Theater der Zeit

Magazin

Schüsse auf dem Maidan

Das Festival Wilder Osten. Ereignis Ukraine in Magdeburg zeigte neue Dramatik aus dem Land im Bürgerkrieg

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)

Assoziationen: Dramatik Sachsen-Anhalt Sprechtheater Akteure

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Neue Stücke aus der Ukraine vorzustellen, so lautete die Aufgabe des in der vergangenen Spielzeit wohl größten Ukraine-Schwerpunkts im deutschsprachigen Theater. Die Magdeburger Schauspieldirektorin Cornelia Crombholz und ihre Dramaturgen setzten dabei – gefördert mit den für einen intensivierten Kulturaustausch bereitgestellten Mitteln des Auswärtigen Amtes – nicht auf Gastspieleinladungen oder Koproduktionen, sondern darauf, die von Lydia Nagel übersetzten Stücke von ukrainischen Regisseuren mit Magdeburger Ensemblemitgliedern inszenieren zu lassen. Diese Vorgehensweise ermöglichte es der Regie, das jeweilige Stück in deutscher Erstaufführung zu inszenieren. Das ist ein zu begrüßender Sonderfall der Vermittlung hier kaum oder nicht bekannter Theaterautoren aus einem Land im Bürgerkrieg, das aufgrund der Krisen in der Welt und in Europa im Moment wenig beachtet scheint. Muss man daran erinnern, dass der Euromaidan in Kiew mit dem nachfolgenden Krieg im Osten der Ukraine das gleiche Potenzial zur Weltunordnung wie die sogenannte Flüchtlingskrise hat?

Die Ukraine ist mit dem Krieg im Osten und den damit einhergehenden geopolitischen Verwicklungen auf die Weltbühne gehoben worden. Und die jüngeren ukrainischen Dramatiker sind sich inzwischen durchaus bewusst geworden, dass schon ein Sozialmelodram einen aufgeladenen Kontext haben kann. Von den Maidan-und-Donbass-Zeitzeugenstücken, die praktisch die Erfindung des Dokumentartheaters in der Ukraine auslösten, bis zum Aufgreifen von Überspitzungs- und Satiretraditionen nach Gogol streben heutige Autoren nach einer Unmittelbarkeit, die dringliche Themen behandelt und auf die Stilistik der traditionellen Literatur verzichtet. Es gilt das gewaltige Wort im mitunter wirren Bild.

Pavlo Arie setzt in seinem Stück „Am Anfang und am Ende aller Zeiten“ über das Leben nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl auf das Modell eines entkernten Familiendramas. Die Großmutter Prisja lebt mit Tochter Slawa und deren leicht retardiertem Sohn Wowka in der „Zone“. Wowka kennt die Außenwelt nur durch die Besuche von Abenteurern, die ihm eine Nutte mitzubringen versprochen haben, während der Oma schon ab und zu ein Joint aus den Kräutern der Waldselbstversorgung genügt. Diese leicht groteske Anlage hat Regisseur Stas Zhyrkov in die Farben und die Dekoration eines Märchenwaldstücks getaucht, doch unter dieser Oberfläche lauern praktisch alle Traumata der Ukraine: der Holodomor der dreißiger Jahre, die deutsche Besatzung, die Nuklearkatastrophe und das Chaos der jüngeren Vergangenheit – mit klaglosen Worten von der Großmutter in Erinnerung gebracht, die in der Verkörperung von Iris Albrecht beinahe allegorisch zu einer Art „Mutter Ukraine“ aufleuchtet, der man noch bessere Tage am Ende aller Zeiten wünscht.

Tetjana Kyzenko zeigt mit „Die Frauen und der Scharfschütze“ eine durchaus nicht eindeutige Sicht auf die Ukraine und den Maidan. Das Stück der 1977 in Charkiw geborenen Autorin setzt den Scharfschützen Ljoscha und seine Frau Marina, Kunstwissenschaftlerin am Nationalmuseum Kiew, in ein kompliziertes, halb dokumentarisches, halb symbolisches Beziehungsgeflecht. Für die Magdeburger Uraufführung ist außerdem zu vermerken, dass es wohl das erste Stück ist, das den Maidan nicht glorifiziert, sondern den Ablauf der gewaltsamen Auseinandersetzungen auch mittels einmontiertem Polizeifunk hinterfragt und sich den bis heute nicht aufgeklärten Widersprüchen stellt. Waren es allein die Berkut-Sondereinheiten, die das Feuer eröffnet haben? Auch Ljoschas militärische Rolle ist nur schwer auszumachen. Am Ende weiß man, dass er inzwischen in den Krieg im Donbass verwickelt ist und offenbar auf ukrainischer Seite kämpft. Das ist so verworren wie eben auch realistisch – von Oleksandra Sentschuk im Foyer so eingerichtet, dass man durchaus den Eindruck haben konnte, hier verwandelt sich ein Museum in ein Kriegsgebiet. Höchst aktuell. //

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