Theater der Zeit

Bericht

En avant toutes

Festivalbesuche in Plzen und Paris

Während das Festival Skupova in Plzen vor allem ein Fest der Ensemble-Theater aus Tschechien und der Slowakei ist, richteten die diesjährigen Scénes ouvertes à l’insolite in Paris den Schwerpunkt auf Soloarbeiten – fast alle von jungen Frauen. Gemeinsam war vielen auf den beiden Festivals gezeigten Produktionen aber ein gesellschaftskritischer Impetus und eine Lust an der Historie.

von Mascha Erbelding

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Puppen-, Figuren- & Objekttheater Europa

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Das Eröffnungsstück der Skupova hinterlässt in heutiger Zeit ein mulmiges Bauchgefühl: Das Divadlo Minor aus Prag beschäftigt sich in „Brothers of Hope“ mit dem Schicksal der Kopecky-Brüder, vier Puppenspieler, die im Ersten Weltkrieg eingezogen wurden – und auf wundersame Weise mit dem Leben davonkamen. Denn die Bilder und Berichte aus dem Krieg in der Ukraine und von Geflüchteten, die Nachrichten von zerstörten Wohnhäusern, Schulen, Universitäten und Theatern rückt die Kriegserfahrung ganz nah heran, gefühlt näher als all die anderen Konflikte und Kriege auf anderen Kontinenten. Regisseur Jan Jirku macht aus der Geschichte der Brüder allerdings eine Schwejk-hafte Fabel – und zu einem musikalischen Puppen-Schauspiel auf großer Bühne. Kasparek, Teufel und Tod sind als große Ganzkörpermasken präsent und prägen die Handlung, die rasant durch Kindheit mit Tod von Vater und Mutter, Lehrjahre bei den Verwandten und schließlich in die Armut in der Weltwirtschaftskrise von 1929 führt. Der Tod kann tanzen in den Kriegsjahren – und der Teufel als Offizier versucht, die Kapitulation der Brüder in auswegloser Lage an der Front in Italien zu verhindern. Was am Ende wichtig ist? Seine Familie zu retten. Und genug Geld zu verdienen, um den Kindern ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Geschichte zum Puppen-Melodram zu verkleinern, das könnte man der Inszenierung vorwerfen. Aber vielleicht ist das gerade in diesen Zeiten mit neuem, ungebremsten Kriegs- und Heldenpathos auch die einzige Möglichkeit, damit umzugehen.

Auch die Inszenierung „The journey of good Hans Böhm through Europe“ des Festivalgastgebers Divadlo Alfa stellt ein historisches Thema in den Mittelpunkt. Mit aus groben Holzklötzen zusammengesetzten und dennoch sehr ausdrucksvollen Figuren erzählt das starke Ensemble die Geschichte eines Jungen, der zur sudetendeutschen Minderheit in der Tschechischen Republik gehört, bis zum Ende des 2. Weltkrieges. In rasant aufeinanderfolgenden, prägnanten Szenen stellt das Stück dar, wie der junge Hans Böhm immer wieder zwischen die Fronten gerät, nicht dazugehört. Und wie ihm seine Mehrsprachigkeit – neben Tschechisch und Deutsch auch Englisch, Französisch und später Polnisch –, also genau dieses Dazwischen, das Leben rettet.

Zwischen all den großen Ensembleproduktionen, die die Lebendigkeit der tschechischen Puppentheaterszene beweisen – darunter auch die Inszenierung „O for Otesanek“ eines Ensembles von Studierenden an der DAMU, das die Geschichte des alles verzehrenden Otek mit Computermüll als humorvolle Dystopie erzählt – soll im Programm noch das Gastspiel „Hatenashi“ von Miyako Kurotani hervorgehoben werden, Teil des diesjährigen Japan-Schwerpunktes des Festivals. Die Grande Dame des japanischen Puppentheaters zeigt in ihrem Solo mit einer Figur, die ihr selbst als junges Mädchen gleicht, nicht nur virtuose Puppenspielkunst. Sie findet zugleich auch Bilder für die Zurichtungen, die sie als Frau, als Puppe der Gesellschaft, erfährt. Aus der Reduktion der schwarzen, leeren Bühne und der Kraft dieser über 70-jährigen Frau entstehen wunderschöne, berührende Bilder eines verletzlichen Körpers.

Rollenbilder, Identitätsfindung und feministischer Kampf

Um die Rolle der Frau in der Gesellschaft geht es auch bei den Scènes ouvertes à l’insolite gleich in mehreren Stücken. Während Adele Cuoëtil (Collectif Toter Winkel) in ihrem kurzen Solo den Versuch einer Frau, aus ihrem immergleichen Arbeitsalltag und aus ihrem fremdbestimmten Leben auszubrechen, in den Kampf mit einem Stuhl übersetzt, von dem sie sich nicht lösen kann, hat die Compagnie Boom von Zoé Grossot für „En avant toutes“ – ein feministischer Kampfruf, der volle Kraft voraus und Frauen nach vorne in einem Ausdruck verbindet – das Medium des Papiertheaters gewählt. Sie stellt Dutzende starke Frauen vor, ein Stück, das gut für ein jugendliches Publikum funktionieren wird, als szenische Geschichtsstunde über die Frauenbewegung – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ungleich lust- und humorvoller ist die Inszenierung „Le jeu de l’ourse“ der Nids Dhom Compagnie, die sich mit dem weiblichen Begehren auseinandersetzt. Als klassisches Objekttheater mit Schleichfiguren und kleinem Spielzeug mit viel Witz umgesetzt, lässt die Spielerin das Publikum ihrem erotischen Erwachen und ihren ersten Affären mit Frauen folgen, nicht ohne auch deutlich zu machen, dass eine queere Identitätsfindung mitnichten einfach war und ist. Auch ohne Liebestrank, den eine Zuschauerin probieren darf, wickelt Alice Mercier in ihrem dicken Bärenfellmantel ihr Publikum um den Finger.

Auch die am gleichen Abend präsentierte Hamlet-Version „Hamlet et nous“ der Compagnie Tac Tac arbeitet mit Schleichtieren. Aus der Fiktion einer Kick-Off-Veranstaltung für die Finanzierung einer Filmproduktion, die zwei Brüder planen, entwickelt sich ein rasantes Spiel, das Ophelias Schicksal in den Mittelpunkt stellt. Auf der Folie des Hamletstoffs gesteht einer der Brüder, wie er seine erste Liebe – ein junges Reh – nicht gegen das Cybermobbing ihres Exfreundes verteidigt hat. Aber diese Ophelia bringt sich nicht um, sie schlägt zurück. Eine ihre einfachen Mittel gekonnt und wirksam einsetzende mobile Klassenzimmerproduktion, die leichtfüßig, quasi en passant, Männer- und Frauenrollen infrage stellt.

Unglaubliche Spielfreude hat auch Blanche Lorentz von der Compagnie Granit Suspension, die in „Moby Dick 150“ gar zu einer kleinen Revolte aufruft. Mit überraschenden Einfällen wie einer piepsig rappenden Fliege und echten Fliegen-Puppen als „Pausensnack“ gelingt es ihr, ihr Publikum zu unterhalten. Leider verliert sich ihre Geschichte über Outsider-Kunst und Fliegen allzu sehr in der Freude am Unsinn – so bleibt am Ende der Eindruck eines Schülerstreiches. Aber die Revolution kann bei diesen vielversprechenden jungen Spieler*innen ja noch kommen, die gerade erst begonnen haben, an den Fronten unserer Gegenwart zu kämpfen. En avant toutes! – www.skupovaplzen.cz – www.lemouffetard.com

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