Theater der Zeit

Eins zu fünfundzwanzig

Bettina Meyers Bühnenräume

von Judith Gerstenberg

Erschienen in: Bettina Meyer – EINS ZU FÜNFUNDZWANZIG – Bühnen Bilder Räume (01/2017)

Assoziationen: Kostüm und Bühne Akteure Bettina Meyer Schauspielhaus Zürich

„Medea“ von Euripides, Premiere am 29.11.2006, Deutsches Theater, Berlin / Schauspielhaus Zürich (2011), Bühne Bettina Meyer, Foto Matthias Horn
„Medea“ von Euripides, Premiere am 29.11.2006, Deutsches Theater, Berlin / Schauspielhaus Zürich (2011), Bühne Bettina Meyer Foto: Matthias Horn

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Ihre Bühnen beschreiben? Bettina Meyer wehrt sich, spricht ungern darüber, vermeidet Interviews, in denen sie ihre Arbeit erklären soll. Es ist nicht wahr, dass alles in Worten gedacht wird, gerade die inneren Vorstellungsbilder decken sich nicht mit der Sprache. Ideen, die sich in ihrem Kopf einstellen, formuliert sie mit den Händen aus. Empfindungen, Fragestellungen, die ein Text oder Stoff aufwirft, Aufgaben, die der Aufführungsort ihr stellt, lassen sie – so sagt sie selbst von sich – zu einem 3-D-Drucker werden. Von Beginn an arbeitet sie ins Modell. Es ist ein eigener künstlerischer und handwerklicher Prozess, der sich da in Gang setzt. Unbewusstes spielt hinein, das motorische Gedächtnis formt und zeichnet, spielt mit Materialien, so lange, bis sich langsam ein Verstehen einstellt. Darum ist die Arbeit am Modell für diese Bühnenbildnerin fundamental. Digitale Hilfsmittel für die Entwürfe lehnt sie ab. Die Umsetzung ihrer Kopfbilder erfolgt in erster Linie haptisch. Selbst die Spielerinnen und Spieler eines Stücks gehen durch ihre Hände. Keine Figürchen aus dem handelsüblichen Modellbaukasten dienen zur Überprüfung der Wechselwirkung zwischen Figur und Raum, sondern typengenaue Ganzkörperporträts der Besetzung, die sie aus Styropor schnitzt.

Die Arbeit im Atelier ist nicht nur notwendiges Werkzeug einer Entwurfsphase, sondern spiegelt Bettina Meyers Selbstverständnis als Künstlerin wider. Sie will an einem geschützten Ort die Welt auseinandernehmen und erneut zusammensetzen, kleine, überschaubare Einheiten schaffen können, 1:25 ist ihr bevorzugtes Maß. Bettina Meyer fügt die verschiedenen Fragmente auf immer wieder andere Weise zusammen, beobachtet, wie sich neue Erzählungen einstellen und sich verändern, wie sich die Einzelstücke verwandeln und nicht mehr nur auf sich selbst verweisen, sondern einander zum Zeichen werden und Einfluss nehmen auf ihr Gegenüber, wie sich eine Sinnhaftigkeit ergibt, die sich bereits durch eine leichte Verschiebung wieder auflösen lässt. Dieses Selbstverständnis bezieht sich nicht nur auf ihre künstlerische Arbeit, sondern gibt auch Auskunft darüber, wie wir die Welt zu begreifen vermögen. Deswegen bleibt in den räumlichen Umsetzungen ihrer Forschungsprozesse das zugrunde liegende Modell sichtbar. Manchmal wirken Bettina Meyers Räume tatsächlich einfach hineingestellt in das Bühnenhaus, so wie der 1:25 Entwurf in den Modellkasten, als könnten sie doch noch einmal etwas anders platziert werden. Sie sind komplette Bauwerke, deren Einzelteile man jedoch wieder auseinandernehmen und neu zusammensetzen kann. Manches Mal wohnt man als Zuschauer dieser Destruktion sogar bei, wie in ihrem Bühnenbild zu Wedekinds Franziska (Theater Basel) oder Donizettis Der Liebestrank (Theater Freiburg).

Es sind Räume, die – nicht immer, aber häufig – auf sich als Provisorium verweisen, sich zur Disposition stellen. Vielleicht geht daher von ihnen immer auch eine gewisse Beunruhigung aus, die im Hintergrund simmert, während im Vordergrund alles in schönster Ordnung scheint.

 

Space Frames

Bettina Meyers Bühnen lassen uns eine schmerzliche Wahrheit erkennen: Kein Raum ist von sich aus vorhanden. Im Gegenteil, nie kann man sich seiner gewiss sein. Er muss der Leere entrissen werden, jedes Mal. Und auch das gelingt nur auf Zeit. Räume sind Konstrukte, Koordinatensysteme, die wir uns künstlich erschaffen, um nicht verloren zu gehen. Im Englischen gibt es den schönen Begriff »space frame«, es ist ein Ausdruck aus der Architektur, doch wörtlich übersetzt und als inneres Bild vor Augen geführt, trifft er auf sehr passende Weise das kompositorische Motiv vieler von Bettina Meyers Arbeiten. In ihm findet sich der Gedanke der unendlichen Ausdehnung und gleichzeitig die Idee, dass es möglich ist, dieser Maßlosigkeit einzelne Stücke abzuringen.

Kneift man bei der Betrachtung ihrer Bühnen ein wenig die Augen zusammen und schaut durch die schmalen Lider, stellt sich eine Unschärfe ein, die das Wesentliche hervortreten lässt: die Linien. Gerade, gekrümmte, senkrechte und waagerechte, Gitterlinien, die als space frames wirken; Rahmungen, doppelte und dreifache Rahmungen, die Winkel bilden, Flucht- punkte markieren. Ein paar Zeichen, die ausreichen, damit es ein Oben und Unten, ein Rechts und Links, einen Anfang und ein Ende gibt; Ränder, die zu Grenzen werden, Raum definieren, ihm ein Außerhalb und ein Innerhalb zuteilen. Diese Linien zerschneiden die Unendlichkeit, setzen Markierungen und lassen den Raum als solchen erst erkennbar werden. Sie dienen als Bezugsachsen, von denen aus sich Positionen und Entfernungen markieren, Rangordnungen ergeben und Verbindungen herstellen, sobald Körper hinzukommen – Menschen wie Gegenstände. Sie stecken einen Platz ab, der die Erwartung weckt, dass auf ihm etwas zur Schau gestellt wird, dass jemand ihn betreten wird. Dieser Platz lässt die Leere erkennen, die gefüllt werden will.

Figur und Raum

Vielleicht, weil Raum etwas erst zu Definierendes und keine Gewissheit ist, gilt Bettina Meyers Suche zunächst dem Elementaren. Ihre Entwürfe sind bestimmt von den grundlegenden geometrischen Formen: Kugel, Kegel, Quader, konkav und konvex sich spiegelnde Hohlkörper im Raum, bzw. Kreis, Ellipse und Rechteck in der Fläche. In ihren Bühnen finden sich einfache Kompositionen von flächigen Formen, oftmals in symmetrischer Beziehung zueinander, in monochromer Farbigkeit, eine harmonische Ordnung. Aus diesen abstrakten Grundelementen entwickelt Bettina Meyer im zweiten Schritt skulpturale Bauten, die von dem künstlichen Bühnenlicht – ein ganz wesentlicher Mitgestalter ihrer Räume – in ihrer solitären Plastizität betont werden und die ihren Umraum oftmals mitthematisieren. Die geometrische Formenpalette des sachlichen, schmucklosen Raumes setzt sich bis in die meist sparsamen Interieurs hinein fort. Diese Form der Ordnung stellt sich der Komplexität der Wirklichkeit entgegen, nichts verdankt sich hier dem Zufall, alles wird aufs Nötigste beschränkt. Doch die Unaufgeregtheit dieser Kompositionen verwandelt sich in dem Moment, in dem eine Spielerin oder ein Spieler hinzutritt. Es entsteht eine Wechselwirkung zwischen Körper und Raum, wie man sie in dieser Deutlichkeit selten wahrnimmt. Sobald ein Mensch den Spielort betritt, verhalten sich die Räume wie ein Perspektiv, sie zoomen die Spieler heran, weisen von sich weg auf das, was sie in ihre Mitte nehmen, heben es hervor und vergrößern es: Alles, was sich in dieser Mitte rührt, jede Bewegung wird zum Ereignis: das Anspannen und Erschlaffen des Körpers, das Heben der Hand, das Krümmen eines Fingers, ein Blick. Dadurch, dass der Mensch als Kontrapunkt zu der stillen Raumanordnung auftritt, wird die physische Kraft, die von seinem Fleisch und Blut ausgeht, besonders spürbar. Ganz offenbar untersteht der Mensch einer anderen Eigengesetzlichkeit als derjenigen des starren Raums. Vor dem entleerten Hintergrund, den fahlen, kühlen Wänden, tritt er plastisch hervor, als wäre er ein bewegliches Ausstellungsstück, isoliert, allein, auf sich selbst geworfen. Sind mehrere Menschen im Raum, so wirken sie dennoch vereinzelt, deren Begegnung nichts Selbst- verständliches hat – im Gegenteil, es ist ihr Aufeinandertreffen, in dem sich das Drama ankündigt. Und so wird auch von den Spielern jeder Aktion auf der Bühne gleichermaßen Achtung wie Scheu entgegengebracht. Nichts passiert »natürlich«, unkontrolliert, »einfach so«. Alles geschieht in dem Bewusstsein, etwas im Theater – dieser Sonderwelt des Lebens – unter Beobachtung herzustellen.

Seelenräume

Durch die Vergrößerung, die die Spieler in Bettina Meyers Räumen erfahren, meint man zu erkennen, was durch ihre Gesichter hindurchscheint, ihre Gedanken und Empfindungen. Und je näher man den Figuren kommt, desto mehr verändert sich das Klima im Raum. Ihre Emotionalität, ihr Leid und ihre Ängste strahlen auf den Raum zurück. Dessen kühle Sachlichkeit evoziert unter diesen Eindrücken beunruhigende Assoziationen, er bekommt eine feindliche Dimension. Es wird offenbar, dass Meyers Räume keinerlei Schutz bieten, weder Rückzugsorte noch Fluchtmöglichkeiten bereithalten. Sie setzen die Spieler den Blicken des Publikums in einer Weise aus, dass dieses sich seiner bedrängenden Rolle bewusst wird. Der Akt des Zuschauens impliziert Gewalt; der Zuschauer entdeckt sich selbst in der Rolle des Voyeurs und entwickelt wechselweise Scham und Lust. Diese Exponiertheit führt dazu, dass die Menschen, die sich in diese Räume hineinbegeben, wie Fremde wirken und dies auch weitestgehd bleiben. Die Räume bieten sich ihnen nicht an. Sitzgelegenheiten sind nicht selten als Klappsitze oder als eingelassene Brettchen in unkomfortabler Höhe vorhanden. Will man kurz ausruhen, klebt man unvorteilhaft an der Wand, muss die Füße strecken, um den Boden zu berühren, oder ist gezwungen, sein Kinn auf den Knien abzulegen. Im Kirschgarten (Deutsches Theater Berlin) ist die Meublage gleich auf Abruf in die Züge eingehängt, allzeit bereit, in den Bühnenhimmel zu schweben. Selbst in den naturalistischen Interieurs wie dem Bühnenbild von Drei Schwestern (Schauspielhaus Zürich) stehen die Figuren wie Fremde neben ihren Möbeln in diesem scheinbar vertrauten Abbild einer Wohnung. Man erkennt plötzlich in der äußeren Architektur innere Seelenräume, Orte verborgener Angst, Orte voll von Sehnsüchten und Begierden. Diese Bühnenbilder vermögen ins Äußere zu wenden, was die Figuren zu verbergen suchen oder nicht aussprechen können.

In diesem Dualismus zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen erweisen sich Bettina Meyers Räume als konstituierend für die Inszenierungen der Regisseurin Barbara Frey. Sie ist ihre engste künstlerische Weggefährtin, für die sie in den letzten zwanzig Jahren an die 45 Bühnenbilder entworfen hat. Ihre gemeinsamen Stationen führten sie vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg über das Theater Basel, die Schaubühne und das Deutsche Theater Berlin, das Residenztheater München, das Burgtheater Wien bis zum Schauspielhaus Zürich. Die Grunddisposition der Menschen in Barbara Freys Arbeiten ist die Heimatlosigkeit (s. S. 197 ff.). Ihre Figuren sind Gefährdete, verletzlich, von tiefer Einsamkeit geprägt. Ihre Inszenierungen untersuchen, wie ein soziales Gefüge entsteht, wie in den Begegnungen, die immer etwas Brüchiges behalten, soziale Reibung kurzzeitig Wärme erzeugt. Die menschliche Verfasstheit und den Kern des menschlichen Zusammenlebens sieht die Regisseurin in der Kunst des Theaters wahrhaftiger gezeigt als anderswo, gerade weil hier das flüchtige Arrangement, die Versuchsanordnung offengelegt wird. Bettina Meyers Räume wissen um die Künstlichkeit einer jeden Sinnhaftigkeit, aber auch, dass sie anders denn als Behauptung nicht zu haben ist. Ihre Räume halten genau dieses Bewusstsein wach. Nicht zufällig bevorzugt die Bühnenbildnerin Transiträume, anonyme Räume des temporären Verweilens: Vorräume, Lobbys (Der Menschen- feind, Schauspielhaus Zürich), die Straße (Die Unbekannte aus der Seine, Schaubühne Berlin), Hotelzimmer (Reigen, Schauspielhaus Zürich), Kellergewölbe (Maria Stuart, Schauspielhaus Zürich, Schiffbau), Orte passagerer Emotionen.

 

Die Kiste

Skulpturale Ausformung des oben erwähnten space frames ist die Kiste als Kubus mit offener vierter Wand – ein wiederkehrendes Motiv in Bettina Meyers Arbeit. Sie teilt den Raum, betont die Figur. Die Kiste schafft ein Bild im Bild, verkleinert den Umraum des jeweiligen Spielers, verschiebt die Proportionen, lässt ihn zum Riesen wachsen oder verzwergen. So am prägnantesten vielleicht in ihrem Bühnenbild zu Medea am Deutschen Theater in Berlin (s. S. 106 und S. 191 ff.).
Die Bühne: ein weißer Kasten. Darin ein weiterer weißer Kasten, erhöht auf einem Sockel, ähnlich einem Schrein, der den Blick auf das zentral platzierte Objekt fokussiert und es zugleich isoliert, indem es die Distanz zwischen diesem und dem Betrachter unterstreicht. Sich verjüngend läuft dieser innere Kasten nach hinten zu. An sei- ner Rückwand setzt sich das Motiv fort als ein schwarzes rechteckiges Loch, ein blindes Auge, das in die Dunkelheit führt. Ein Fenster? Die aufgebockte Kiste hat keinen sichtbaren Zugang. In ihr – quasi als Gefangene – Medea, gespielt von Nina Hoss. Sie ist jenes zentrale Motiv, auf das alle Blicke gelenkt werden. Doch die Schauspielerin ist zu groß für das Maß dieser Kiste und so kündigt sich allein durch diese Disproportion der gewaltsame Ausbruch aus der Enge schon zu Beginn an. Er ist zwangsläufig. Die Beschränkung des Bewegungsspielraums dieser Frau schmerzt auch beim Zuschauen.

Als naturalistisches Zitat, quasi als Installation: ein voll- möbliertes Zimmer, hier mit ausdrücklich ausgestellter Patina: Wasserfleck an der Decke, Fettspuren am Herd. Es ist nicht der Versuch, einen realen Ort abzubilden, sondern ein Zeichen, ein Spiel mit den vertrauten Dingen, die eine monströse Aura bekommen: sechs Quadratmeter komprimierter Lebensraum, in dem die Utensilien für den Tagesablauf bereitstehen, deren Benutzung er je- doch ebenso wenig wie den aufrechten Gang ermöglicht. Die Anwesenheit des Körpers der Spielerin enttarnt ihn als Illusion, deckt die verkürzte Perspektive auf, zeigt, dass er auf neunzig Prozent verkleinert ist. Der nicht benutzbare Herd ist ein Relief wie die ganze Küchenzeile, die Rückwand mit den Regalen und Flaschen ist nur ein Foto. Das, was im leeren Raum als perfekte optische Täuschung funktioniert, fliegt durch die Anwesenheit der Spielerin sofort auf. Davor, dahinter, um dieses Bild herum: weißer Umraum, den die übrigen Figuren nach- einander betreten. Sie schauen hinein zu Medea wie wir Zuschauer auch. Die Rahmung von Medea ist der erste Wahrnehmungsfilter, die Rahmung der übrigen Spieler durch den Bühnenraum ein zweiter und so schauen wir Betrachter uns beim Schauen zu.

Im Laufe der Vorstellung erkennt man, dass die Wände von Medeas Gehäuse nicht die Festigkeit haben, die sie suggerieren. Plötzlich ploppen Körper und Gliedmaßen hinein und das scheinbar banale Zimmer verwandelt sich in einen Ort des Albtraums. Bettina Meyer spielt bewusst mit dem famosen Effekt des Magiers, der einen Menschen unverhofft aus einer zehn Zentimeter dicken Wand auftreten lässt. Sie provoziert das Staunen, doch nur wenige Minuten später enttarnt sie den Zaubertrick und beleuchtet die elastische Membran im Moment ihres Zurückschnellens. Das, was dieser Raum der Spielerin zur Verfügung stellt, sind Angebote auf Zeit, Momente, in denen sich verborgene Bedeutungen ins Sichtbare stülpen.

Medeas einzige Waffe, nachdem ihr das physische Handeln verwehrt ist, ist die Sprache. Die Beschränkung, die ihr der Raum auferlegt, ermöglicht die gesteigerte Konzentration auf eben jene sprachlichen Vorgänge, deren Bedeutung Barbara Frey in ihrer Inszenierung Schicht für Schicht freilegt.

 

Inversion

Zehn Jahre später findet sich dieses Bühnenbild in der Box des Schauspielhaus Zürichs in leicht veränderter Form und mit verblüffend anderer Wirkung wieder: Sind im Medea-Bühnenbild die Konturen der Kubaturform- und inhaltsstiftend, so spielt Bettina Meyer hier mit dem Verschwinden aller Konturen. Der Blick findet keinen Halt. Er schaut in ein schwarzes Loch. Ein Gazevorhang verschluckt alle Raumränder, schwarze Auslegeware jedes Geräusch. Gewöhnt sich das Auge langsam an die Dunkelheit, sieht es einen schwarzen Kubus, einen schwarzen Kasten, in ihm einen weiteren schwarzen Kasten – wieder mit verstecktem Zugang, dieses Mal zweigeschossig. Unten das Reich des Perkussionisten Fritz Hauser, dessen Klänge der Zeit ein Maß geben, sie erlebbar werden lassen. Oben in dem scheinbar im Raum freischwebenden Geschoss steht nichts als ein Bett, ein Einzelbett, schmucklos, einfach, ein Rechteck. Wieder ein Spiel mit der Form. Und ein Symbol: das Bett als Inbegriff des Privaten. Lichträume blenden scheu auf. Die Spieler agieren wie Figuren eines ›ballet mécanique‹, sich der Vergeblichkeit des Daseins überlassend, doch nicht ohne die Hoffnung, der Sinnlosigkeit vielleicht doch entkommen zu können, und sei es durch eine Psychose. Vorne am Bühnenrand – man ist versucht, »Bildrand« zu sagen – ins Eck gesetzt eine Bank, ein Sitzmöbel ohne Lehne, ein weiteres schmales Rechteck als Pendant zum Bett, unter einer fahlen Laterne. Sie lädt lediglich zum temporären Verweilen ein, eigentlich lädt sie gar nicht ein. Sie ist eine Büßerbank, die jede Regung ausstellt: Die Anspannung des Körpers in der Erwartung von etwas Unbestimmten, die Erschlaffung, wenn die Enttäuschung von ihm Besitz ergreift. Jeder darf ihn in diesem intimen, schambesetzten Moment begaffen. Es ist – im Gegenteil zu Medea – ein Stück ohne Worte, ganz aus Klängen und Bildern, surrealen Tableaus: Nachtstück lautet der Titel und es widmet sich dem Unerwünschten, Abwegigen, Verdrängten (s.S. 7 ff.). Dieses Mal wird die Illusion des unerwarteten Auftritts, der plötzlichen Präsenz, die hier mithilfe eingelassener Drehtüren erzeugt wird, nicht zerstört. Ausgangspunkt dieser Arbeit war ein Bild von Edward Hopper, Hotel Room, das die Regisseurin Barbara Frey zur ersten Besprechung mitbrachte.

Tatsächlich sind die Werke Hoppers für Bettina Meyer immer wieder Inspirationsquelle für ihre Bühnenbilder. Sie suchen das gleiche Klima und ähnliche Perspektiven, sie spielen mit dunklen Öffnungen, die wie Augen wirken, sie ermöglichen segmentierte Einblicke in Räume und zeigen Menschen hinter Fenstern. In Die Unbekannte aus der Seine (Schaubühne Berlin) spielt Bettina Meyer mit dem Effekt, das Bühnenbild sei Bestandteil der Architektur des Theaterraums. Künstlich ahmt sie den Beton nach, kopiert ein Berliner Wohnhaus, in dessen beleuchtete Innenräume wir wie Spaziergänger von der Straße hineinschauen (s. S. 132 ff.). Um die Täuschung der »falschen« Architektur zu perfektionieren, installiert Bettina Meyer auch solche Fenster, die, würde man sie öffnen wollen, auf die Brandmauer stoßen. Manch einer hat nicht unterscheiden können, was echt und was künstlich hinzugesetzt war. Es ist ihr Spaß an der Manipulation, der hier gegriffen und den sie besonders in ihren Bühnenbildern an der Schaubühne gepflegt hat, wo die außergewöhnliche Architektur des Theaterraums dazu einlädt.

Ein ähnliches Spiel mit der Inversion wie in Medea und Nachtstück betreibt Meyer mit ihren Bühnenbildern zu Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt und Richard Wagners Der fliegende Holländer (s. S. 46 ff. und 80 ff.). Beides sind wieder Kisten, einmal beige, einmal stahlgrau. Es sind klaustrophobische, trichterförmige Räume, mit einem Spalt auf Augenhöhe der Spieler in den Wänden. Aus diesem werden sie in der einen Inszenierung angeglotzt und beobachtet, in der anderen bricht durch ihn als Projektion die Außenwelt herein, Himmel und Wetter. Man ahnt, es ist das Innere eines Kopfes, in den der Zuschauer blickt, in die kaum zu stoppenden Irrläufe der Erregung, die sich hinter einer seltsam starren Maske verbergen.

Es sind Räume, die den Kampf um die beste Spielposition provozieren, denn nur an wenigen Stellen fliegt die Illusion von Tiefe nicht auf. Je weiter hinten der Spieler agieren muss, desto klarer zeigt sich, in welch künstlicher Anordnung er sich befindet: die Wände rücken näher, die Perspektive verzerrt sich, der Raum schließt sich enger um den Körper. Durch dieses Spiel mit den Proportionen ermächtigt Bettina Meyer den Raum zum Mitspieler.

Inseln

Die Kiste als Bild im Bild, dieses benannte wiederkehrende Motiv (beispielweise auch in Liliom (Burgtheater Wien), Stiller, Messer in Hennen (beide in der Box des Schauspielhauses Zürich), Rumor (Oper Antwerpen), Invocation (Oper Zürich), La Rosinda (Musikfestspiele Potsdam)), verhält sich im Raum wie eine Insel. Sie kapselt sich ab von ihrer Umwelt, ist nicht ohne Weiteres erreichbar. Sie bestimmt sich als Zentrum, von dem aus sich der Abstand zur Peripherie bemisst. Dieser Art Inseln, abgezirkelte Spielflächen, gibt es in Bettina Meyers Bühnenbildern auch in anderer Form. Etwa als Sofaelemente zwischen Koniferen in Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (Theater Basel), als leuchtendes Podest inmitten eines Waldes in Malaga (Schauspielhaus Zürich). Beides sind Uraufführungen von Texten von Lukas Bärfuss, dem Bettina Meyer in ihrer Arbeit nicht nur wiederholt als Autor, sondern auch in ihrer Züricher Zeit als Dramaturg begegnet ist. Gemeinsam mit ihm und der Dramaturgin Katja Hagedorn entwickelte sie das Projekt Alles muss weg! 9 Tage urbaner Ausverkauf, in dem sie in der Schiffbauhalle, einer ehemaligen Turbinenhalle, die seit 2001 Spielstätte des Schauspielhauses Zürich ist, ausrangierte Bühnenbilder aus dem Fundus holte, sie in einen neuen Zusammenhang stellte, Künstler einlud, sie neu zu bespielen, zu verändern, weiterzuentwickeln, um in ihnen die Gentrifizierung des Stadtteils zu thematisieren, in dem sich die Schiffbauhalle befindet, Kreis 5 (s. S. 70 ff.). Hier tritt der Gedanke des »borrowed space«, der viele ihrer Entwürfe bestimmt, deutlich hervor. Räume als temporäre Ausformulierungen von Welt, die man erstellt, besucht und wieder verlässt. Ihre Hinterlassenschaft: die Erinnerung, das Zitat, eingefangen in den Einzelteilen. Neu zusammengesetzt entfalten sie eine neue Geschichte.

 

Collagen

Alles muss weg! 9 Tage urbaner Ausverkauf war eine großräumige plastische Collage. Die Collage als künstlerisches Prinzip findet sich auch in vielen ihrer anderen Arbeiten wieder, und zwar überwiegend in denen, die auf den ersten Blick wie naturalistische Abbildungen anmuten, etwa Molières Menschenfeind (Schauspielhaus Zürich) oder Oscar Wildes Der ideale Mann (Burgtheater Wien), sich bei näherem Hinsehen jedoch als heterogen in ihren Bestandteilen entpuppen, nicht nur in Muster und Farbigkeit – diese Male wird offensiv, in einer Überfülle, mit diesen Elementen gespielt –, sondern auch in ihrer Materialität. So ist in Der ideale Mann das Bühnenbild eine Kopie der Feststiege im Burgtheater, aber nur auf einer Seite ist es dreidimensional gebaut, die andere Seite ist ein Trompe l’Œil. Das Abbild vom Abbild und die Spieler sind aufgefordert, sich virtuos durch diese verschiedenen Stufen der Scheinwelt zu bewegen. Auch hier tritt dem Betrachter wieder das Modell vor Augen, der Arbeitsprozess, in dem die eine Form oder Farbe die andere provoziert, eine Idee sich materialisiert, Gestalt annimmt. Die Collage hält den Akt des Schaffens, die Arbeit im Atelier lebendig: die Konstruktion einer zusammenhängenden Welt durch das Zusammenkleben verschiedener unzusammenhängender Fragmente anderer Welten.

Zeit einfrieren

Viele von Meyers Bühnen wirken wie Orte des Stillstands, in denen die Zeit eingefroren, das Kontinuum unterbrochen, ein Bild eingefangen wird. Die Welt wirkt domestiziert. Ihre Bühnenbilder schieben sich wie ein Hindernis in den Blick, zwingen zum Innehalten. Dies verleiht ihnen auch etwas Skulpturales. Man muss darauf achten, sich nicht an ihnen zu stoßen. Das Moment dieser Störung oder auch Verstörung hat bei Bettina Meyer Prinzip. So bereits in abgewandelter Form in ihrer ersten Arbeit. Sie fand nicht auf einer Bühne statt, sondern auf einem geschichtsträchtigen Areal in Hamburg-Rahlstedt, auf dem stillgelegten Schießstand Höltigbaum (s. S. 162 ff.). Hier balanciert ein Kinderwagen in schwindelerregender Höhe auf dem Gesims einer Schutzwand gegen Querschläger und stürzt an immer gleicher Stelle in die Tiefe. Ein Volksempfänger pendelt als überdimensioniertes Metronom am Rande einer blühenden Wiese, aus der, wenn man über sie hinwegläuft, Stimmen dringen. Ein Schuppen voller leerer Patronenhülsen, die mit akribischer Sorgfalt in eine undurchsichtige Ordnung gebracht wurden. Ein einsames Haus auf freistehendem Gelände, in dessen Fenster ein Schild DAHEIM verspricht. Ein Mann, der als Schießscheibe aus der Erde gekurbelt wird in ein Feld von Levkojen. Es sind dies nur einige der Traumbilder, die Meyer auf dem Gelände installiert hat, Objekte und Bilder, die den Lauf der Zeit anhalten, einen Pflock hineinschlagen, an dem sich der Blick verfängt und ihn hindert, achtlos über die sich ihm darbietende Landschaft zu schweifen. Es sind Erinnerungsmale gegen das Vergessen, Ausdrücke einer Gefühlslandschaft, die aufbegehrt, um sich Aufmerksamkeit zu leihen.

Falt- und klappbar

Zum Schluss erwähnt seien noch die Räume, in denen Bettina Meyer ihren Konstruktionsprozess tatsächlich zum Thema macht, ihn offenlegt und ihre Räume vor unseren Augen entstehen lässt, Räume, die sie für die musiktheatralischen Abende Ruedi Häusermanns gebaut hat – etwa für Der Hodler, Robert Walser oder Vielzahl leiser Pfiffe (alle Schauspielhaus Zürich). Ihnen wohnt ein besonderer Zauber inne. Bei Der Hodler (s. S. 88 ff.) stellte sich die Aufgabe, wie in die Welt des Malers eingetaucht werden kann, ohne seine Gemälde zu zeigen. Der Regisseur erinnert sich: »So entstand die Idee, seine [Hodlers] Motive, z. B. die Bergzüge, als Zwischenstationen durch scheinbar zu- fällige Arrangements von einzelnen Bühnenbildteilen entstehen zu lassen. Die Spieler, auch die Musiker, haben Wände auseinandergesägt, aufeinandergestapelt, angelehnt, abgelegt, umhergetragen und in diesen Verwandlungen nebenbei flüchtig die Kunstwerke zitiert. Außerdem übertrugen die Mitwirkenden über den Abend am Boden in einzelne Kästchen des Rasters, das uns die stabilisierenden Holzlatten der Kulissenwände schenkten, eine Zeichnung Hodlers. Dieses Verfahren verwies zugleich auf die Technik des Malers zur Übertragung vom Kleinen ins Große, das wir hier umgekehrt anwendeten. Ganz zum Schluss hatte sich die Bühne durch eine letzte Verschiebung – das Bild wurde hochgezogen und zum Plafond – in den Raum von Hodlers größtem Erfolg, den Ausstellungsraum der Secession, verwandelt, in dem dasselbe Werk nun in Originalgröße hing und an dem die Zuschauer beim Verlassen der Veranstaltung vorbeigeführt wurden. ›Großzügige Leihgabe eines anonymen Sammlers‹ stand klein darunter.« (zit. nach: Ruedi Häusermann. Umwege zum Konzert – Eine Werkschau, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2015) Oder in Vielzahl leiser Pfiffe (s. S. 58 ff.), einer inszenierten Wanderung durch die Werkstätten, das Lager und das Tonstudio des Zürcher Schiffbaus, die immer wieder ihren Weg über die Spielstätte »Box« nimmt, die man im leeren Zustand am Beginn des Theaterabends vorgefunden hat. Staunend kann man den Etappen zusehen, wie sich dort Schritt für Schritt ein Konzertsaal aufklappt, an dünnen Seilen hochgezogen, als sei er eine Faltfigur aus dem Modellbaukasten. Am Ende ist nicht nur eine komplette Konzertbühne, eingerahmt von einem Portal, entstanden, sondern auch der Zuschauersaal bestuhlt – doch auch dieses Bild, ahnt man, ist nur eine Leihgabe auf Zeit, um ein gemeinsames Erlebnis zu ermöglichen, bevor man sich wieder vereinzelt.

So wie Meyers Räume sich aufbauen, so sind sie auch wieder zusammenklappbar, zerlegbar – als hätte es sie nie gegeben. Doch wenn man anschließend aus dem Theater auf die Straße tritt, hat man den beunruhigen- den Eindruck, sich auf einmal selbst in einer Modelllandschaft zu bewegen.

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