Magazin
Der Humor des Tragischen
Das internationale Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin zeigt Produktionen aus Belarus, der Ukraine sowie Bosnien und Herzegowina
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)
Assoziationen: Deutsches Theater (Berlin)
Unheimliches hört dieser Woyzeck aus dem Untergrund. Die Freimaurer? Vielleicht eine andere Untergrundbewegung? Es ist ein besonderer Moment für die Inszenierung aus Minsk, denn sie wird in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin erstmals live vor Publikum aufgeführt, nachdem sie sich bislang nur über YouTube verbreiten konnte. Auch die Umstände ihrer Entstehung sind besondere. Denn das freie Theater Kupalaŭcy, von dem diese Inszenierung stammt, ist aus den Protesten gegen die Fälschung der Wahlergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen im August letzten Jahres hervorgegangen, als eine Gruppe von Schauspielern und Theaterkünstlern das Nationaltheater Janka Kupala in den Auseinandersetzungen mit der Macht verließ. Nun sind sie Geächtete des Regimes Lukaschenko, der im Februar bei einem grotesken Auftritt in diesem Nationaltheater noch selbst vorgegeben hatte, was und vor allem auch wie die Schauspieler zu spielen hätten.
Insofern ist dieser „Woyzeck“ in der Regie von Raman Padaliaka eine mehrschichtige, selbstbewusste Gegenreaktion und damit hier auch eine erhellende Erzählung über die Vorgänge in Belarus. Denn der Soldat Woyzeck ist im Grunde ein Mensch, dem das Gute mit aller Gewalt ausgetrieben wird. Die schnelle Szenenfolge zum Elektro-Beat von Eryk Arłoŭ-Šymkus spielt in greller Schwarz-Weiß-Rot-Optik auf einer Bank vor der Projektion eines tristen Neubaublocks – und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass diese Ausstattung von Kaciaryna Šymanovič auch eine Konsequenz des illegalen Hinterhofgaragen-Theaters der Kupalaŭcys ist. Bezeichnend auch, wie die Zurichtung Woyzecks gezeigt wird: Es ist vor allem der Arzt mit zwei brutalen Gehilfen, der ihn blutig verstümmelt – während Marie gleich von vier Frauen in verschiedenen sozialen Rollen dargestellt wird. Alles ist zeichenhaft, aber nicht plakativ – ein großer, eindringlicher Theatermoment.
Diese gewiss nicht einfach zu realisierende Einladung durch das von Birgit Lengers geleitete Osteuropa-Festival am Deutschen Theater setzte den Grundton der diesjährigen Ausgabe unter dem Titel „Art(ists) at Risk“. Davon gibt es inzwischen leider viel zu viele in immer mehr Ländern. In das Programm eingerückt war auch Kirill Serebrennikows DT-Gastinszenierung „Decamerone“ aus dem vergangenen Jahr, dazu noch eine Koproduktion des Berliner Hauses selbst mit der Regisseurin Ksenia Ravvina und der Schauspielerin Yang Ge, die in mehreren Inszenierungen von Serebrennikow auftrat. Auch in jenem „Sommernachtstraum“, der angeblich nie stattfand und aus dem dann in Moskau der Gerichtsprozess wegen angeblicher Unterschlagung öffentlicher Gelder gegen den Regisseur und Theaterleiter konstruiert wurde.
Ksenia Ravvinas Abend „In a Real Tragedy, It Is Not the Heroine Who Dies; It Is the Chorus“ (nach einem leicht abgewandelten Zitat Joseph Brodskys) meint nun, dass es nicht nur die großen Heldinnen des Kunstmachens sind, die zum Schweigen gebracht werden, sondern auch ihr Chor, mithin das Publikum. Dazu wurden Teile der Inszenierung per QR-Code übers Handy eingespielt, so wie in den sozialen Netzwerken heute üblich. Völlig überraschend sprang die Inszenierung vom Fall Serebrennikow dann mit der real auftretenden Performerin Leicy Valenzuela nach Chile, wo es nicht nur eine harte Diktaturgeschichte, sondern aktuell auch soziale Proteste gibt. Valenzuela führte ihre Geschichte über das Motiv der Solidarisierung mit den Frauen schließlich nach Belarus.
Radar Ost wurde 2018 gegründet und zunächst im Umfeld der Autorentheatertage des Deutschen Theaters veranstaltet. Der Name bezeichnete mehr eine Himmelsrichtung als eine geografische oder gar politische Definition. Einen Schwerpunkt bildete zum Beispiel vor zwei Jahren Georgien; diesmal wurde neben Belarus auch Bosnien und Herzegowina thematisiert mit dem Nachbau eines ganzen Wohnhauses aus der Zeit der Jugoslawien-Kriege durch die Künstlerinnen Maja Zeco und Ina Arnautalic. Es ist die letzte von Lengers kuratierte Ausgabe des DT-Festivals; ab der kommenden Spielzeit wird die Kuratorin und Dramaturgin zusammen mit dem Regisseur Bassam Ghazi die Bürgerbühne am Düsseldorfer Schauspielhaus leiten.
Oft hat Radar Ost Ungewöhnliches gezeigt oder auch koproduziert und damit den hiesigen Blick auf die Theaterlandkarte Europas geschärft. Das trifft im besten Sinn auch auf das Gastspiel „Bad Roads“ vom Kiewer Theater vom Linken Ufer (des Dnipro) zu, für das die ukrainische Dokumentartheater-Expertin und Autorin des Abends Natalia Vorozhbit eine junge Frau in die Kriegsgebiete der Ost-Ukraine schickt. Dort verliebt sie sich in einen gegnerischen Soldaten; und alte Leute wollen nicht mehr vom Fleck, weil ihnen das Schicksal ihres Huhns bedeutender erscheint als die Politik der Weltmächte. Der grausame Stillstand dieses „eingefrorenen“ Konflikts wird in dem schon 2017 entstandenen Stück sehr deutlich. „Bad Roads“ zeigt im Video über der Bühne eine endlose Autofahrt über nächtliche Straßen, während die von der Regisseurin Tamara Trunova inszenierte Live-Szenenfolge sich zwischen Gittern und Mülllandschaften abspielt, wo sie seltsamerweise von einem Humor des Tragischen gewärmt wird. Das ist eine hier unbekannte Temperatur. //