Theater der Zeit

Look Out

Fest und Protest

Die Schauspielerin und Theatermacherin Mariana Senne sucht den kollektiven Orgasmus

von Friederike Felbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)

Assoziationen: Performance Freie Szene Sprechtheater Akteure

Marianna Senne. Foto Thomas Lenden
Marianna Senne.Foto: Thomas Lenden

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Theatermachen kann ein ganz schön langweiliges und einsames Geschäft sein. Das hat Mariana Senne, die 2014 der Liebe wegen ihre brasilianische Heimat São Paulo verlässt und nach Europa aufbricht, schon gelernt. So lädt sie denn auch in ihrer aktuellen Performance „I love you but I need to kill you now “ ihr Publikum ein, sich gemeinsam an eine lange Tafel zu setzen. Die Arbeit, die im vergangenen Jahr in Amsterdam uraufgeführt wurde, ist eine musikalische, bildgewaltige und höchst persönliche Tour de Force der Performerin über den Kampf zweier Kontinente. Der Tisch, unter den sie gleich zu Beginn kriecht, wird zum Mutterleib. Ihre offensive Nacktheit, die eine Kamera nach draußen trägt, ist gleichzeitig ganz nah und doch so behutsam auf Distanz inszeniert, wie sie selbstverständlich für ihr ganzes Spiel ist. Wenn es nicht so lange her wäre, würde ich sagen: sie erinnert an Susanne Lothar, wie sie in Peter Zadeks „Lulu“ die Treppe rauf und runter prescht, lustvoll, ackernd, immer auf der Suche. Mariana Senne tanzt und singt durch ihre Performance. Ihre Worte leiht sie sich aus von der Philosophin und Aktivistin Silvia Federici, von Frantz Fanon, einem Wegbereiter der französischen Entkolonialisierung, und von Valerie Solanas, der Attentäterin Andy Warhols.

Als Jugendliche in einem Austauschprogramm in den USA bewirbt sie sich für die Gesangsklasse ihrer High School mit dem Lied „The Girl from Ipanema“ – und wird abgelehnt. Ein Glücksfall, denn ihr Vorsprechen als „Agnes of God“ verschafft ihr den Zutritt zur Schauspielklasse, sie trifft auf einen inspirierenden, experimentierfreudigen Lehrer und beginnt nach ihrer Rückkehr ein Schauspielstudium an der Escola de Arte Dramática an der Universität São Paulo. Da, wo der Nachwuchs für Soap Operas ausgebildet wird, gründet sie mit Kommilitonen 1998 die Theatergruppe Cia São Jorge de Variedades, die in Brasilien für ihre sozialen und ästhetischen Experimente berühmt wird. 15 Jahre lang wird ihr Leben von der Reibung und Fusion mit diesen Menschen geprägt. „Find the ethic – fly the aesthetic“ ist das Mantra des Kollektivs, in dem alle künstlerischen Entscheidungen im Konsens getroffen werden – wenn es hakt, orientiert man sich an Kommunikationsformen indigener Häuptlinge. Das Prozesshafte, den unbedingten Willen zur Improvisation und die Nachbarschaft mit den Ausgegrenzten und Armen einer Gesellschaft, in der 70 Prozent der Bevölkerung ums nackte Überleben kämpfen und der Graben zu einer kleinen Elite unüberwindbar ist, all das will sie nicht mehr aufgeben.

Bald wirkt sie als Performerin in internationalen Koproduktionen mit. andcompany & Co engagieren sie für „FatzerBraz“, sie spielt in der Inszenierung von Karin Beier „Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger“, ein Projekt über deutsche Auswanderer in Brasilien, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Stipendien vom Internationalen Theaterinstitut und dem DAAD ermöglichen eine Assistenz bei She She Pop, ein Masterstudium an der Universität Hildesheim und schließlich am Das Theater in Amsterdam. Gemeinsam mit Claudia Bosse und anderen Performern bereitet sie aktuell den Zyklus COMMUNE 1-73 the assembly of different beings am Forum Freies Theater in Düsseldorf vor. Mariana Senne sucht – Kollaborateure, ein Publikum, mit dem sie ringen kann. In Amsterdam trifft sie den brasilianischen Regisseur Rodrigo Batista, beide planen für die Zukunft. In kommenden Sommer kehrt sie zurück nach São Paulo, um dort Theater zu machen – sie drückt die Reset- Taste, um nicht zu vergessen, nicht träge zu werden und ihre Agenda nicht aus den Augen zu verlieren. Hauptsache, sie kommt zurück, denn die Begegnung mit Mariana Senne ist eine Chance und ein Fest. //

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