Auftritt
Staatsoper Unter den Linden: Ein Beckett-Riesenrad
„Fin de partie“ von György Kurtág, Text Samuel Beckett – Musikalische Leitung Alexander Soddy, Inszenierung Johannes Erath, Bühne Kaspar Glarner, Kostüme Birgit Wentsch, Video Bibi Abel
von Thomas Irmer
Assoziationen: Berlin Musiktheater Samuel Beckett Staatsoper Berlin
Samuel Beckett verweigerte stets Auskünfte zu seinem „Endspiel“. Deutungen des 1957 uraufgeführten Stücks enthielt er sich sogar, wenn er – wie zweimal in Berlin – es selbst inszenierte oder eine später berühmte Inszenierung in London 1964 überwachte. Der Komponist György Kurtág fühlte sich von dem Text seit der von ihm in Paris erlebten Uraufführung so angezogen, dass ihm über Jahrzehnte vorschwebte, daraus eine Oper zu machen. 2018 wurde daraus, nach über einem halben Jahrhundert Inkubationszeit und acht Jahren Kompositionsarbeit, „Fin de partie“ an der Mailänder Scala.
Die einzige Oper des bald 99-jährigen Ungarn wurde nun – nach Inszenierungen in Dortmund und Wien, wo Herbert Fritsch „Fin de partie“ in seinen Farben malte – in Berlin zu einer der ungewöhnlichsten Beckett-Interpretationen, die es je gegeben hat. Denn Johannes Erath lässt Kurtágs Oper und in ihrem Kern Becketts Stück buchstäblich und bildlich völlig aus dem Häuschen.
Zu Beginn, das ist der von Kurtág gesetzte Prolog mit Becketts Gedicht „Roundelay“ für das von ihm eingerichtete, etwa zwei Drittel des französischen Originals umfassende Libretto, ist Dalia Schaechter als Nell auf einem Erdhaufen zu sehen – ein Zitat des Erdhügels aus Becketts „Glückliche Tage“. Mit Schirm und auf dem Hügel heruntergerutschter Handtasche. Danach öffnet sich auf halber Höhe der Bühne schwebend der „Endspiel“-Raum, wo Clov in einer Art abgewohntem Marthaler-Interieur mit entsprechenden Tapeten Vorbereitungen für eine wohl schon länger nicht mehr stattgefundene nächste Runde des Spiels trifft. Eine Leiter probeweise an die Fenster stellen, Abdecktücher entfernen – unter einem sitzt sein Herr, Hamm, selbst unter einem Taschentuch auf dem Kopf. Die Mülltonnen in denen die Eltern Hamms, Nell und Nagg, stecken – einst ikonische Signatur des ganzen Stücks – stehen links vorn auf der Bühne.
Kurtág hat den Einakter in 14 Abschnitte gegliedert, wohl auch um für seine von Moment zu Moment wechselnde Stilistik – mit vielen, von Beckett vorgegebenen Pausen – ein Prinzip des musikalisch-szenischen Ablaufs zu gewährleisten und vor allem in diesem Figuren-Text-Stück das Gesagte und Erzählte zur Geltung zu bringen. Ausschweifend atmosphärische Musik gibt es nicht, es gilt das musikalisierte Wort mit kleinen, aphoristischen Klang-Clustern dazwischen. Und immer wieder Pausen, die man keinesfalls als Unterbrechung wahrnimmt.
Szenisch geht Erath mit dem ihm dabei in der Musik unterstützenden Alexander Soddy einen ganz eigenen Weg der inhaltlichen Interpretation. Folgen die ersten Abschnitte noch ganz dem Kurtág-Libretto und damit Becketts Stück, entsteht nach der Feststellung von Nells Tod fast ein Gegen-Endspiel, in dem sich alles von Beckett Gegebene verkehrt und gleichsam aufersteht. Ein umgekipptes Riesenrad ist nun das raumgreifende Bühnenbild, der blinde und gelähmte Hamm fährt seine Doppelgänger-Puppe im Rollstuhl, und Nagg und Nell haben ihre Toten-Mülltonnen verlassen. Clov, die ansonsten agilste Figur, lehnt fast zwanzig Minuten erstarrt an einer Wand, während Hamm in der Zentrumsachse des Riesenrads in voller Blinkbeleuchtung seinen Schlussmonolog vom Ende von allem sing-philosophiert.
Sachte wurde diese hintere Doppelwelt mit stummfilmartigen, schemenhaften Videoprojektionen aus dem Hamm-Clov-Zimmer des Anfangs vorbereitet als eine Welt hinter der Endspielwelt. Nun erscheint sie als kaputtes Varieté und zerbeulter Zirkus als Auferstehung von Becketts Figuren, nicht ohne Humor, dabei aber wohl nicht für alle Zuschauer als Beckett und seinen Kurtág ohne Metaebene verständlich.
Sensationell sind die für diese Art moderne Oper Sänger-Darsteller: Laurent Nauori als immer wieder brechender Hamm, Bo Skovhus als gegen die konventionelle Dienerzuschreibung aufbegehrender Clov, Dalia Schaechter sehr gut in der in dieser Inszenierung besonders aufgewerteten Rolle der Nell, und Stephan Rügamer, der mit seinem Nagg wahrscheinlich alles macht, was Beckett wollte und ihm nicht sagte.
Eine sehr opulente, aber nicht ganz zu entschlüsselnde Inszenierung, nicht ohne herausfordernde Widersprüche der Beckett-Geschichte mit all ihren Hier-das Verstanden und Dort-das Interpretiertem. „Fin de partie“ bleibt als Stück ein Musik-Sprachkunstwerk – und ein von György Kurtág seiner Auffassung nach noch nicht einmal beendetes Werk – auch in diesem wirklich großen Format. Mit allem ein Interpretationsriesenrad von einem Autor, der eigentlich weniger wollte.
Erschienen am 14.1.2025