Theater der Zeit

Essay

Warum wir neue Demokratieerzählungen brauchen

Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #03 – Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen!

von Viola Hasselberg

Erschienen in: Theater der Zeit: Radikal anders – Kulturhauptstadt Chemnitz (12/2024)

Assoziationen: Dramaturgie Dossier: Dramaturgie der Zeitenwende Münchner Kammerspiele

Viola Hasselberg, leitenden Dramaturgin und stellvertretende Intendantin der Münchner Kammerspiele. Sandra Singh/Münchner Kammerspiele
Viola Hasselberg, leitenden Dramaturgin und stellvertretende Intendantin der Münchner KammerspieleFoto: Sandra Singh/Münchner Kammerspiele

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Nichts ist ok. Alles ist anders. Klammes Gefühl im Bauch. Angst? Wirklichkeit, die einsickert ins Bewusstsein. 80 Jahre Frieden und steigender Wohlstand, kein Normalzustand. Das „Normale“ kommt nicht zurück, auch wenn wir es uns so gewünscht haben, nach dieser wahnsinnigen Zeit mit Corona, auch wenn wir uns suggerieren, unsere „alte Normalität“ funktioniere weiter mit neuen Geräten. Die Komfortzone ist vorbei, natürlich auch in den Theatern, jetzt geht es um alles. Und keiner weiß, wie es ausgeht. „Zeitenwende“ ist so ein Wort, das suggeriert, irgendwo wären die Voraussetzungen unserer Welt um 180 Grad gedreht worden, und jetzt müsste man einfach eine beherzte Wendung hinlegen, um wieder auf dem richtigen Kurs zu sein. Viel übler, viel bitterer das Eingeständnis, dass sämtliche unserer großen Erzählungen nicht stimmten, und zwar schon lange nicht mehr. Die Zeitenwende ist das Ergebnis ausgeblendeter Wirklichkeiten und Widersprüche. Die wirtschaftliche Erzählung („Wachstum kommt allen zugute, Wohlstand = Konsum = Demokratie“) beißt sich aufs Schärfste mit der wissenschaftlichen Erzählung („Die Beschleunigung unseres Ressourcenverbrauchs ist mörderisch, die Erde ist dabei, kaputtzugehen.“). Alles, was uns Zuversicht und Stolz gegeben hat, weil wir uns gern als Teil des Fortschritts gesehen haben, engagiert für eine weniger ungerechte Welt, dreht sich um, spricht gegen uns. Der „Westen“ ist ein großer Zerstörer, unser Konsum konsumiert endgültig die Demokratie. Es überfordert uns, dies alles mit uns selbst in Verbindung zu bringen. Seit uns auch hierzulande der neue Kriegszustand einholt, die Demokratie plötzlich „wehrhaft“ werden muss, haben wir keinen Kopf mehr fürs Klima. Der Nachfolgebericht des Club of Rome („Die Grenzen des Wachstums“, 1972) konstatiert 50 Jahre später: „Das größte Problem ist heute, dass wir Wahrheit nicht mehr von Lüge unterscheiden können.“ Mit welchen sozialen Techniken eignen wir uns die Welt an? Welches Menschenbild setzen wir voraus? Damit sind wir bei der Kunst oder im Theater. Im Theater geht es darum, dass ich meine Wahrnehmung von Welt hinterfrage. Dass ich Zweifel zulasse. Aber auch darum, dass ich mich berühren lasse, mich verbinden kann, mich erkannt und getröstet fühle. Das führt zu Erschütterungen. Gerade sind wir für Erschütterungen wenig empfänglich, weil wir zermürbt sind und lieber Erzählungen produzieren, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, eindeutige Erzählungen, die Sicherheit versprechen oder klare Feind:innen benennen. Man kann es Wirklichkeitsverweigerung nennen.

„Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“, haben wir uns 2020 beim Start unserer Intendanz an den Kammerspielen vorgenommen. Dieses Leitmotiv stimmt für die Münchner Kammerspiele im Jahr 2024 noch immer, aber es kostet inzwischen deutlich mehr, sich daran zu halten. 2020 stand für uns der Begriff „Multiperspektivität“, der in Jörg Bochows erstem Beitrag dieser Reihe ganz am Ende auftaucht, am Anfang unserer dramaturgischen Überlegungen. Das hatte sicher mit dem Profil bzw. dem Selbstverständnis der Kammerspiele als dem „Theater der Stadt“ zu tun: „Multiperspektivität“ als Ansatz einer dramaturgischen Suchbewegung, möglichst viele, auch marginalisierte Stimmen dieser Stadt hörbar zu machen, sie in Verbindung zu bringen. Die „Verwettbewerblichung“ aller Lebensbereiche ist etwas, das man in dieser Stadt spüren kann. Die Fassade muss stimmen. Die Kammerspiele liegen an einer „Fassadenstraße“, die Maximilianstraße ist eine der teuersten Straßen der Stadt. Unsere Arbeit begannen wir mit einem multiperspektivischen Dramaturgieteam, in dem Kolleg:innen aus Damaskus und Teheran vertreten waren, Spezialist:innen für Inklusion, Tanz und Performance sowie für neue Autor:innenschaften. Unser als Kraftzentrum des Hauses verstandenes Ensemble sollte mit neuem Selbstverständnis Spieler:innen mit körperlicher und geistiger Behinderung einschließen, wir wollten ein zugängliches Theater für ein diverses Publikum werden. Der Umbau geht (zu) langsam.

Nach vier Jahren, in der Halbzeit der Intendanz, würde ich sagen: Gescheitert sind wir häufig dort, wo wir ein auf Theorie betriebenes „Engineering“ der guten Absichten verfolgt haben. Erfolgreich sind wir dort, wo wir sehr langfristig und beharrlich Ziele verfolgen, Unerwartetes entstehen kann und ein Lernen aus Fehlern möglich war. Es gibt sie, die Erfolge einer „die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassenden“, multiperspektivischen Dramaturgie: neues Publikum mit viel Reibung, ein körperliches Theater in vielen Sprachen, tragfähige Allianzen. Langfristige, künstlerische Theaterpartnerschaften („Sisterhoods“ mit Kyiv, Damaskus, Lomé) gehören dazu, wir bauen aktuell ein osteuropäisches Theaternetzwerk zur Frage „How to defend democracy“ zwischen Polen, Litauen und der Ukraine auf. Mit unserem Hausregisseur Jan-Christoph Gockel und einem mitreisenden Teil des Ensembles entstanden z. B. zwei politisch-poetische Stückentwicklungen zwischen München und Burkina Faso bzw. Togo. Sie erzählen die Geschichte der kolonialen Vergangenheit gemeinsam, ohne die Perspektiven zu verwischen oder zu vereinfachen. In der zweiten Inszenierung „Les statues rêvent aussi“ führte das zu einem Theaterabend über die fiktive Rückführung einer geraubten Prinzessin, die als Beutekunst in einem Münchner Museumskeller ausharrt. Ein Abend in afrikanisch-deutscher Besetzung, der von einem afrikanisch-deutschen Regieduo (Jan-Christoph Gockel, Regie, und Serge Aimé Coulibaly, Choreografie) erarbeitet und als Simultanstück in München und Lomé gezeigt wurde – das afrikanische und das europäische Publikum konnte sich über die Live-Schnittstelle im Video beobachten und zuwinken. Diese Sorte von Multiperspektivität innerhalb eines geteilten, gemeinsamen Kunsterlebnisses ist die – technisch aufwendige – ideale Variante des Zieles, aus verschiedenen Perspektiven auf eine ambivalente Gegenwart zu blicken und dabei Empathie auszulösen. Ein weiteres Beispiel war unsere Inszenierung „Antigone“ in leichter Sprache. Die Regisseurin Nele Jahnke probte mit einem gemischten Ensemble behinderter und nicht-behinderter Spieler:innen. Der tradierte Text über verbotene Trauer klang völlig transparent und neu, war plötzlich zugänglich und vor allem konkret für verschiedenste Zuschauer:innen.

Was also kann das Theater in Zeiten der „Polykrise“, in der „Zeit der Monster“ (Antonio Gramsci), in der die alte Welt im Sterben liegt und die neue noch nicht geboren wurde? Wie kommen wir an die Superkraft der „Polymöglichkeiten“, die das aktuell Vorstellbare überschreiten? Gerade scheint der Denkraum immer enger zu werden, wir versinken im Chaos von Anfeindungen und Boykotten. Unser Urteilsvermögen speist sich aus einer Dominanz des binären Denkens und von auf das Zweidimensionale beschränkten Erfahrungen. Oft genug lassen wir dabei die Körper zurück. Das wirkt sich aus auf unsere Demokratie, unser Menschenbild und die Möglichkeit, uns über Kunst und Kultur zu begegnen. Die Historikerin Hedwig Richter, mit der wir für die Kammerspiele zwei Projekte erfunden haben, die sich mit (unterschätzter) weiblicher Demokratiegeschichte beschäftigen, sagt in ihrem letzten Buch: „Das vorherrschende destruktive Menschenbild nährt sich nicht zuletzt aus einer ebenso triumphalen wie zerbrechlichen Maskulinität, die den Menschen, ggf. auch den weiblichen, vor allem im ewigen Kampf um Macht und Stolz sieht.“

Wir brauchen neue Demokratieerzählungen, auch in der Kunst, im Theater. Demokratie ist eine kulturelle Leistung, setzt ein Menschenbild voraus, in dem wir uns für das Wohlergehen anderer interessieren, an Aushandlungsprozesse glauben. Diese Fähigkeit zur Empathie müssen wir irgendwie erlernen und erproben. Das ist die politische Aufgabe für die Künste: uns mit sinnhaften Erzählungen zu inspirieren, die die Wirklichkeit nicht ausblenden oder vereinfachen, die uns Möglichkeiten geben, wieder in Selbstachtung zu leben, es miteinander auszuhalten. Die israelische Soziologin Eva Illouz weist auf die Rolle der Gefühle für den demokratischen Meinungsaustausch hin. Unsere Entscheidungen und Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen sind eben nicht nur an der Vernunft geschärfte Gedanken, sondern ihnen liegen Gefühle zugrunde wie Hoffnung, Angst, Scham, Stolz, Zorn, Neid und Enttäuschung. Was Illouz nahelegt, ist die Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension unserer Gefühle. Mehr als nacheinander alle wichtigen „Themen“ im Theater abzuarbeiten, kommt es jetzt darauf an, die Geschichten hinter den kollektiven Gefühlen aufzuspüren und sie so zu erzählen, dass diese Gefühle annehmbar werden. Oder aber teilbar, wenn es um positive Gefühle geht: Neugier, Großzügigkeit, Kraft. Theater als Ort für direkten emotionalen Austausch in einer Gesellschaft, die von Kontakt überfordert ist, die ihre Hemmschwellen für Hass weit abgesenkt hat. Theater als Startrampe in eine Zukunft der Veränderungen.

Woran arbeiten die Kammerspiele jetzt, was sind die Werkzeuge, welche Perspektiven eröffnen sie? „Themen“, die in „Begleitprogrammen“ verpackt werden, sind es definitiv nicht. Stattdessen versuchen wir, durch eine Praxis des erweiterten Kuratierens einen Resonanzraum rund um und in den Kammerspielen zu schaffen, der für verschiedene vulnerable Gruppen ausgerichtet ist, aber zunehmend auch für Menschen, die im Gespräch bleiben wollen (oder in eines zurückkehren). Das sind kostenlose, mit Menschen aus der Stadtgesellschaft entwickelte Angebote im „Habibi Kiosk“, es geht um Teilhabe, den Vorraum des Theaters. Der „Habibi Kiosk“ etabliert sich als Ort, an dem sich Menschen wahrgenommen und gesehen fühlen, der aber nicht zwangsläufig deren Weltbilder reproduziert. Widersprüche und Konflikte (auch shitstorms!) bleiben nicht aus, wir proben die „Ruhe nach dem Sturm“. Seit dieser Spielzeit programmieren wir unsere Studiobühne, den „Werk*raum“, konsequent mit einem anderen „Betriebssystem“: als schnellere Bühne für Experimente, neueste Dramatik und partizipative Kunst mit eigener Bar im Treppenhaus. Nach den ersten sechs Wochen kann man sagen: Es gibt ein riesiges Bedürfnis des Publikums nach Gespräch und Verstehen und beeindruckende Beiträge von Zuschauenden.

Sicher besteht die Herausforderung, dieses inszenierte Spannungsverhältnis der Perspektiven auf ein Schauspielhaus mit 650 Plätze zu übertragen. Auch dieser Versammlungsraum lebt, wenn jede(r) etwas gibt, Schauende und Spielende. Ich komme auf die kollektiven Gefühle zurück, diejenigen, die vor dem Impuls liegen, aufeinander einzuhacken oder recht zu behalten. Zorn, Enttäuschung, Trauer, Stolz, Scham – wir werden versuchen, sie noch genauer zu fokussieren und „multiperspektivisch“ aufzuschließen, sie teilbar zu machen. Das Theater in polarisierenden Kriegszeiten ist für uns ein Ort, sich mit Erinnerungskultur kritisch und sinnlich auseinanderzusetzen, als Arbeit an der Gegenwart. Wir haben zu wenig Wissen über Geschichte und stehen atemlos in der Meinungskakofonie, ob es um unser Verhältnis zu Russland oder um die blinden Flecken der Nachkriegszeit, um die Kontinuität von Antisemitismus und Rassismus geht, um Beispiele zu nennen, die wir künstlerisch kontinuierlich bearbeiten. Manchmal sind im Theater Zukunftsszenarien nicht darstellbar, sondern lediglich das tröstende Verstehen, wie wir in diese Gegenwart gekommen sind: Kunst als Speicher für Menschlichkeit, die sich nicht nur auf der einen Seite findet. Unter der Regie der jungen litauischen Künstlerin Kamilė Gudmonaitė versammelten wir als musikalisch-tänzerische Gratwanderung „Ха́та – Zuhause“ ukrainische und russische Menschen, die hier in München leben, streng voneinander getrennt in zwei Teilen einer Inszenierung. Die Spannung über den Abgrund war im Zuschauerraum genauso spürbar wie die Verbindungen, wenn beide Seiten über ihren individuellen Verlust von Menschlichkeit und Freiheit reden. Ist das alles zumutbar oder zu schwer, zu wenig hoffnungsvoll, zu wenig lustig oder gut verkäuflich? Die Bilder von morgen sind manchmal einfach, und es bedeutet viel, sie im Theater auch rauschhaft zu feiern: Im Ensembletanzstück „In Ordnung“ stellte die Choreografin Doris Uhlich eine Reihe aus 17 Personen der Größe nach an der Bühnenrampe auf: Der Kleinste war der Schauspieler Samuel Koch in seinem Rollstuhl, die größte Person war ein sehr groß gewachsener Schauspielstudent, dazwischen fand sich irgendwo das älteste Ensemblemitglied Walter Hess (84 Jahre), Ensemblespieler:innen mit Behinderungen, Spieler:innen unterschiedlicher Ethnien. Die Inszenierung bringt die Aufstellung nach Größe, diese (An-)Ordnung, immer hochtouriger durcheinander. Ein Schwarm Bühnentechniker:innen kommt dazu, Menschen und Bühnenbauten, alles gerät in eine atemberaubende Bewegung: Welches Bild ergeben wir zusammen? Nichts bleibt, wie es war.

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