Theater der Zeit

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Wessen Erinnerung zählt?

Im Projekt „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen reisen Jugendliche mit autobiografischen Geschichten und Zeugnissen der Shoah durch Zeit und Raum

von Sabine Leucht

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Theaterpädagogik Bayern Münchner Kammerspiele

Inszenierung von „Time Busters“ an den Münchnener Kammerspielen, Text und Regie Martín Valdés-Stauber
Inszenierung von „Time Busters“ an den Münchnener Kammerspielen, Text und Regie Martín Valdés-StauberFoto: Gabriela Neeb

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Hoppla, da ging aber gerade einiges durcheinander! Eben hat Nikola noch von ihrem Besuch in Dachau erzählt, und plötzlich geht es um die Verbrechen dort wie im Vernichtungslager Auschwitz, um ihre Verwandtschaft in Polen und in der Ukraine und um die Großeltern, die im Circus Krone gearbeitet haben.

Beim Probenbesuch in der neuen Außenstelle der Münchner Kammerspiele, dem Theaterlabor Neuperlach, ist das Gedankengefüge löchrig und der Text sitzt noch nicht. Aber auch bei der Uraufführung von „Time Busters“ eine knappe Woche später gilt: Erinnerung ist in dem Projekt, das das Theater der Stadt München mit Jugendlichen aus dem migrantisch geprägten Stadtteil entwickelt hat, ein Mit- und Ineinander von historischer und familiärer Überlieferung – gefiltert durch das eigene Erleben. Denn kein Mensch ist ein weißes Blatt. Und wie man sich die Geschichte vergegenwärtigt, hat viel mit einem selbst zu tun. Wie sagt Nikola? „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie flüstert uns zu.“ Und dieses Flüstern hören wir hier und heute.

„Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ heißt der künstlerische Forschungsbereich, den der Dramaturg Martín Valdés-Stauber 2021 an den Münchner Kammerspielen gegründet hat. In dessen Rahmen ist auch die Stückentwicklung „Time Busters“ entstanden. Der Plot: Eine Gruppe von Menschen entdeckt 2433 eine Zeitkapsel, die ein paar Schüler:innen im Jahr 2023 mit dem gefüttert haben, was sie für erinnerungswürdig hielten. Popsongs und Rassismuserfahrungen, Fluchtgeschichten, Traumata und Zukunftsträume sind dabei. Denn zu der heute unstrittig virulenten Frage, wie es mit der Erinnerung weitergehen soll ohne Zeitzeugen, gesellen sich in einer Zuwanderungsgesellschaft noch einige mehr: Wie erinnern wir uns an etwas, was nichts mit unserer Familienbiografie zu tun hat? Oder: Welche Geschichten haben dazu geführt, dass wir heute hier stehen?

Diese Fragen sind eng verbunden mit den Gedanken des Essayisten Max Czollek, der beispielsweise sagt: „Nur, wessen Geschichte erinnert wird, gehört zu diesem Land.“ Und also hat sich Martín Valdés-Stauber mit zwölf Jugendlichen auf den Weg gemacht, Geschichte zu schreiben. Zehn von ihnen besuchen eine achte Mittelschulklasse, in der nur einer zu Hause Deutsch spricht: Hassib ist Teil der Crew, die hier darüber mitentscheidet, was aus der Zeit, in der er und seine Mitschüler:innen leben, für die Zukunft bewahrt werden soll. Das ist natürlich eine Überforderung. Deshalb geht es viel um das, worin diese Jugendlichen Expert:innen sind. Im Videoeinspieler geben sie eine fast touristische Führung durch die eigene Hood. Im PEP, vulgo „Perlacher Einkaufsparadies“, das offiziell „Perlacher Einkaufs Passagen“ heißt, kann man chillen, den vielleicht besten Döner Münchens essen, über die Gleichberechtigung aller Kaufkräftigen räsonieren oder an das Schwester-Shoppingcenter im Münchner Norden denken – das OEZ, in dem 2016 ein Teenager einen rassistisch motivierten Anschlag verübt hat, bei dem neun Menschen starben. Derlei Erfahrungen und Assoziationen haben die frischgebackenen Schauspieler:innen in das Projekt eingebracht. Ästhetik und Struktur indes kamen vom jungen Produktionsteam, in dem der 31-jährige Valdés-Stauber als Regisseur der älteste ist.

Vier Kapitel hat der Abend, die bewusst mit Gegensätzen spielen zwischen Dokumentation und Fiktion sowie alltäglich wirkenden und überformten Szenen. Diese Gegensätze tragen der Tatsache Rechnung, dass es sich um ein künstlerisches Projekt handelt, in dem es auch um Begegnung geht und um einen verantwortungsvollen Umgang mit den 13- bis 16-Jährigen, die bislang wenig bis keine Berührung mit Theater hatten. Das Team spielt aber auch ganz bewusst mit den Erwartungen eines bildungsbürgerlichen Publikums. Und ja: Beim ersten Anschauen ist man irritiert von den teils sehr komplexen Texten, die den Schüler:innen noch schwer von den Lippen gehen, von den seltsamen Choreografien zu Barockmusik und dem mönchischen Gehabe in einer Art Ashram. Erster Gedanke: Hier wird den Jugendlichen etwas aufgepfropft. Zweiter Gedanke: Hier werden Klischees gegeneinander ausgespielt. Denn in allen Köpfen kommen sie vor. Hier die „benachteiligten“ Kids aus der Vorstadt, dort „die Leute, die die Süddeutsche lesen“.

Freiwillige gesucht

Deshalb ist es wichtig, nach der Genese des Abends zu fragen, dessen ästhetischer Rahmen bereits vor dem Text stand. Die Idee des Zen-Gartens im zweiten Teil, in dem in Kimonos zu Musik von Rameau getanzt wird, habe er mit der Ausstatterin Janina Sieber entwickelt, bevor klar war, wer überhaupt dabei sein würde bei dem Projekt, sagt Valdés-Stauber. Die Werkstätten mussten schon loslegen. Denn für Theaterverhältnisse war die Zeit vom Startschuss bis zur Premiere im Februar sehr kurz. Nach einer initialen Erinnerungswerkstatt im Oktober und November in zwei Klassen der Mittelschule an der Albert-Schweitzer-Straße wurden Freiwillige gesucht, die Lust hatten, die zweite Hälfte der Weihnachts- sowie die Faschingsferien miteinander und mit Theaterproben zu verbringen. Darunter Nikola Bruder, die einzige Neuntklässlerin im Team, die deshalb auch schon vom Konzentrationslager in Dachau erzählen kann, das in München zum Neunte-Klasse-Pflichtprogramm gehört. Nikola hat sich auch schon zuvor für Geschichte interessiert und würde gerne Lehrerin werden. Die selbstbewusste Jinan Jaballah hat sich erst kürzlich dazu entschlossen, Kopftuch zu tragen, und plädiert für „mehr Frauenrechte in Neuperlach“. Von solchen Dingen erzählen die Jugendlichen auf der Bühne oder im Video. Nur Marko Brkic, der Zweitjüngste in der Gruppe, ist mit seinem Regisseur in die Kantine der Kammerspiele gekommen, um mehr zu berichten: Theater, mit dem er erst durch die Vorstellungsbesuche in Kontakt kam, die die Probenzeit flankierten, gefällt ihm, wenn es lustig ist. Und auch sonst erzählt Marko unverfälscht: „Zuerst wollte ich nicht mitmachen, dann dachte ich mir: Ich habe sowieso nicht viel zu tun, dann kann ich auch was Neues erleben. Es war auch nicht anstrengend, sondern spaßig. Und die Themen haben gepasst.“

Transparenz

Vom Nationalsozialismus haben ihm bereits seine Eltern erzählt, die aus Serbien stammen. Und weil sein Urgroßvater von Deutschen angeschossen wurde, hat seine Biografie sogar einen winzigen Schnittpunkt mit der deutschen Geschichte. All das erfährt man schon im Stück. Und auch, dass Marko mal Polizist werden will und eine Theorie hat: „Meine Theorie ist, dass das Universum ein Kreis ist. Wenn man eine Runde gemacht hat, kommt man an derselben Stelle wieder raus.“ Sätze wie diese, von denen Martín Valdés-Stauber sagt, dass sie sich niemand hätte ausdenken können (und die sich nebenbei auch noch mit Erkenntnissen der Astrophysik treffen), wurden eins zu eins übernommen. Andere wurden umgestellt, sprachlich bearbeitet und anschließend von den Jugendlichen daraufhin überprüft, ob sie mit dem, was sie sagen wollten, übereinstimmen. Wobei auch das von Szene zu Szene variiert, die laut Valdés-Stauber „gegenbildlich“ funktionieren. Der Abend startet mit einer Klassenzimmerszene, die auch ästhetisch nah am Alltag der Jugendlichen ist. Eine Lehrerin kommt nicht und die Klasse hindert eine eifrige Schülerin daran, nachzuschauen, wo sie bleibt. Es folgt das Chaos, das alle ehemaligen Schüler:innen kennen, und einige schlüpfen versuchsweise in die Lehrer:innenrolle. Und auch dabei fallen Sätze, „die keiner von uns hätte schreiben können“, so der Regisseur, zum Beispiel: „Dein Name ist komplizierter als mein ganzes Leben.“ Ein Originalzitat aus Neuperlach!

Teil zwei dieser postmigrantischen „Auto-Science-Fiction“ ist dann in allem das komplette Gegenteil. Dieselben Jugendlichen, die eben noch ihr Klassenzimmer zerlegten, pflegen in einer diffusen Zukunft fremdartige Rituale und tanzen mit Kimonos – nicht freestyle, sondern stark formalisiert. Im Theaterlabor ohne Bühnenbild war dieser plötzliche Schwenk noch befremdlicher als im Werkraum der Kammerspiele, wo der Zen-Garten bereits im Klassenzimmersetting zu erahnen war. Valdés-Stauber sieht darin „ein ironisches Augenzwinkern“ in Richtung eines bildungsbürgerlichen Theaterpublikums und einiger Kolleg:innen, die genau das nicht von Jugendlichen aus Neuperlach erwarten. Und schon gar nicht, dass vier von ihnen später noch hoch intellektuelle Texte lesen. „Sie sagen Sachen, die fast niemand im Publikum zu formulieren in der Lage wäre, aber auf Türkisch, Polnisch und Arabisch“, was den intellektuellen Gehalt dieser Texte sogar noch camoufliert.

In gewisser Weise dienen diese „Spielereien“ aber auch der Transparenz in eigener Sache: Denn auch die Theater­macher:innen kommen natürlich mit ihrem akademischen Rüstzeug in die Proben. „Ja, wir tragen viel von außen an die Jugendlichen heran“, gibt Valdés-Stauber zu, „aber wir arbeiten damit nur weiter, wenn es eine Resonanz gibt. Und dann werden wir überrascht. Zum Beispiel haben wir stundenlang Karaoke gemacht zu Musik, die sie gerne hören. Irgendwann spielen wir Bach ein und Dilara, die Jüngste, die eigentlich nur mitgemacht hat, weil ihre Schwester Ela auch dabei war, kann es sofort singen. Eine Woche später hat sie sich das Stück freiwillig fünfzig Mal angehört, weil sie es so schön fand, und sie kann es perfekt.“ Also hat das „Blute nur“ aus der Matthäus-Passion – gesungen von Dilara und Ervin – Eingang in den Abend gefunden, ebenso wie Azizas fünfminütiger Gang mit einer kleinen Gießkanne über die Bühne, bei dem sie Wasser mit Wasser gießt. Anderes ist rausgeflogen.

Was die Darstellung der Zukunft angeht, in der sich im dritten Teil die Zeiten mischen und die Videos gefunden werden, in denen vier Jugendliche Zeugnis ablegen über unsere Gegenwart, so bleibt sie vage. Wer zufällig auf die Tafel schaut, die noch von der Schulszene dasteht, entdeckt das Jahr 2433 – 500 Jahre nach Hitlers sogenannter „Machtergreifung“ –, auch das laut Valdés-Stauber nur eine Spielerei: „Es gibt zwei Grundprinzipien in dem Stück: Die Jugendlichen werden nicht die Vergangenheit spielen, weil das nur schiefgehen kann. Und: Jede konkrete Vorstellung von Zukunft ist ein Trugschluss.“ Deshalb der japanische Zen-Garten, der – egal, wo auf der Welt – vor 400 Jahren schon so aussah, wie er in 400 Jahren womöglich immer noch aussieht: eine orts- und zeitenthobene Blase, erfüllt von uralten Klängen und futuristischen Ritualen. Und doch schaut man als Zuschauer:in ein wenig ratlos auf die Menschen in diesem Raum, in denen man immer noch die Jugendlichen von heute sieht, egal, welche Kluft sie auch tragen. Im Laienspiel funktionieren Illusionen allenfalls halb. Was aber gut funktionieren kann, ist, für alle einen Raum und eine Form zu finden, in dem sie sich ausdrücken können und die sie zugleich schützt. Der Text, der in der Hand bleiben darf, die starke Musik, die klare Choreografie … Valdés- Stauber spricht von „Ermächtigungen“ im Plural und erzählt von Esad, der viel Verantwortung für technische Abläufe übernommen hat, und von Amirs Beobachterposition, aus der heraus er kontrolliert die Szene crashen kann: „Was soll das Rumhirnen in der Vergangenheit?“, fragt er, der das Getanze albern findet und lieber Mortal Kombat spielt, als von sich zu erzählen. Dass es Amir trotz allem wichtig ist, gesehen zu werden, zeigt seine Frage „Wie fanden Sie uns?“ nach der Probe.

„Theater kann und wird nicht heilen“, heißt es am Ende von „Time Busters“, als die Zwölf mit dem Publikum in Dialog treten und sich frei nach Aleida Assmann zum langen Schatten der Gegenwart erklären, der auf die Zukunft fällt. Ob Theater zumindest diesen Schatten größer machen kann? Marko jedenfalls würde gern noch einmal bei einem Theaterprojekt mitmachen. Und einige aus dem Team haben Barbara Mundel, der Intendantin der Münchner Kammerspiele, so lange mit Nachrichten bombardiert, bis sie versprach, darüber nachzudenken.

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