Theater der Zeit

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Barrie Kosky im Gespräch mit Ulrich Lenz über die Ekstase der Komödie, Erfahrungen in Bayreuth und die japanische Küche

von Barrie Kosky und Ulrich Lenz

Erschienen in: On Ecstasy (02/2021)

Assoziationen: Akteure Musiktheater Ozeanien

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Du hast On Ecstasy 2007 geschrieben. Seither ist viel passiert in deinem Leben …

Es entstand in einer Periode temporärer Heimatlosigkeit: Ich hatte Wien bereits verlassen, wo ich zuvor fünf Jahre lang Co-Direktor des Schauspielhauses gewesen war, der Umzug nach Berlin war bereits geplant, aber zwischendurch bin ich noch mehrfach zwischen Australien und Europa hin- und hergeflogen.

Wenn du auf die seither vergangenen Jahre zurückblickst, inwiefern hat sich – als nun in Berlin lebender Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin – dein Blick auf Theater verändert?

Ich glaube, der kreative Prozess des Inszenierens hat sich nicht wesentlich gewandelt. Was sich verändert hat, ist der Blick von außen auf den Musiktheaterbetrieb. Wenn du als Intendant für 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich bist, öffnet dir das neue Einsichten, manche davon faszinierend, manche durchaus auch erschreckend. Aber wenn man mich fragt, ob das meine künstlerische Arbeit als Regisseur beeinflusst hat, würde ich das ganz klar verneinen. Ich glaube, auf künstlerischer Ebene nähere ich mich den Stücken, die ich inszeniere, seit zwanzig Jahren auf die gleiche Weise.

Und gab es auch Momente der Ekstase als Intendant?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ekstase ist etwas, das voll und ganz mit meinem künstlerischen Erleben und Schaffen zu tun hat. Wenn ich als Intendant die Arbeiten eines anderen Regisseurs an der Komischen Oper Berlin betrachte, dann tue ich das auf eine sehr analytische Weise. Weil ich als Leiter des Hauses meine Hilfe und Unterstützung anbiete. Es wäre in diesem Sinne kontraproduktiv, wenn ich mich vollkommen fallen lassen würde, wie dies für ekstatische Erfahrungen ja letztlich notwendig ist. Ein Intendant sollte nicht nach Ekstase suchen, ein Regisseur schon.

Wenn du das Buch heute schreiben würdest, welche neuen Momente von Ekstase würden Aufnahme darin finden?

Da fallen mir einige ein! An erster Stelle möchte ich vielleicht die Wiederentdeckung der Operette der Weimarer Republik nennen, die unter meiner Intendanz an der Komischen Oper stattgefunden hat. Das umfasst ja ein ganzes Genre, das ich für mich künstlerisch entdeckt habe, um es dann einem interessierten Publikum in Berlin und darüber hinaus zu präsentieren. Das ist vielleicht sogar etwas, das meinen Blick auf Theater, zumindest auf dieses ganz besondere Genre, verändert hat. Es begann gleich im ersten Jahr meiner Intendanz mit Ball im Savoy von Paul Abraham, der vorletzten Operette der Weimarer Republik, Abrahams Abschied vom Genre Operette und von Berlin. Ich erinnere mich noch genau: Als ich bei der ersten Bühnenorchesterprobe im Zuschauerraum saß und unser Orchester unter der Leitung von Adam Benzwi zum ersten Mal diese einzigartige Mischung aus Walzer, Klezmer, Csárdás und Jazz zu spielen begann, da wurde ich durchaus von etwas mitgerissen, das ich Ekstase nennen würde.

Darauf folgte eine ganze Reihe von „ekstatischen Operettenproduktionen“: von Jacques Offenbachs Die schöne Helena über die beiden Oscar-Straus-Operetten Eine Frau, die weiß, was sie will! und Die Perlen der Cleopatra, alle drei an der Komischen Oper, bis zu Offenbachs Orphée aux Enfers bei den Salzburger Festspielen. Sie alle verfolgen die Idee von Ekstase durch Komik. In meinem Buch habe ich über Mahler und Wagner geschrieben, deren Musik meist ernst und schwer ist. Aber Dionysos hat eben zwei Gesichter! Die Ekstase der Komödie fehlt völlig in On Ecstasy. Obwohl auch Operette und Musical eine große Rolle in meiner Kindheit gespielt haben.

Dann fallen mir zwei Produktionen ein, bei denen es eine besondere Verbindung zu den jeweiligen Stücken gab. Die erste ist Jean-Philippe Rameaus Castor et Pollux, die ich zunächst an der English National Opera in London herausgebracht und dann an der Komischen Oper Berlin neu einstudiert habe. Da habe ich zum ersten Mal Rameau für mich entdeckt. Im Gegensatz zu der extrovertierten Ekstase der Operette handelt es sich hier um eine sehr introvertierte Ekstase. Die Transzendenz von Rameaus Musik mutet wie eine barocke Version der Musik zu Parsifal an. Ich liebe Händel, aber Rameau bete ich geradezu an! Da bin ich sicher das Gegenteil zu den meisten Opernliebhaberinnen und -liebhabern. Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe mehrfach Händel inszeniert, auf meine Inszenierung seines Saul in Glyndebourne werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Aber es gibt etwas bei Rameau, das man ansonsten vielleicht noch bei Monteverdi findet, aber eben nicht bei Händel: diese erstaunliche Unvorhersehbarkeit des musikalischen Verlaufs. Bei Händel ist man erfreut, bewegt, überrascht – aber man weiß, wie es weitergeht, die Struktur der Musik mit ihren Da Capos etc. ist ziemlich klar. Man ist vielleicht von einer harmonischen Wendung überrascht oder einer ganz besonders exquisiten Melodie. Aber die Radikalität von Rameaus harmonischen Verläufen und diese sehr besondere Musikalität haben mir eine vollkommen neue Landschaft eröffnet, ganz besonders in Berlin, wo ich das Werk mit Allan Clayton, Günter Papendell und Nicole Chevalier, drei meiner Lieblingssänger, einstudiert habe. Denn um ehrlich zu sein: Um diesen ekstatischen Kitzel durch ein Musiktheaterwerk zu bekommen, bedarf es besonderer Sängerdarstellerinnen und -darsteller mit ganz besonderen Stimmen.

Auch Saul in Glyndebourne hat mich Momente der Ekstase erleben lassen, aber ich denke, das war die Ekstase des Bühnenerlebnisses. Das war der Chor. Dieser englische Chor aus vierzig jungen professionellen Sängerinnen und Sängern, die Händel auf Englisch sangen. Das besitzt eine solche Authentizität, wie man sie sonst vielleicht nur bei einer Wagner-Aufführung in Bayreuth erlebt. Wie dieser Chor in Glyndebourne in meiner Saul-Inszenierung sang, spielte und tanzte, diese Verbindung von Körper, Bewegung und Gesang kam der ursprünglichen Ekstase des griechischen Theaters sehr nahe.

Noch vor dem Beginn meiner Intendanz an der Komischen Oper Berlin liegt die Inszenierung von Rusalka an diesem Haus. Meine Zweitbesetzung der Titelrolle war Asmik Grigorian, mittlerweile ein Weltstar. Als sie den dritten und letzten Akt der Oper, von mir als Traum eines Totentanzes inszeniert, sang und spielte, da habe ich erneut den Rocksaum der Ekstase berührt. Es war einfach unglaublich, wie Asmik das mit ihrem Körper und ihrer Stimme umgesetzt hat. Auch hier war also erneut die Darstellerin der Auslöser von Ekstase für mich.

Sergei Prokofjews Der feurige Engel, den ich an der Bayerischen Staatsoper in München inszeniert habe, ist eine Oper über Ekstase. Renatas Vorstellung von diesem Engel ist, wenn man Text und Musik der Oper folgt, unweigerlich mit einer Form von Ekstase verbunden. Ich habe mit der Sängerin meiner Renata, Svetlana Sozdateleva, endlos darüber gesprochen, was genau Ekstase ist. Hysterie und Besessenheit sind nur ein Teil davon. Die Oper ist ein Beispiel dafür, wie man Ekstase auf der Bühne inszeniert, wenn das Stück genau darüber handelt. Da gibt es für mich eine direkte Verbindung zu Salomon Anskis Schauspiel Der Dybbuk, über das ich in meinem Buch spreche.

Herzog Blaubarts Burg in Frankfurt gehört noch auf die Liste. Ich glaube, Béla Bartóks Partitur bringt mich definitiv an Orte der Ekstase. Ich denke, es ist eines der größten Werke nicht nur des Musiktheaters, sondern der Musik des 20. Jahrhunderts überhaupt. Für meine Inszenierung brauchte ich keine Architektur, kein Schloss, stattdessen gab es nur Blaubarts Körper. Judith bearbeitet diesen Körper, öffnet ihn, um etwas freizulassen. Ich werde nie den Moment vergessen, als meine Judith, die wunderbare Claudia Mahnke, immer und immer wieder auf den Körper Robert Haywards in der Rolle des Blaubart einschlug, bis sich „die fünfte Tür“ als Fortissimo des vollen Orchesters in gleißendem, brutalem C-Dur öffnet. Es ist ein Stück voller Liebe und Traurigkeit zugleich.

Und ganz frisch noch: Salome, ebenfalls in Frankfurt. Salome ist eine geradezu perverse Mischung aus Ekstase, Tod, Ironie, Sadomasochismus und Liebe. Wir haben versucht, aus Salome kein Opfer zu machen, etwa das Opfer sexuellen Missbrauchs durch Herodes. Es liegt so nahe, diese Frau aus einer moralischen jüdisch-christlichen Perspektive zu betrachten. Ich nehme ihre Äußerungen aber ernst und halte sie für ehrlich. Ich denke, sie liebt Jochanaan wirklich. Wie Ambur Braid das in Frankfurt gespielt hat! Sie hat Dinge in ihrem Körper und ihrer Stimme freigesetzt, die ich selten auf einer Bühne gesehen und gehört habe. Ich glaube, manche der Themen, die ich in meinem Buch 2007 angesprochen habe, haben ihren Weg in diese Salome-Inszenierung gefunden. Erneut spreche ich von einer konkreten Sängerin, weil die Darstellerinnen und Darsteller so wichtig sind für meine Arbeit.

Das Buch enthält ein langes Kapitel über Wagner. Es ist entstanden, bevor du den gesamten Ring des Nibelungen in Hannover und bevor du Die Meistersinger von Nürnberg in Bayreuth inszeniert hast. Hat Bayreuth dir einen Moment der Ekstase beschert?

Nein, definitiv nicht. Mein Umgang mit Wagner ist seit damals viel objektiver, analytischer geworden. Ich bin froh, dass ich sehr früh in meinem Leben Tristan und Isolde gehört habe, und zwar in einem Konzert. Wie ich in vielen Interviews gesagt habe: Ich vergebe Wagner alles, wenn ich den Tristan höre! Der Tristan lässt mich all meine persönlichen Vorbehalte gegen den Menschen Wagner und seine Werke vergessen. Mein nächster Wagner danach war Der fliegende Holländer. Und diese beiden Stücke faszinieren mich nach wie vor. Was ich also über den Holländer und Tristan und Isolde geschrieben habe, würde ich heute noch unterschreiben. Obwohl ich weder Tristan und Isolde noch den Holländer noch einmal inszenieren möchte. Ich denke, besser als die beiden Produktionen in Essen kann ich das nicht inszenieren.

Was meine Beziehung zu Wagner verändert hat, war die zwiespältige Zeit der Arbeit an oder besser: meines ganz persönlichen Kampfes mit dem Ring in Hannover. Eine fatale Mischung aus meinen Problemen mit dem Stück, meiner extremen Abneigung gegen die Stadt Hannover, in der ich mich sehr unwohl gefühlt habe, und meiner persönlichen Lebenssituation. Ich fühlte mich damals richtiggehend verloren. Es war eben noch, bevor ich an der Komischen Oper begonnen hatte, die mich auch persönlich wieder ins Gleichgewicht gebracht hat. Ich bin glücklich, dass ich die Tetralogie 2023 noch einmal am Royal Opera House Covent Garden in London mit Antonio Pappano werde inszenieren können. Denn ich habe in Hannover so viele Fehler gemacht, das möchte ich gerne zurechtrücken. Der Grund dafür, das Angebot aus London anzunehmen, war einerseits die Zusammenarbeit mit Pappano und andererseits die Erkenntnis, dass ich das Stück so gut kenne und so genau weiß, worauf man achten muss, dass ich mich nun in einer viel besseren Ausgangssituation befinde als in Hannover.

Dass ich meine Probleme mit Wagner überwinden konnte, dafür ist letztlich Bayreuth verantwortlich. Für mich gibt es keinerlei Ekstase in Bayreuth. Und das ist gut so. Den Meistersingernhabe ich mich mit großer Objektivität genähert. Für mich ist das der einzig richtige Weg, Wagner zu inszenieren. Ich habe nichtsdestotrotz meinen Spaß dabei und es bleibt ein sehr persönlicher Blick auf das jeweilige Werk. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Opern, die ich inszeniere, springe ich bei Wagner nicht in die Welt der Protagonistinnen und Protagonisten hinein.

Ich weiß, dass Wagner dem Publikum und den Sängerinnen und Sängern durchaus eine ekstatische Erfahrung bietet. Und natürlich ist es etwas Besonderes, in Bayreuth zu arbeiten, das leugne ich nicht. Ich bin froh, dass ich das gemacht habe. Und ich bin sehr froh, dass ich dabei diese grandiose Besetzung hatte, allen voran Michael Volle, Johannes Martin Kränzle und Klaus Florian Vogt. Aber meine Herangehensweise war wie gesagt von einer großen Objektivität gegenüber dem Werk und den darin behandelten Themen geprägt. Für mich war das fast wie ein Exorzismus, eine innere Befreiung von verborgenen Dämonen. Denn bei den Wagner-Inszenierungen zuvor hatte ich jedes Mal das Gefühl, da säße bei den Proben immer so eine Art Gargoyle oder Gollum oder Incubus von Richard Wagner auf meiner Schulter und flüstere mir ins Ohr: „Dreckiger Jude! Dreckiger Jude! Dreckiger Jude!“ Es mag verrückt klingen, aber ich hatte wirklich und wahrhaftig dieses körperliche Gefühl. Und weil ich in meiner Meistersinger-Inszenierung den Spieß gewissermaßen umdrehte, indem ich sagte: „Fuck you, ich stelle dich vor Gericht!“, ist dieser kleine Wagner-Gollum-Dämon auf einmal verschwunden. Wir können diese Musik genießen, wir können intellektuell und künstlerisch in diesen Werken versinken, aber wir müssen uns endlich von diesem Wagner-Kult befreien.

… von der mit der Person Wagners verbundenen Ekstase …

Ich weiß, dass es für viele Menschen eine Religion ist. Und Bayreuth ist der Tempel dieser Religion. Für deren Anhängerinnen und Anhänger ist es wie eine Droge. Was für jüngere Menschen die wilde Nacht im Club mit Ecstasy und lauter Musik ist, das ist für ältere Menschen aus bürgerlichen Verhältnissen der Besuch einer sechsstündigen Aufführung in Bayreuth! Ich habe das beobachtet. Ich muss gestehen, dass ich es bei manchen Bayreuth-Besuchen spannender fand, die Menschen in den Pausen zu beobachten, als das, was ich auf der Bühne gesehen habe. Nach meiner eigenen Bayreuth-Erfahrung hat sich mein Blick auf Wagner auf jeden Fall komplett verändert.

Das heißt, du wirst auch in Zukunft nach keinem Moment der Ekstase in einer Oper von Wagner suchen?

Nein, sicher nicht. Wenn das Publikum solche Momente in meinen Inszenierungen erlebt, soll mir das nur recht sein. Aber meine Regiearbeit wird davon nicht bestimmt. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass Objektivität nicht mit dem Fehlen von Emotionalität verwechselt werden darf. Es bedeutet nur, dass ich auf jede Art von persönlicher Identifikation mit den Figuren der Handlung verzichte.

Du sprichst in On Ecstasy von vielen Erlebnissen deiner Kindheit und Jugend. Würdest du sagen, dass Ekstase etwas ist, das vor allem bei der allerersten Begegnung mit etwas faszinierendem Neuem entsteht? Ja, es ist immer eine Art überraschender Überwältigung. Es hat eine sexuelle Komponente. Etwas berührt dich. Wenn du einen bestimmten Klang zum ersten Mal hörst, überwältigt er dich. Er macht etwas mit deinem Körper, mit deiner Seele. Du kannst das noch einmal erleben, aber nichts ist dieser allerersten Erfahrung vergleichbar, wie damals, als ich das erste Mal das Orchester in Ball im Savoy hörte oder zum ersten Mal in Berührung mit der Musik von Castor et Pollux kam.

Werden die Momente der Ekstase weniger, je älter wir werden?

Ja sicher. Weil man sich mit dem Älterwerden verändert. Ich denke, Kindheit und Jugend sind Zeiten großer Freiheit – wenn du es dir erlaubst, dich für Klänge und Bilder zu öffnen, also gewissermaßen die Dinge ohne jeden Filter aufzunehmen. Dein Körper verändert sich, du bildest deine eigene Persönlichkeit aus, du sammelst Erfahrungen, deine Hormone spielen verrückt – es ist eine sehr spezielle Zeit in deinem Leben.

Mittlerweile bin ich über fünfzig. Heute würde ich ein solches Buch nicht mehr schreiben. Ich denke, das Buch ist nicht zufällig unmittelbar nach meinem Weggang aus Wien entstanden. In einer Zeit des Übergangs also. Im Wartezimmer zwischen Wien, Berlin und Australien. Und es ist auch kein Zufall, dass ich es vor dem Beginn meiner Intendanz an der Komischen Oper geschrieben habe. Ich musste es schreiben, denn ich wollte ein paar essenzielle Erlebnisse meiner Kindheit einfangen. Immer noch fragen mich viele Leute: „Wie ist es möglich, dass jemand, der in Australien aufgewachsen ist, Opern in Europa inszeniert und ein deutsches Opernhaus leitet!?“ Das könnte man unhöflich nennen. Warum denn, bitte schön, nicht? Aber wenn ich mir selbst die Frage stelle, dann komme ich eben auf die Dinge, die ich in dem Buch beschreibe.

Wenn heute jemand zu mir käme und sagen würde: „Barrie, wir machen eine neue Reihe. Erster Teil war On Ecstasy. Womit würdest du die Reihe gerne fortsetzen?“, dann würde ich vielleicht das Thema Lachen vorschlagen. Und in zehn oder fünfzehn Jahren würde ich vielleicht über Melancholie schreiben.

Die Momente der Ekstase werden mit zunehmendem Alter weniger, weil die allerersten Begegnungen mit etwas Neuem weniger werden …

Aber sie werden durch etwas anderes ersetzt. Ich höre jetzt andere Musik, als ich sie mit 15 oder dreißig gehört habe. Meine erste Begegnung mit der Musik Robert Schumanns hatte ich in meiner Jugend, aber sie hat mich als Jugendlicher nicht sonderlich berührt. Es gibt in meinen Augen auch nichts Ekstatisches im Werk Schumanns. Aber ich finde seine Lieder, seine Kammermusik, seine Klavierstücke erstaunlich. Diese Musik sagt mir mit 54 wesentlich mehr, als sie es vor vierzig Jahren tat. Ähnlich geht es mir mit der Musik von Maurice Ravel. Boléround La Valse haben etwas Ekstatisches, klar. Diese Stücke habe ich als Jugendlicher natürlich gehört. Aber heute fasziniert mich seine Klaviermusik viel mehr, Stücke wie Gaspard de la nuitzum Beispiel. In unterschiedlichen Momenten des Lebens nimmt man unterschiedliche Dinge in unterschiedlicher Weise auf. Und ich würde diese veränderte Wahrnehmung nicht als Verlust, sondern als Veränderung sehen. Jetzt, mit 54, ist das Thema Ekstase vermutlich nicht mehr so wichtig für meine Arbeit und mein Leben, wie es das vor 15 Jahren war. Dennoch will ich natürlich niemals die Fähigkeit verlieren, Ekstase zu empfinden. Aber es ist wie beim Sex: Sex mit fünfzig ist anders als Sex mit 15. Er ist nicht besser oder schlechter, er ist nur anders.

Letzte Frage: Hattest du je ein kulinarisches Erweckungs-Erlebnis, das mit der Hühnersuppe deiner Großmutter vergleichbar war?

Da muss ich überlegen … Oh ja, auf einem Gastspiel mit unserer Zauberflöte in Japan lud mich der Fernsehproduzent, der unsere Tour finanziert hatte, in eines der besten Restaurants in Tokyo ein. Ein sehr, sehr spezieller Ort. Ich saß mit einer Gruppe japanischer Produzenten und wenigen Leuten aus meinem Team in einem privaten Raum, wo zwei Chefköche nur für uns ein japanisches 15-Gänge-Menü zubereiteten. Das war vermutlich die außergewöhnlichste kulinarische Erfahrung, die ich je gemacht habe. Eine unbeschreibliche Mischung an Geschmäckern und Raffinessen und sensationellen Speisen. Und eine Perfektion vom ersten bis zum letzten Gang. Das war wahrscheinlich das erste Mal nach sehr langer Zeit, dass ich bei einem Essen dachte: „Das werde ich nie vergessen!“ Noch jetzt, wenn ich darüber spreche, habe ich die verschiedenen Geschmäcker in meinem Mund.

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