Protagonisten
Adler werden
Vor 40 Jahren starb der italienische Filmregisseur, Dichter und Publizist Pier Paolo Pasolini
von Peter Kammerer
Erschienen in: Theater der Zeit: Tilmann Köhler und Miriam Tscholl: Montagswirklichkeit Dresden (11/2015)
Assoziationen: Akteure Dossier: Bühne & Film
Pier Paolo Pasolini (1922 bis 1975) ist als Dichter geboren. Zeit seines Lebens gibt er an bestimmten Wendepunkten seinen Lesern Rechenschaft über die Erfüllung dieses Auftrags. Sein erstes Gedicht schreibt er als Zweitklässler im Jahre 1929. Seine Mutter zeigt ihm, wie man ein Gedicht selbst machen und nicht nur in der Schule lesen kann. In einem Sonett erklärt sie dem Kind ihre Liebe. Wenige Tage später verfasst der Siebenjährige Verse, deren Wörter „rosignolo“ und „verzura“ er später erinnert. Das erste, mit französischem Anklang, bedeutet „Nachtigall“, das zweite ist ein sehr gewählter Ausdruck für „Grün“. Instinktiv habe er, natürlich ohne Petrarca zu kennen, „den klassizistischen Code von Auslese und Erlesenheit benutzt“.¹ Pasolini wird diesen Code aber auch immer durchbrechen, wie Heiner Müller feststellt: „Das ist eine Qualität bei ihm: einerseits ein hoher Ton, der aber immer offen ist auch für ganz niedrige Elemente, für Jargons, Slangs und Alltagssprache.“²
1942 erscheint Pasolinis erster, auf eigene Kosten gedruckter Gedichtband „Poesie a Casarsa“ mit Gedichten in friulanischem Dialekt. Es ist die Sprache seiner Mutter, die er selbst nie wirklich gesprochen, aber auf der Suche nach einer „absoluten“ Sprache und getrieben von einer Art mystischer Leidenschaft gefunden hat. In der zögernden Schwebe zwischen Sinn und Laut, in der jede Poesie entsteht, entscheidet er sich für den Laut. Aus dem Klang formen sich Bedeutungen und Inhalte wie aus dem Meer auftauchende Inseln, „ruhmbedeckt und unentzifferbar“.³ Die zunächst rein ästhetische, dem Einfluss des Hermetismus geschuldete Entscheidung hat politische Folgen. Das Experimentieren mit dem Dialekt als „anderer“ Sprache weckt Pasolinis Liebe zu den kleinen romanischen Sprachen, zu ihrer Geografie und zu den Völkern, die übrig geblieben sind in ihren „piccole patrie“, ihren kleinen Vaterländern. Und so gerät er in Opposition zur Herrschaft einer nationalen Sprache, die die Vielfalt linguistischer und sozialer Schattierungen der Wirklichkeit auszulöschen droht. Über die mimetische Anpassung an die archaische Sprache einer bäuerlichen Kultur (Pasolini nennt das „Regression“) wird er Teil dieser „anderen“ Welt und entdeckt, nach der Sprache, die Sprechenden. Eine „antiitalienische“ Linguistik öffnet ihm den Weg zum Verständnis sozialer und politischer Verhältnisse, schärft seinen Sinn für Unterschiede.
Wir sehen, alles, was Pasolini als Künstler und politischen Menschen auszeichnet, alles, was er in den kommenden dreißig Jahren schaffen und leben wird, folgt diesem in Casarsa entstandenen Muster. Es ist ein Muster, das ihn in Widersprüche und eine ständige Zerrissenheit führen wird, in eine Besessenheit, mit der er immer um die gleichen Probleme kreist: Was ist Wirklichkeit, welches ist ihre Sprache; ist der Film eine neue Sprache der Wirklichkeit, durch welche Zeichen ist sie zu entziffern; was bedeuten Anderssein und Teilhabe; was geschieht in der Menschheitsgeschichte durch die Vernichtung der bäuerlichen Welt; wie sieht der anthropologische Bruch aus, der sie von den neuen Städtebewohnern trennt, deren Verhalten Brecht in ersten Umrissen beschrieben hat? Den biografischen Stempel erhält diese Zerrissenheit und ständige Ambivalenz durch sein sexuelles „Anderssein“, das zum eigentlichen Motor seiner Vitalität, aber auch zum Grund für Verfolgung und Ausschluss wird, denen das Opfer einen „religiösen“ Sinn gibt: das Martyrium. In dieser explosiven Mischung ästhetischer, politischer und persönlicher Faktoren, die zu trennen Pasolini sich stets weigern wird, liegt der Grund sowohl für alte Irritationen wie für die wachsende Faszination dieses ungewöhnlichen Künstlers.
In einer Welt, in der es tendenziell keine „anderen“ Lebensweisen mehr gibt, wenn die in vieltausendjähriger Kulturgeschichte erworbenen Lebensweisen wegrationalisiert und vereinheitlicht werden, entsteht eine merkwürdige Blindheit nicht nur gegenüber dem „Anderen“, sondern auch gegenüber der eigenen Situation. Diese Diagnose, die Pasolini am Ende der fünfziger Jahre für Italien stellt, radikalisiert seine Liebe zur „bäuerlichen Welt“ und ihren subalternen Klassen, zu ihrem Mythos und ihrem Heiligen. Sie wird für ihn Religion und revolutionäre Wirklichkeit überall, wo es noch Bauern gibt, sei es als Massen, sei es als urbanisierte, kaum integrierte Schichten, die sich in riesigen Völkerwanderungen an den Rändern der Städte ablagern werden. Als Vision, wie in Ekstase, schreibt er in einer 1964 veröffentlichten „Prophezeiung“, dass Millionen, „bekleidet mit asiatischen Lumpen und amerikanischen Hemden“, an den italienischen Küsten landen werden, um zu rauben, zu töten und zu enteignen, aber auch: „um die Genossen Arbeiter die Freude am Leben zu lehren / den Bürgern die Freude der Freiheit zu lehren / den Christen die Freude des Todes zu lehren / sie werden Rom zerstören / und auf den Trümmern / den Keim legen / der Alten Geschichte / Mit dem Papst und allen Sakramenten / ziehen sie dann wie Zigeuner / hinauf nach Westen und Norden / mit den roten Fahnen / Trotzkis im Wind (…)“⁴
Heiner Müller hat diesen Schluss „merkwürdig benjaminisch“ genannt, denn an Walter Benjamin erinnert „dieses Zusammenfallen von Zukunft und Vergangenheit, diese Besetzung mit der totalen Gegenwart“.⁵ Pasolini selbst hat zu dieser Zeitenverwerfung in einer Notiz geschrieben: „Ich kann mit dieser Prophezeiung nicht weiter schreiben, denn um die Zukunft zu kennen, müsste ich die Vergangenheit kennen und die Gegenwart besitzen.“⁶ Wir aber unterliegen der dem Engel der Geschichte aufgezwungenen Zeitperspektive des Fortschritts, der uns unaufhörlich vorwärtstreibt. Der Engel „möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her (…)“ Wie diesem Sturm widerstehen? Wie der kafkaesken Logik des Wachstums und der Entwicklung entrinnen? Pasolini stellt diese Fragen in einem gedrehten, aber zu Lebzeiten nie gezeigten Prolog zum Film „Große Vögel, kleine Vögel“ (1966).
Im Grand Cirque de France, dem Zirkus der westlichen Rationalität, führt ein Dompteur die gezähmten wilden Tiere vor. Nur ein Adler verweigert sich und entzieht sich jeder Kommunikation, „ein Denkmal des Schweigens und der Einsamkeit“. Es kommt zum „Duell zwischen zwei großen, antithetischen Auffassungen der Welt“. Nur Ninetto, analphabetischer Assistent des Dompteurs, gelingt die Vermittlung zwischen den beiden Welten, denn sein Dialekt, eine Art subproletarische Weltsprache, stiftet Gemeinschaft zwischen den armen Teufeln. Der Dompteur greift zu einem letzten Mittel: In seinem Drang, den Adler zu zivilisieren, liest er ihm Texte vor, „Pascal, besser noch Rimbaud und die Enzyklika Pacem in terris“. Diese „religiösen“ Texte wirken auf den Dompteur zurück und erschließen ihm eine neue Welt: „Seine Augen sehen.“ Sie sehen fast nicht wahrnehmbare, wüstenhafte, gebirgige Einöden. Die Welt des Adlers. In einer großen, mimetischen Anstrengung, einer „imitatio aquilae“, regrediert der Dompteur in den irrationalen Zustand des Adlers. Schließlich breitet er die Arme aus und fliegt. „Sein Gesicht hat den besessenen und mystischen Ausdruck des Adlers.“
Dieser Bericht aus einem Zirkus ist eine seltsame Umkehrung von Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“. Ein Affe wird in die menschliche Entwicklung hinein- und vorwärtsgepeitscht. Ein Zurück wird immer unmöglicher. „Das Loch in der Ferne, (…) durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen.“ Doch dann sänftigte sich der Sturm, „der mir aus meiner Vergangenheit nachblies“. Benjamins Sturm vom Paradiese her ist am Ende des von Kafka beschriebenen Entwicklungsprozesses nur noch ein Kitzel. „An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“ Der Affe hat nur ein Ziel vor Augen: weiterkommen. Das ist sein einziger Ausweg. Mensch werden durch Mimesis. Pasolini hingegen schreibt in einem Gedicht seiner letzten Jahre: „So geht es nicht mehr vorwärts.“⁷ Seine Utopie einer Versöhnung mit der Natur besteht im Adler werden durch Mimesis. Auch Kafka hat in seiner „Betrachtung“ (1912) diesen Wunsch beschrieben als „Wunsch, Indianer zu werden. Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“
Pasolini, moderner als jeder Moderne, lotet den unüberbrückbaren Abgrund aus zwischen den Welten, in denen er zu Hause und nicht zu Hause ist. Vielleicht ist dies der Grund, warum Heiner Müller ihn zu den hamletischen Figuren zählte. //
1 Pier Paolo Pasolini: Al lettore nuovo, in: ders.: Poesie, Mailand 1970.
2 Interview am 15.11.1991, abgedruckt (italienisch) in: Heiner Müller: L’invenzione del silenzio. Poesie, testi, materiali dopo l’Ottantanove, a cura di Peter Kammerer, Mailand 1996.
3 Pasolini: Al lettore nuovo (wie Anm. 1).
4 Berliner Ensemble: Drucksache 11, Berlin 1995.
5 Jetzt sind eher die infernalischen Aspekte bei Benjamin wichtig. Gespräch mit Heiner Müller, in: Michael Opitz, Erdmut Wizisla: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig 1992.
6 Pasolini: Tutte le poesie, Band I der von Walter Siti herausgegebenen I Meridiani, Mailand 2003.
7 Pier Paolo Pasolini: Appunti per una poesia in terrone, in: ders.: La nuova gioventù, Turin 1975.