weltorganismus geworfen sind. Erst im Laufe des Stücks sind die Figuren mehr und mehr für die Dynamik verantwortlich und entblättern ihre Komplexität. Das bedeutet aber nicht, dass sie eine vollständige Souveränität erhalten.
Elija, der aufgrund der politischen Situation (in Iran wird Homosexualität strafrechtlich verfolgt und teils sogar mit der Todesstrafe belegt) eine mehr oder weniger forcierte Geschlechtsumwandlung vornehmen lässt, verlässt gemeinsam mit seinem Liebhaber Fanis und seiner Cousine Mela das Land als Frau, um in Europa einen ganz neuen Körper zu erhalten, der die Grenzen von Männlichkeit und Weiblichkeit überschreitet, um damit auch die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft zu erschaffen. Sie hoffen auf die Chirurgin Dr. Eva Reisser, doch auch sie wird in ihrer eigenen Notlage (sie benötigt eine neue Leber, um weiterleben zu können) ihrer Souveränität beraubt. Stets fragt das Stück nach den Abhängigkeiten des Menschen von der Natur und was deren Überschreitung bedeuten könnte. Erlösung in einer plötzlichen Selbstbestimmungserkenntnis bietet es nicht. Viel mehr werden wir, kaum dass wir kurz das Gefühl von Stabilität erlangt haben, wieder zurückgeworfen in den dynamischen Sprachstrudel, der sich aber keinesfalls elitär, sondern eher sinnlich-poetisch gebärdet. Nie kommen wir irgendwo an – stattdessen werden wir mit einem Gefühl der inneren Unruhe zurückgelassen.
Moradpours Stücke zeichnen sich durch die Abwesenheit von Erlösung oder gar Erkenntnis aus. Sie werfen Fragen auf – ohne dabei vorgefertigte Antworten mitzuliefern und uns somit das Denken abzunehmen, sie konfrontieren uns vielmehr immer wieder mit neuen Perspektiven und Zusammenhängen jenseits der Zentralperspektive. Im Gespräch erzählt mir Mehdi Moradpour, dass die Zentralperspektive insgesamt eine sehr europäische Konvention sei. Die orientalische Kunst- und Kulturgeschichte sei eher multiperspektivisch: „Es gibt kein Zentrum des Betrachtens“. Der Mensch sei nicht wie im Okzident das zentrale handelnde Element, sondern er sei den Dingen ausgesetzt, die auf ihn einprallen. Dabei sei er nicht prinzipiell passiv, aber sich dennoch seiner Abhängigkeit von der Umwelt bewusst.
Moradpours Texte lassen sich nicht auf simple Aussagen zusammenfassen oder reduzieren, sondern bleiben stets ambivalent und mehrdimensional. Sie erscheinen wie komplexe architektonische Gerüste, die durch ihre fließende musikalische Komposition in permanenter organischer Bewegung zu sein scheinen. Trotz der starken hermetischen Form des clusterartigen Netzes haben wir genügend Raum, uns als Gegenüber selbst hineinzuflechten. Moradpour weiß, dass Theater nur in Anwesenheit der Betrachtenden funktioniert, und so wird uns die Rolle der Koautorschaft zuteil.
Auch gibt es im orientalischen Verständnis keine strikte Trennung zwischen Mystik und Naturwissenschaft, wie wir sie aus dem aufklärerisch geprägten Europa kennen. Moradpours große Affinität zu den Naturwissenschaften – in Iran studierte er Physik und Industrietechnik – kommt in seinen Texten immer wieder zum Vorschein. Doch die Beschreibungen von physikalischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten sind keineswegs berechnend oder gar errechnet – sondern sie entwickeln durch ihren assoziativen und intuitiven Charakter, in ihrer Bildlichkeit und Poesie eine rauschhafte, beinahe spirituelle Kraft. Auch hier werden wieder zwei Pole geeint. Man spürt dabei, dass die Architekturen seiner Texte keinesfalls aseptische und geplante Gebilde sind – sie entstehen vielmehr aus einer Suche, die sich Schicht um Schicht in die Tiefe gräbt. Dadurch sind in Moradpours Texten immer mehrere Anfänge zu finden.
„ein körper für jetzt und heute“ beginnt mit einer Art Regieanweisung: einer Aufforderung an das künstlerische Team, vor der Probe Körperübungen zu machen, in denen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten immer wieder neu erprobt werden sollen. Im Grunde beschreibt schon dieser „erste Anfang“ die fundamentale Suche des Stücks. Können die Gesetzmäßigkeiten, in denen wir denken, nicht auch überwunden oder neu gedacht werden? Es sind immer außenstehende Ordnungen, die, im allgemeinen Verständnis als Wahrheit akzeptiert, unsere Körper und politischen Systeme regulieren.
Elijas neuer Körper soll ein universeller sein, einer, der jenseits der Grenzen von weiblich, männlich, aber auch von Mensch, Tier und Maschine liegt. Ein Körper, der Grenzen und Widerstände überwindet. Er wünscht sich einen Körper im Dazwischen, „einen körper ohne ort. aber mit zukunft (…) zwischen hell und dunkel, leer und laut, heilig und viral, hungrig und heiter“, einen Körper als Pforte zu einer neuen, besseren Welt. Nicht ohne Grund ist die Hauptfigur des Stückes nach dem Propheten Elija benannt. Er begreift sich als Märtyrer. Vielleicht könnte dieser neue, universelle Körper auch soziale Ungleichheiten überwinden?
Der zweite Anfang des Stücks stellt Zusammenhänge zwischen Mikrobiologie und dem gegenwärtigen Machtsystem her. „die wüste des kapitalismus: der wegbereiter der schmierigen kriegsmaschinerie gegen den terror: der schrittmacher des konsumterrors. die wüste des radikalen monotheismus: das flache paradies: der zubringer zum klebrigen himmelreich. das erdöl: eine fühlende datenbank: ein 600 millionen jahre altes solares muttergestein aus totem plankton: ein degeneriertes wesen aus irdischen bakterien.“ Je nach physikalischer Wahrheit, die von den jeweils vorherrschenden Theorien bestimmt wird, kann auch eine neue gesellschaftliche Ordnung gedacht werden. „der astrophysiker thomas gold aber stellt 1991 eine neue theorie auf, die einen streit um die entstehung des erdöls auslöst. gold behauptet, öl und gas entstehen nicht aus pflanzen und tieren wie wir sie kennen sondern aus stoffwechselprodukten von bakterien, die in der erdkruste leben. sie sind druckresistent, verwerten kohlenwasserstoff und lieben die hitze. dieses leben ist demnach unabhängig von sonnenenergie, licht und photosynthese.“
Vielleicht sind die Bakterien die eigentlichen Herrscher dieser Welt. „Eine Frage der Optik“, wie Heiner Müller in seinem Text „Krieg der Viren“ schrieb. Im Gegensatz zu uns Menschen sind sie fähig zu jener artenübergreifenden Symbiose, wie Elija sie sich wünscht.
Beinahe volksstückartig legen die Figuren in der Simplizität ihrer Dialoge die Absurdität der Gesellschaft offen. Durch Sprachspiele, Wiederholungen und schräge Situationen wird eine Komik erzeugt, die zugleich nie ihre Tragik verliert. Die leicht verfremdeten Dialoge setzen sich unserem alltäglichen Sprachgebrauch entgegen und lassen uns immer wieder kurz über Skurrilitäten der deutschen Sprache stolpern, zu der Moradpour sicher einen ungehemmteren Zugang hat, welchen er gekonnt zu nutzen weiß. Durch die leichte Verzerrung und Distanz kommen uns die Protagonisten erstaunlich nahe. Die anfangs wie comicartige Pappschnipsel wirkenden Figuren entwickeln sich zu hochkomplexen Charakteren, mit denen wir mitfühlen können, gerade weil sie in ihrer Fehlbarkeit an Zugänglichkeit gewinnen.
Besonders kommt das in „türme des schweigens“ (2017, frei zur UA) zum Tragen. Ein Stück, dass sich in Form einer Familiengeschichte auf verschiedenen Ebenen – formal und inhaltlich – mit Sprachstörungen auseinandersetzt. Unausgesprochene und vererbte Traumata aufgrund von Gewalterfahrung drücken sich hier im Umgang mit Sprache aus. So gibt es eine exzessive Art des Sprechens, ebenso wie Lücken in der Sprache, ein Stottern wie bei Dana sowie die vollständige Abwesenheit der Worte bei dem im Koma liegenden Vater Sperber. Das plötzliche Schweigen des Vaters legt nach und nach die eigentliche Wunde der Familie offen. Auch hier entwickelt sich über die Tragik missglückter Versuche, miteinander in Verbindung zu treten, eine eigene Komik in den Dialogen.
Das Stück ist im Gegensatz zu Moradpours neueren Stücken figurenorientierter, was im Zusammenhang mit dem Thema absolut Sinn macht. Die Bewegung ist weniger wirbelnd und fließend als vielmehr stockend und in sich selbst gefangen, ebenso wie die Familienkommunikation. Sperber und seine Frau Sepi lernten sich im Widerstand der kommunistischen Minderheitenbewegung in Iran kennen. Während Sepi mit Dana schwanger war, wurde Sperber im Gefängnis gefoltert. Jetzt leben sie mit ihren beiden Töchtern in Deutschland und schweigen über ihre Gewalterfahrungen. Doch das Trauma überträgt sich auf die neue Generation. In diesem Fall stammt die zu untersuchende Gesetzmäßigkeit aus der Psychologie:
Man spricht von Türmen, die erst umkippen müssen, damit Traumata aus vorigen Generationen verarbeitet werden können. Ferner ist der Titel eine Anspielung auf den zarathustrischen Totenkult, bei dem die Türme des Schweigens als Himmelgrabstätten dazu dienen, das Fleisch der Leichname von Vögeln abhacken zu lassen. Teile der Leichen werden somit verdaut und geraten wieder in den Kreislauf der Natur. Die Knochen bleiben als unüberwindbare Erinnerung. Hier wird im Mikrokosmos einer Familie ein universelles und urpsychologisches Thema verhandelt, überführt in eine Form, die vor allem körperlich-klanglich spürbar wird.
Der Körper als komplexer Organismus, aber auch soziales Gefüge ist das Gebilde, das Moradpour besonders zu interessieren scheint. „mumien. ein heimspiel“ (UA Theater Konstanz 2016) behandelt unausgesprochene Traumata, die durch die identitätsverändernden Zwänge bei der Flucht, aber auch durch Gewalterfahrungen im sozialen Abhängigkeitssystem eines Asylbewerberheims entstehen. Das Heimmilieu wird hier zu einer Art überdimensionalem Körper, der in seinen sozialen Verflechtungen Schritt für Schritt seziert wird – ebenso wie die Tierkörper, die sich Viv, eine Soziologin, während der Taxidermie fasziniert von innen anschaut.
Struktureller Rassismus und andere soziale Schieflagen im deutschen Asylsystem sind für Mehdi Moradpour, der selbst als politischer Geflüchteter nach Deutschland kam, drei Jahre in einem Asylbewerberheim lebte und nach wie vor als Übersetzer unter anderem für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeitet, ein wichtiges Thema, das vor allem in seinem ersten und figürlichsten Stück von 2012 „reines land“ im Zentrum steht. Mit seinen Erfahrungen nimmt er in der deutschsprachigen Autorinnen- und Autorenlandschaft, die sich der Wichtigkeit des Themas zwar weitestgehend bewusst ist, aber nur selten Berührungspunkte hat, eine bedeutende Rolle ein.
In seinem neusten Text „Attentat oder frische Blumen für Carl Ludwig“ (UA Theater Bremen 2019) widmet er sich erstmalig dem Element des Chores. Der Chor der Staubflocken, die seit dem mächtigsten Vulkanausbruch der Menschheitsgeschichte 1815 im Universum herumwirbeln, übernimmt hier die Erzählperspektive des mit Abstand uferlosesten Textes von Moradpour.
In der deutschsprachigen Theaterwelt tut man sich schwer, Moradpours Texte einzuordnen. Man ist sich beispielsweise uneins, ob sie der Postdramatik zuzuordnen sind oder nicht. Da Moradpour aber ein Suchender bleibt, entzieht er sich jeglichem Definitionsraster. Diese permanente Suche nach neuen Formen, Perspektiven und Polen sowie das immer wieder neue Befragen von Gesetzmäßigkeiten überschreitet Grenzen und verändert die Form seiner Texte jedes Mal aufs Neue. Was ihnen allen jedoch gemein ist, ist die innere Unruhe und die damit verbundene Bodenlosigkeit in der Sprache, die in ihrer klanglichen und bildlichen Kraft einen ganz besonderen Sog ausübt.