Auftritt
Theater Heidelberg: Erbengeneration ohne Sinn und Verstand
„König Lear – Der letzte Gang“ von Pavlo Arie / nach einer Idee von William Shakespeare / aus dem Ukrainischen von Sebastian Anton (UA) – Regie Stas Zhyrkov, Bühne und Kostüme Lorena Diaz Stephens und Jan Hendrik Neidert
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Stas Zhyrkov Pavlo Arie Theater und Orchester Heidelberg

Vom Verfall der Macht handelt William Shakespeares Tragödie „König Lear“ aus dem Jahr 1606. Der ukrainische Drehbuchautor und Dramatiker Pavlo Arie hat die Geschichte des alternden britannischen Königs in die Gegenwart übertragen. Zwei böse Töchter machen dem Mann, der sein Gedächtnis verliert, das Leben zur Hölle. Die dritte verstößt er, weil er ihre lesbische Liebe nicht versteht. Am Theater der Stadt Heidelberg spielt der Autor und Regisseur Stas Zhyrkov mit Motiven aus Shakespeares Stück. Der Fokus ist dabei aktuell. Aus dem König wird in „König Lear – Der letzte Gang“ der Besitzer eines Restaurantimperiums – eine mögliche moderne Entsprechung monarchischer Herrschaft? Der Fokus jedenfalls liegt auf der Demenz des alten Mannes sowie der damit einhergehenden Verzweiflung, auch seines Umfeldes.
Mit großen Gesten und im eleganten Zwirn betritt Hans Fleischmann den Marguerre-Saal des Heidelberger Theaters. Das Publikum horcht auf, als er von seinem erfolgreichen Restaurant erzählt. In der Schrankwand des mondänen Lokals sind die Flaschen mit Spirituosen ordentlich und repräsentativ sortiert. Lorena Diaz Stephens und Jan Hendrik Neidert inszenieren mit ihrem Bühnenbild eine Erfolgsgeschichte. Dass Lears gastronomisches Imperium floriert, ist leicht zu erkennen. In diesem Setting feiern die Kinder den Geburtstag des Familienoberhaupts. Mit Tröten und Hütchen huldigen sie dem Vater. Dass diese Zuneigung nicht echt ist, legt Regisseur Zhyrkov schnell offen. Die älteste Schwester Goneril (Henriette Blumenau) und ihr Mann Albany (Hendrik Richter) sind mit ihren waghalsigen Geschäften beim „Krypto-Crash“ gescheitert. Da haben sie ihr ganzes Vermögen an die Wand gefahren. Ihre einzige Chance ist, die Gunst und damit das Vermögen des Alten zu gewinnen. Ums Geld geht es auch der mittleren Tochter Regan, die Lisa Förster als gnadenlose Abzockerin porträtiert.
Die Tochter Cordelia ist zwar Vaters Liebling, doch ihre lesbische Beziehung gefällt dem Alten nicht. Nele Christoph spielt den Identitätskonflikt mit Hans Fleischmann stark aus. In den Szenen zwischen dem Vater und seiner verlorenen Lieblingstochter knistert es. Ihre Partnerin Françoise zeigt Vladlena Sviatash stark und abgeklärt. Die beiden Frauen trotzen der patriarchal strukturierten Welt der Väter.
In den Beziehungsgeschichten überzeugt der moderne „Lear“. Großartig interpretiert Hans Fleischmann den alten Mann, der die Kontrolle über sein Leben verliert. Für seine Demenz findet der Schauspieler, dem tiefschürfende Charakterrollen liegen, berührende Bilder. Hilflos irrt der grauhaarige Hüne auf der Bühne umher, die einst sein Restaurant und sein Reich war. Weil seine Töchter das Imperium mit ihrem Eigennutz an die Wand fahren, fallen die massiven Regalwände auseinander. Bohdan Lysenkos fiebertrunkene Bühnenmusik spiegelt die entsetzliche Verwirrung des Alten.
Die Krankheit des alternden Mannes zeigt Aries sehr freie Shakespeare-Adaption stark. Weniger überzeugend verknüpfen er und Regisseur Zhyrkov dagegen die Machtkonstellationen, die das Stück des englischen Klassikers so faszinierend machen. Zwar lässt Fleischmann in der Rolle des Lear immer wieder Zitate aus dem Original fallen. Die Motive aber bleiben zu stark an der Oberfläche. Letztlich scheitern die Töchter daran, ihren Vater in Würde altern zu lassen. In den Dialogen mit seinem Verbündeten Gloster, den Andreas Seifert spielt, zeigt Lear sein wahres Gesicht. Die beiden Männer leben noch immer im Glauben an ihre einstige Autorität. Die dekonstruieren sie in den Gesprächen, die längst nicht mehr zukunftsgerichtet sind.
Pavlo Aries Figuren haben zwar durchaus eine tragische Fallhöhe. Doch die Charaktere sind so schlicht und verknappt gezeichnet, dass es dem Stück „König Lear – Der letzte Gang“ an Tiefe fehlt. Regisseur Stas Zhyrkov versucht erst gar nicht, diese Leerstellen aufzufüllen. Dass die erbitterten Kämpfe der Töchter doch etwas Fröhliches und Unbeschwertes haben, ist Zhyrkovs Regiekunst zu danken. Er bringt in Heidelberg eine Familienkonstellation auf die Bühne, wie sie aktueller nicht sein könnte. So wie Lear enden viele Väter und Mütter in Altenheimen. Und die Kinder verprassen ihr Erbe, das sie in Jahrzehnten aufgebaut haben, ohne Sinn und Verstand.
Erschienen am 10.7.2025