Theater der Zeit

Rezension

Breiter Überblick mit komplexen Einblicken

Handbuch zum Künstlerischen Puppenspiel 1900–1945

von Gerd Taube

Erschienen in: double 41: Puppe* – Figurentheater und Geschlecht (04/2020)

Assoziationen: Buchrezensionen Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Es ist ein gewichtiges Werk, das Manfred Wegner als Herausgeber mit seinen beiden Mitautorinnen vorlegt. Nicht nur was den Umfang, sondern vor allem was das inhaltliche Gewicht betrifft. Zum ersten Mal sind in diesem Handbuch die Entwicklungen des Künstlerischen Puppenspiels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts detailliert und umfassend dargestellt worden. Das Handbuch versucht das heterogene Phänomen, das sich unter verschiedenen zeit- und kulturgeschichtlichen Einflüssen entwickelt hat und von Persönlichkeiten mit äußerst diversen sozialen und biografischen Hintergründen geprägt wurde, für den Leser fassbar zu machen.

Man muss sich dazu auf die vom Herausgeber gewählte Konzeption eines Handbuchs einlassen, das aus einzelnen, sich in Umfang und Komplexität voneinander unterscheidenden Artikeln besteht. Das Buch folgt einem chronologischen Ordnungsprinzip, daneben gibt es orientierende Kapitelüberschriften, die vor allem für die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs eine Systematisierung der Entwicklungen im Anschluss an die Theaterreform um 1900, die Reformpädagogik, die Kunstgewerbebewegung und das Münchner Marionetten-Theater vornehmen.

Neben biografischen Fakten sind es vor allem die Querverweise auf das Wirken oder die Zusammenarbeit mit Künstlerkolleg*innen, die das Leben und künstlerische Arbeiten der einzelnen Puppenspieler*innen plastisch machen. In den ausführlicheren Beiträgen zu besonders einfluss- oder erfolgreichen Künstler*innen und ihren Bühnen werden ihre künstlerischen Konzepte und Ansichten beschrieben und reflektiert sowie Auskunft über die Motivation für ihre Beschäftigung mit der Puppenspielkunst gegeben.

Das Handbuch zeigt anhand vieler Einzelbeispiele auch die engen Verbindungen von Puppenspieler*innen mit dem Nationalsozialismus und völkischem Gedankengut, oftmals zu eigenem Vorteil, manchmal sicher auch aus innerer Überzeugung. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg keine nennenswerte kritische Auseinandersetzung mit diesen verhängnisvollen Allianzen und die Verstrickungen in die Zielsetzungen der NS-Kulturpolitik gegeben hat, gehört zu den unangenehmen historischen Wahrheiten, die die Herausgeber und Autorinnen des Handbuchs aufdecken und zur Sprache bringen.

Für das Handbuch wurden nicht nur Bestände in den einschlägigen Sammlungen herangezogen, sondern es wird auch auf andere Museen und Archive verwiesen, in denen Puppen, Dekorationen oder Dokumente von und zu einzelnen Künstler*innen aufbewahrt werden. Die Fülle des Materials hat wohl auch dazu geführt, dass in einzelnen Artikeln vor allem die beispielhafte Aufzählung von Inszenierungen, Stücktiteln und beteiligten Künstler*innen dominiert. Wo nur Fakten aufgeführt werden, wird auch das Lesen ab und an etwas ermüdend.

Aber das mindert nicht den Gesamteindruck, denn das Handbuch zeigt die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als eine von Unternehmergeist und künstlerischem Idealismus geprägte Ära des Puppenspiels, vor deren Hintergrund die Entwicklung des Berufspuppenspiels in der Bundesrepublik und der DDR zu betrachten wäre. Hinweise auf die Nachwirkungen der Entwicklungen sind leider viel zu selten in den einzelnen Beiträgen zu finden. Ein Nachwort oder ein mehr inhaltliche Orientierung gebendes Vorwort wird sich so manche*r Leser*in ebenso wünschen wie der Rezensent.

Das Orts-, Personen und Bühnenregister erleichtert das Auffinden von konkreten Informationen. Das Literaturverzeichnis ist gleichzeitig eine Bibliografie zum Künstlerischen Puppenspiel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Anhang und die mannigfachen Querverweise in den Artikeln werden für die weitere wissenschaftliche Nutzung des vielfältigen Materials, das in dem Handbuch ausgebreitet wird, hilfreich sein.

Handbuch zum Künstlerischen Puppenspiel 1900-1945
Deutschland, Österreich und Schweiz, Handpuppen- und Marionettenspiel
Im Auftrag des Münchner Stadtmuseums herausgegeben von Manfred Wegner. 
Mit Beiträgen von Mascha Erbelding, Hana Ribi und Manfred Wegner
München: utzverlag, 2019. – ISBN 9783831647835 – www.utzverlag.de

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