Auftritt
Ingolstadt: Narr in unserer Zeit
Stadttheater Ingolstadt: „Tyll“ von Daniel Kehlmann. Regie Alexander Nerlich, Bühne Stella Lennert, Wolfgang Menardi
von Anne Fritsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Bayern Stadttheater Ingolstadt

Schwarz gekleidete Gestalten beugen sich vornüber, bilden eine Reihe. Ein schlaksiger Typ mit blassblauer verzottelter Prinz-Eisenherz-Frisur setzt unsicher einen Fuß auf einen der Rücken, richtet sich auf, findet sein Gleichgewicht. Macht einen Schritt, auf die nächste Gestalt, strauchelt, fängt sich wieder. Alessia Ruffolo spielt diesen Tänzer auf dem Rücken der Menschen. Es ist der „Tyll“ aus Daniel Kehlmanns gleichnamigem Roman, den Alexander Nerlich nun am Stadttheater Ingolstadt inszeniert hat. Dieser berühmte Narr, der sich als Kind selbst das Seiltanzen beibrachte, weil es sonst in seinem Leben kaum etwas Erquickliches gab. Kehlmann hat ihn ins 17. Jahrhundert versetzt, zwischen Dreißigjährigen Krieg, Pest und Hexenverfolgung. Als sein Vater als Hexer verurteilt und hingerichtet wird, läuft Tyll mit der Bäckerstochter Nele davon, die beiden schlagen sich als fahrende Künstler durch.
Nerlich beginnt den Abend mit dem Ende: In schwarzen Ganzkörperanzügen lauert oder kauert das Ensemble in dem Krater, der in einen weiß gefliesten Raum gerissen wurde und von schwarzer Asche bedeckt ist. An den Rändern flackern Kerzen. Stella Lennert und Wolfgang Menardi haben einen apokalyptisch anmutenden Raum entworfen, eine Mischung aus Kriegsruine und Labor, eine Versuchsanordnung zum unerschöpflichen Thema Mensch. Hier also, in den Überbleibseln ihrer Leben erinnern sie sich an die Zeit vor dem Krieg, an Tyll. Ruffolo zieht sich eine bunte Weste über den Anzug, verwandelt sich in Tyll, dreht die Zeit zurück.
Von Szene zu Szene springt das Ensemble nun durch dessen Leben: die traumatische Nacht alleine im Wald mit dem Esel; die Spiele mit Nele; die Studien des Vaters; die ewige Grütze; die Folterung und Hinrichtung des Vaters; die Flucht … Beim Vater, dem Müller, der sich viel lieber mit den Sternen am Himmel und der Heilung der Menschen beschäftigt als mit dem Korn, hält Nerlich sich besonders lange auf, zeigt, wie er seinem Sohn Denkaufgaben stellt und wie ihm sein Wissensdrang schließlich zum Verhängnis wird. Jan Gebauer spielt ihn intensiv bis zu seiner Hinrichtung, die mit kerzenbeleuchtetem Altar im Hintergrund allerdings ein wenig pathetisch gerät.
Tyll Ulenspiegel ist ein Narr. Einer, der die Leute in seinen Bann zieht. Dem sie zuschauen wollen – oder müssen. Selbst wenn sie ihre Kühe schreien hören, die so dringend gemolken werden müssten. Sie können sich nicht abwenden, sind verzaubert. Es ist dies eine der Szenen aus dem Roman, die in Erinnerung bleiben, weil Kehlmann diese Situation so genau erfasst, die Leser auf diesen Marktplatz entführt. Man fiebert mit, hört die Not der Kühe und ist doch wie die Bauern gefesselt von diesem Spektakel. Es ist die Gleichzeitigkeit von allem, vom Schönen und Schaurigen, ein lange ersehnter Moment der Freiheit. Kehlmanns Tyll ist ein Narr aus der Not. Einer, dem das Leben keine Alternative lässt und der das Beste daraus macht. Dieser Tyll, der die Menschen zum Staunen bringt und zum Lachen in ihrem Elend, den zeigt Alexander Nerlich nicht. Ihm geht es mehr um das Krisengefüge als um das Individuum. Er zeigt immer neue Tylls, immer wieder schlüpft ein anderes Ensemblemitglied in seine Rolle, zeigt eine andere Facette der Figur. Es gibt den lauten Tyll, den kindlichen, den abgeklärten und den provokativen. In dieser Aufspaltung aber geht die Faszination dieser Figur, die eben all das in einem ist, irgendwo verloren.
Alexander Nerlich weiß, dass er den 500-Seiten-Roman nicht stringent auf der Bühne nacherzählen kann. Er setzt Schlaglichter, konzentriert sich in seiner Fassung auf zeitlose Eindrücke einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Auf Krieg, Krankheit, Verfolgung. Eindrücke, die natürlich aktuell wie selten sind. In vielerlei Hinsicht ist die Zeit, in die Kehlmann seine Eulenspiegel-Geschichte versetzt hat, wieder nah an unsere gerückt. Pandemie, Verschwörungstheorien, Krieg in Europa – die Vorzeichen sind ähnlich. Und doch überwiegt am Ende der Aufführung der Eindruck all dessen, was fehlt. Wo Kehlmann detailverliebt mit größter Präzision und Beobachtungsgabe Entwicklungen beschreibt, bleibt hier nur Zeit für angerissene Zustände. Von dem überbordenden, prallvollen Roman bleibt nicht viel mehr als ein Gerippe. //