Auftritt
Ruhrfestspiele/Theater Münster/Theater Oberhausen: Ehrliches Erinnern
„And now Hanau“ von Tuğsal Moğul – Regie Tuğsal Moğul , Bühne, Kostüme und Video Marcin Wierzchowski
von Stefan Keim
Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Tuğsal Moğul Theater Oberhausen Theater Münster Ruhrfestspiele Recklinghausen

Das Ensemble trägt Stangen und Schilder herein und legt sie in die Ecken der Spielfläche. Die vier Spielenden richten den Raum ein, während das Publikum schon Platz genommen hat. Das gehört schon zur Performance, sie verwandeln den Ort in ein Forum. Denn das Stück „And now Hanau“ wird nicht in Theatern gespielt. Sondern in Rathäusern und Gerichtsgebäuden, dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Autor und Regisseur Tuğsal Moğul will nicht nur die eh schon Eingeweihten erreichen, sondern so viel Aufmerksamkeit erregen wie möglich.
Es geht um Morde. Morde aus rechtsradikalen Motiven, rassistische Morde. Am 20. Februar 2020 in Hanau. Say their Names: Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz und Vili Viorel Păun. Sie alle lernt das Publikum kurz kennen. Minutiös, sogar sekundengenau rekonstruiert das Ensemble – unterstützt von einem Touchscreen – was in der Mordnacht passiert ist. Der Ton ist unaufgeregt, manchmal emotional unterfüttert, doch alle bleiben sachlich. Denn es geht um mehr als Erinnerung und Trauer. Obwohl das natürlich schon genug für einen Theaterabend wäre. Aber Tuğsal Moğul beschreibt darüber hinaus den Zustand unserer Gesellschaft jenseits der bürgerlichen und intellektuellen Bubbles. Wahrscheinlich wird man nie Verbrechen von Einzelnen verhindern können. Die skandalösen Defizite bei den Ermittlungen dürfen hingegen nicht noch einmal vorkommen.
Einige Angehörige werden von der Polizei wie Verbrecher behandelt. Abgestempelt wegen ihres Aussehens. Es gibt keine Verdachtsmomente, sie weisen darauf hin, dass Menschen aus ihren Familien ermordet wurden, finden zunächst kein Gehör. Dann fasst das Ensemble die vielen Ermittlungsfehler zusammen, die hier passiert sind. Und erwähnt, dass 13 rechtsextreme Polizisten, deren Spezialeinheit später aufgelöst wurde, in der Tatnacht in Hanau dabei waren. All das sind abgesicherte, nachprüfbare Informationen. Natürlich wurde darüber in den Medien berichtet. Zusammengefasst in einer intensiven 90minütigen Aufführung bekommen sie größere Dringlichkeit.
Eng haben Tuğsal Moğul und das Ensemble mit den Angehörigen zusammengearbeitet. Originalzitate aus den Gesprächen und Erzählungen sind in den Theatertext eingewoben. Kurz deutet das Ensemble konkrete Situationen an und wechselt gleich wieder die Ebene, um nicht in ein unpassendes Reenactment zu geraten. Das unterstützt den ehrlichen Grundton dieser Aufführung. Am Ende plädieren die vier Darsteller:innen Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Regina Leenders und Tim Weckenbrock dafür, Straßen umzubenennen, die immer noch die Namen von Menschen tragen, die historisch zweifelhafte Rollen gespielt haben. Und sie gegen die Namen der Opfer von Hanau auszutauschen.
Eine generelle Lösung ist das nicht, vielleicht ein kleiner Schritt, eine symbolhafte Handlung, der viel mehr folgen muss. Denn wenn die Gesellschaft nicht völlig auseinanderbrechen soll, müssen Grundsätze eines menschlichen Umgangs gewahrt werden. Was auch die gnadenlose Verfolgung rassistischer Vergehen bedeutet. Es hat über ein Jahr gedauert, bis der hessische Landtag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hat. „And now Hanau“ zeigt, dass es nicht nur um den Schutz von Minderheiten geht. Sondern um das Selbstverständnis der gesamten Gesellschaft. Die Aufführung hinterlässt Erschütterung über den Zustand, nicht nur der hessischen Polizei. Nicht irgendwann, sondern in einer Vergangenheit, die noch Gegenwart ist. Und eine große Furcht, dass nach den Worten „and now“ bald eine andere Stadt stehen könnte.
Erschienen am 17.5.2023