Theater der Zeit

Interviews

Ingo Günther und Malte Preuss: »Die beste Theatermusik ist die, die man hört!«

Ein Gespräch am 13. Februar 2016 in Berlin

von David Roesner, Ingo Günther und Malte Preuss

Erschienen in: Recherchen 151: Theatermusik – Analysen und Gespräche (11/2019)

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Ingo Günther
Foto: David von Becker

Malte Preuss
Foto: Ingo Höhn

Wie nennt ihr das, was ihr macht?

Ingo Günther: Natürlich offiziell Theatermusiker oder eben -komponist, aber ich sage auch häufig, dass ich Theaterschaffender im Bereich Musik bin, weil das mein Verständnis von Theater widerspiegelt: nicht, dass das eine das andere illustriert, sondern dass das verschiedene Komponenten sind, die zusammen ein Theater ergeben.

Das stellt ja schon die früher so klar gedachte Aufteilung in abgegrenzte Zuständigkeiten infrage. Wie ist das bei dir, Malte?

Malte Preuss: Es gibt ja immer diese Programmhefte, und da steht bei mir meistens: »Musik, Komposition, Sound Design«, um einfach bewusst zu machen, dass ich alle drei Dinge tue. Ich nutze z. B. nie die Tonabteilung für irgendwelche Geräusche, sondern mache das alles selber. »Musikdramaturgie« ist es eigentlich auch und wird für mich immer wichtiger. Das steht nirgendwo, aber durch die lange Erfahrung ist das auch etwas, was ich tue.

Wie seid ihr dazu gekommen?

IG: Ich bin da einfach so reingerutscht, letztendlich auch über Malte und ›Theater Aspik‹1. Ich habe ja in Hildesheim Kulturpädagogik2 studiert mit den Fächern Musik und Kunst, und da gab es eine rege freie Theaterszene, Aspik und Mahagoni3 und wie die alle hießen, und da bin ich so reingerutscht und habe dann gemerkt, dass mich nicht nur die absolute Musik interessiert, sondern vor allem eben das Interdisziplinäre, was ja in Hildesheim ohnehin oben auf der Tagesordnung stand. Und so kam ich zu Filmmusik, Theatermusik, Installation.

Du hattest aber auch eine musikalische Vorbildung, oder?

IG: Genau. Klavier und Orgel – Tasteninstrumente im weitesten Sinn. Im Studium habe ich dann noch mal so ein bisschen E-Bass gemacht, aber eigentlich Klavier.

MP: Ich habe ja auch in Hildesheim studiert, und ich fand einfach die Leute, die bei uns im Studium Theater gemacht haben, wie die das gemacht haben – das fand ich sauinteressant. Wir hatten das große Glück, dass da eben tolle Leute zusammenkamen, um Theaterkunst zu machen. Das ging zusammen mit meinem Interesse für Filmmusik. Die hat mich immer fasziniert. Aber es waren eben vor allem die Theaterleute: Das war interessanter, als was damals in der Kunst lief4, oder auch in der Musik, was ich als Fach einen ziemlichen Flop fand.

Wann habt ihr angefangen zu studieren?

MP: 1984, wir gehörten somit zu der ersten Generation.

IG: Ich ein bisschen später, so 1986, 1987. Ich habe da schon mit Malte zusammengewohnt und Zivildienst gemacht und bin schon in Seminare gegangen. Ich wollte das eigentlich gar nicht studieren, aber bin dann so da reingeraten. Als ich dann die Aufnahmeprüfung bei Herrn Löffler hatte, da meinte er: »Herr Günther, sie studieren hier doch schon lange!« [lacht].

Ich frage auch deshalb, weil es ja kein Studium für Theatermusik gibt: Hat eure Ausbildung insofern eher in den freien Gruppen um den Studiengang herum stattgefunden oder sind auch Inhalte aus dem Studium in eure Arbeit eingeflossen?

IG: Bei mir gab es das in Seminaren eigentlich nicht, außer, dass ich mal Filmmusik bei [Claudia] Bullerjahn studiert habe.5 Was mich aber interessiert hat, war, dass damals »Live Art« aufkam, Forced Entertainment und dieses Ganze. Also: die Bühne nicht als »Bühne« zu nehmen – Achtung: der Vorhang geht auf! –, sondern die Bühne als Kunstraum zu verstehen, wo dann eine Performance oder Installation stattfindet, wo die Bühne eine reale Welt wird und nicht versucht, die Realität nachzubilden. Und da sind natürlich auch Klang und Musik sehr interessant. Ähnlich wie bei den Ready-mades, also wenn Duchamps ein Klo ins Museum stellt, dann ist das was. Genauso ist es auf der Bühne etwas anderes, wenn ich da einen Ton abfeuere, als wenn ich das ganz normal hören würde. Diese Lupen-Wirkung, die eine Bühne hat, das fand ich immer verrückt.

MP: Ich kann mich noch erinnern an das Festival, was aus dieser Zeit entstanden ist, transeuropa.6 Ich glaube, das hat erst Julia Lochte gemacht und dann Viola Hasselberg, und die haben natürlich großartige Gruppen eingeladen. Wir hatten das Glück, mit den ›Desperate Optimists‹ eine Produktion zu machen. Die haben die vierte Wand aufgebrochen und mit Videokamera im Off gearbeitet – das war inhaltlich ein Riesenknall für die ganzen Hildesheimer Gruppen. Wir haben dann alle Videokameras gekauft [lacht] und auch damit gearbeitet. Wir waren wie ein trockener Schwamm und haben das alles aufgesogen.

IG: Dann kam aber auch der Dämpfer: In Hildesheim waren wir voll Avantgarde, wie wir dachten, und sind dann mal nach Berlin zur Volksbühne gefahren und haben Christoph Schlingensief gesehen oder Marthaler oder Castorf! [lacht]

Das fand ich aber immer schon interessant, dass die beiden universitären Studiengänge, von denen so viele Impulse für die Theaterszene ausgegangen sind, nämlich Gießen und Hildesheim, eben beide in der Provinz sind. Das scheint eben doch dazu zu führen, dass man erfinderisch wird, weil sonst eben nichts los ist.

IG: Ich glaube auch, wenn derselbe Studiengang in Berlin gewesen wäre, wäre da nicht so viel bei rausgekommen. Wir waren da ja richtig unterzuckert! [lacht]

Noch mal zu deinem Rüstzeug, Malte: Hast du immer schon Gitarre gespielt?

MP: Ich bin da als kompletter Autodidakt in dem Studiengang gelandet, bin durch die erste Aufnahmeprüfung gerasselt, habe mich erst mal für Lehramt eingeschrieben, dann konnten die Dozenten nicht mehr sagen, der kann ja nichts, weil ich dann ja schon Seminare bei denen belegt hatte, und so hat es bei der zweiten Prüfung auch funktioniert. Ich hab damals schon Gitarre gespielt, hatte aber keine Ahnung von Noten, das habe ich mir dann alles draufgeschafft. Aber das Autodidaktische – das sind schon meine Wurzeln. Da gab es eben einfach Leute, die mich geprägt haben, in irgendwelchen Hippie-Wohnungen beim Bahnhof in Bremen, mit denen ich Musik gemacht habe.

Diese frühen Prägungen sind ja enorm wichtig, weil da so ein grundsätzliches Musikverständnis entsteht: Was ist Musik eigentlich? Die Interpretation irgendwelcher Meisterwerke, oder geht es um das ganz Eigene und darum, Spaß zu haben? Das schleppt man ganz lange mit.

IG: Weil du das gerade sagst: Ich glaube, das war dann schon auch die sogenannte Postmoderne – man macht dann was musikalisches Verrücktes, aber es gab ja schon die Moderne: John Cage war schon da! [lacht] Dada auch schon! Das war ja alles schon da. Und mir geht es jetzt so in meiner Entwicklung, dass das noch mal so ein Aufarbeiten ist.

MP: Für mich war da z. B. interessant, dass in den neunziger Jahren die ganze gute Musik der siebziger Jahre veröffentlicht wurde. Da hat man dann auf einmal völlig schräges Zeugs gehört, z. B. von Peter Thomas7, was ich vorher nie wahrgenommen hatte. Dieses Revival, das mochte ich sehr gerne, das war sehr inspirierend.

Ihr hattet doch eine Band in dieser Richtung, oder?

IG: Ja, die Paramounts – mit denen haben wir Filmmusik der sechziger und siebziger Jahre gecovert.

Habt ihr das Gefühl, dass sich die Theatermusik manchmal schon auch zum Ziel setzt, die Musikwelt aufzurütteln, wie es ja andere Genres durchaus tun, oder befreit der Kontext von so einem Neuigkeitszwang?

IG: Ich glaube, das ist eine ganz wichtige, aber auch ganz schwere Frage: Das beschäftigt mich sehr, dieses Thema. Was heißt das: »neu erfinden«? Ich glaube, neu erfinden kann man da jetzt sowieso nicht mehr wahnsinnig viel. Das ist durch, würde ich sagen. Man kann eigentlich nur noch in anderen Zusammenhängen neu erfinden. Es ist aber auch eine Frage, wo das Theater dabei steht. Die Theaterleute sagen immer, sie seien ästhetisch vorne. Ein Freund von mir sagt dann: »Nenne mir einen Regisseur, und ich sage dir, welche DVDs er zu Hause hat; nenne mir einen Bühnenbildner, und ich sage dir, welche Kunstbände er zu Hause hat; nenne mir einen Kostümbildner, und ich sage dir, welche Modelabel er liebt«. Das ist ein bisschen böse, aber auch ganz schön, wenn man einsieht, dass das Theater nicht ganz vorne ist. Die etablierte Kunstform Theater klaut durchaus bei den Blockbustern und sagt aber: »Achtung, wir sind intellektuell!« Eigentlich geht es also eher um Zusammenhänge und neue Kopplungen.

Es ist sicher die Frage, ob Theater überhaupt noch ein Leitmedium ist oder eher andere Medien reflektiert und durcharbeitet. Aber bevor wir zu allgemein werden, sollten wir doch noch mal konkret auf eure Arbeit zurückkommen. Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Theatermusik erfindet? Gibt es da so etwas wie ein System, oder ist es jedes Mal anders?

MP: Ich versuche schon, jedes Mal anders zu sein. Da gibt es für mich ein System: Das entsteht chaotisch! In diesem Chaos habe ich eine Ordnung und versuche, mich dann auch selbst zu überraschen. Nehmen wir mal ein Beispiel: Wenn ich mit dem Computer arbeite, habe ich eine Festplatte. Und auf dieser Festplatte ist wahnsinnig viel Zeugs drauf. Da finde ich manchmal Sachen und bearbeite sie wieder neu. Das ist sozusagen meine Bibliothek, und dann kommt aber auch noch von außen ganz viel dazu.

IG: Bei mir ist es gerade so ein bisschen speziell, weil ich die letzten fünf Jahre ausschließlich mit Herbert Fritsch zusammengearbeitet habe. Und da ist die Situation, dass wir immer wieder gemeinsam ein neues Projekt entwickeln, und das ist was anderes als die typische Theatermusik.

Das heißt, die Projektfindung ist schon Teil deiner Arbeit?

IG: Naja, wir haben ja zunächst viele Komödien gemacht, zuletzt etwas abstraktere Stücke, wie z. B. Murmel Murmel8, und da ist dann schon Herbert derjenige, der dann diese eine Idee hat – er ist ja auch der Bühnenbildner –, die er machen möchte. Ich überlege mir dann auch eine Sache: Also, bei Ohne Titel9 war die Bühne aus Holz, und dann habe ich gedacht: »O. k., wir machen Holz!« Ich spiele Marimbafon, alle möglichen Sounds aus Holz. Bei der die mann10 war das ganz anders, da war eher Plastik das Material. Ich mag es gerne, wenn ich eine relativ feste Idee habe, die mich auch erst einmal überfordert. Und dann begebe ich mich da hinein und komme an Widerstände, und die sind ja gerade gut. Dann entsteht im Ideal eine gute Spannung.

MP: Bei mir gibt es Grundideen, an denen ich dranbleibe und auf die ich auch am Schluss immer wieder zurückkomme. Die sind wertvoll, weil ich sie mir für mich streng überlegt habe. Oft scheitere ich aber auch erst mal mit diesen Ideen: Ich spiele die vor, merke dann aber, dass sie für eine bestimmte Szene viel zu komplex sind oder so etwas, aber ich lass sie nicht aus den Augen, beziehungsweise aus den Ohren. Wie Ingo genieße ich es auch, in einem Regie-Team zu arbeiten. Das tue ich auch regelmäßig mit bestimmten Leuten, weil man da einfach eine gemeinsame Sprache findet. Du musst dich nicht immer komplett neu erklären. Du hast schon einen Stil entwickelt, von dem du ausgehen kannst. Ich bereite mich vor und merke dann auch, dass ich für die Produktion auch wichtig bin, weil man mit Musik schon schnell sehr perfekt sein kann. Viel schneller als irgendwelche Werkstätten kann man mit einem Instrument oder am Computer etwas schaffen, das sonst nur die Schauspieler schaffen, wenn die den Text können. Ich mache das mit Musik relativ oft, dass ich eine Probe an mich reiße, und dann sind alle ganz selig danach [lacht].

Weil dann schon mal was funktioniert und nach was klingt?

MP: Die Musik kann eine Atmosphäre schaffen, aber auch eine ganz radikale Setzung sein und eine Wendung schaffen, an die keiner gedacht hat. Trotz Neonlicht auf der Probebühne kann man mit der Musik da etwas herbeiführen, wo alle von den Socken sind.

Und diese Grundideen, von denen ihr sprecht – beziehen die sich eher auf das Inszenierungskonzept oder auf die Stückvorlage?

IG: Auf die Inszenierung – das liegt natürlich daran, dass wir mit Herbert häufig gar keine Stückvorlagen mehr haben. Und es hängt auch damit zusammen, wie Herbert Theater denkt, wie er Theater macht. Für ihn besteht Theater aus gleichberechtigten Komponenten. Das ist der Text, das ist die Bühne, das ist das Licht, das sind die Kostüme, die Bewegung und die Musik. Und diese Komponenten spielen miteinander. Das Inhaltliche interessiert Herbert dabei gar nicht so sehr, sondern das Theater ist für ihn eine Form. Das ist wie in der bildenden Kunst: Der Pinsel ist nicht mehr dazu da, einen röhrenden Hirsch zu malen, sondern um einen tollen Strich zu machen. So würde er auch einen Schauspieler sehen. Method-Acting z. B. hasst er. Es geht nicht darum, Realität abzubilden, sondern selbst Realität zu sein. Da ist man natürlich schnell in einem formalen Konstrukt drin, und da ist die Arbeit eben eine andere. Musik hat da eine andere Funktion: Man muss nicht eine bestimmte Zeit bedienen, oder irgendetwas untermalen oder illustrieren, sondern das ist erst mal eher so eine Anordnung.

Um nicht beliebig zu sein, erlegt man sich ja gerne selbst Regeln oder Beschränkungen auf für die Musik, an denen man sich dann kreativ abarbeiten kann – du hast vorhin das Beispiel genannt, dass du in einer Produktion vor allem Marimbafon spielst, obwohl du das gar nicht so gut beherrschst.

IG: Ich finde, dass in der Kunst, aber auch in unserer von Apple-Computern perfekt durchstrukturierten Welt, gerade im Fehler etwas Interessantes drin sein kann: eine Energie, ähnlich wie beim Fußballspiel ein Foul, oder der Effenberg-Finger – darüber reden die Leute; die stehen nicht auf perfekten Fußball. Höchstens die Bayern [lacht].

Wie ist das bei dir, Malte: Du machst ja durchaus auch klassische Stücke. Sind deine Ausgangsideen da eher rhythmisch, melodisch? Beziehst du dich auf bestimmte Sounds? Welche Beschränkungen setzt du dir am Anfang eines Projekts? Welches Besteck legst du dir zurecht?

MP: Wichtig ist bei mir immer die komplette Gleichberechtigung von Geräusch und Musik. Cage hat gesagt: Geräusche sind Musik, und Satie hat die Musik als Möbelstück zum Teil der Umgebung erklärt. Das ist für mich wesentlich, und ich mache da auch keinen Unterschied. Da arbeite ich wie ein bildender Künstler, der Schichten auf eine Leinwand packt und dann wieder freilegt – besonders, wenn ich mit dem Computer arbeite. Mich langweilen presets furchtbar. Ich krieche richtig in die Sounds hinein, und dann wird Musik plötzlich zum Geräusch und umgekehrt. Aber um auf deine Frage zu antworten: Da gibt es oft auch einfach einen Impuls vom/von der Regisseur*in. Jetzt z. B. mache ich gerade Peer Gynt11, und da gab es den Wunsch des Regisseurs, dass ich etwas mit ›Dark Folk‹ mache – so düstere Songwriter. Das höre ich mir dann an, kombiniere das aber auch mit eigenen Stimmen, oder digitalisiere das mit Melodyne und mache was Eigenes draus. Beim Peer Gynt baue ich z. B. schon den Grieg12 mit ein und kombiniere das mit Dark Folk, was wunderbar funktioniert [lacht].

Was passiert vor den Proben, was währenddessen? Und seid ihr viel auf Proben?

IG: Das hängt ganz stark vom Theaterverständnis des/der Regisseur*in ab. Wenn man ein Stück macht und das eher so wie Kino denkt, dann kann man auch so arbeiten – dann wird auch die Theatermusik so gemacht wie eine Filmvertonung. Bei mir ist es aber so, dass ich inzwischen sehr viel live mache, und dann kann man natürlich nicht zu Hause am Schreibtisch sitzen, sondern muss auf der Probe sein. Das ist also gar nicht immer eine Sache, die ich als Musiker entscheiden kann, sondern es ist eigentlich eine gemeinsame Entscheidung darüber, was für ein Theater man machen will.

Du hast oft noch andere Musiker*innen dabei. Wann kommen die dazu?

IG: Da muss ich immer mit den jeweiligen Intendant*innen arbeiten – das ist halt eine Geldfrage. Die Intendant*innen hätten mich natürlich gerne als eine Art Korrepetitor, der dann auch schön Noten schreibt, so dass die anderen Musiker*innen erst sehr spät dazukommen müssen. Und ich sage dann: »Nee, so machen wir das aber nicht. Die müssen genauso bei jeder Probe da sein.« Da kriegen die aber Verträge, in denen sie unterschreiben, dass sie einen ›sub‹ stellen, wenn sie mal nicht können – und so mache ich das natürlich auch nicht. Bei einem Schauspieler geht es ja auch nicht, dass der mal für eine Probe jemand anders schickt. Da muss man mit den Intendant*innen oft reden, weil die Musik so gar nicht denken. Meine Musiker*innen haben z. B. Notenverbot! Ich möchte auf der Bühne keine*n Musiker*in sehen, der/die in die Noten guckt, genauso wie ich keine*n Schauspieler*in sehen möchte, der/die sein Textbuch in der Hand hat. Insofern geht auch gar kein ›sub‹.

Deine Musiker*innen gestalten dadurch auch stärker mit?

IG: Ja, natürlich, da kommen auch Ideen, das ist ein Geben und Nehmen. Das funktioniert eher wie Jazz. Natürlich mache ich Skizze oder »Kompositionen«, aber ansonsten entsteht das auch viel über Improvisation und Festlegung. Improvisation betrifft aber nicht nur die Musik, sondern es entsteht eben gemeinsam. Die Bewegung des Schauspielers ist auch ein Musikstück, ist vielleicht ein Solo.

MP: Das ist bei mir ähnlich. Hauptakteur war bei mir neulich ein brummender Kühlschrank. Das war für mich wichtig und für die Schauspieler*innen wichtig, und da bist du eben dann Musikalischer Leiter, d. h. alle kommen zu dir und fragen: Was machen wir jetzt damit? Ich habe ganz oft Schauspieler*innen, die musikalisch arbeiten, in welcher Form auch immer, ob die nun wie Fritz Hauser Schraffuren kratzen13 oder ein Lied singen. Da gehe ich aber meist weg von Kunstgesang. Es gibt ja Schauspieler, die eine Ausbildung haben, aber da trete ich immer ziemlich auf die Bremse, weil das für mich ein anderes Genre ist.

Wie kommuniziert ihr mit euren Mitmusiker*innen und Schauspieler*innen? Benutzt ihr noch Notation?

IG: Noten benutze ich wenig, weil ich selbst kein Fan davon bin. Aber wenn ich z. B. für Schauspieler*innen Chöre aufschreibe, dann erfinde ich eine Form der Notation, die die auch lesen können.

MP: Wenn jemand eine Linie aufgeschrieben braucht, dann mache ich das halt, aber mir ist es wichtig, dass die Musik ja auch immer eingebunden ist, und nicht so eine »Nummer« – es sei denn, das soll im Stück ganz bewusst exponiert als Musiknummer verstanden werden. Ich mach das gerne, wenn es ganz schlicht ist und wie aus dem Nichts dann so ein Gesangsstück kommt. Dann hat das auch was mit dem brummenden Kühlschrank zu tun.

Ich höre da heraus, dass man als Musiker*in auch sehr sensibel für die Probendynamik sein muss, damit das Musikmachen nicht so einen kompletten Kontextwechsel bedeutet: »So, das war jetzt die szenische Probe, und jetzt kommt die Musikprobe«. Es geht um viel fließendere Übergänge, oder?

MP: Im Idealfall sind wir bei einer Produktion von A bis Z da und kriegen alles andere mit, und da entsteht dann die Musik.

IG: Es ist ja auch alles Musik! Was ist Musik? Wenn ich mir anhöre, wie Otto Sander einen Text spricht, dann ist das Musik! Oder wenn ich mir Louis de Funès anschaue, wie der sich bewegt, dann ist das Tanz! Es ist ja nicht so, als ob man Text hat, sich dazu bewegt, und da drunter kommt noch Musik. Das ist ja eins, im Idealfall.

MP: Ich finde z. B. interessant, wenn man einen besonders agilen Schauspieler hat: Dem gebe ich gerne eher einen musikalischen Kontrapunkt, etwas Schweres, was dann noch mal etwas anderes schafft.

Wie läuft auf der Probe das Zusammenspiel mit der Regie?

IG: Weil ich in letzter Zeit nur mit Herbert arbeite, sind wir schon so ein eingespieltes Team, so dass das sehr gemeinsam läuft. Natürlich ist er der Chef, aber es passiert schon auch, dass er mal rausgeht und sagt: »Ingo, mach’ das mal«.

MP: Ich hatte mal ein heftiges Erlebnis, wo ich immer wieder gestoppt wurde. Das war eine Produktion, Geister sind auch nur Menschen14, mit Laien um die 70, und darin gab es eine Tänzerin, die einen komplett crazy Tanz gemacht hat, und dazu habe ich eine unheimlich brutale E-Gitarre gespielt, bis ich mitgekriegt habe, dass die Regisseurin mir die ganze Zeit das »Auszeit«-Zeichen gibt! Nach so einem Abbruch ist es natürlich schwierig, wieder auf 100 zu kommen. Man ist da drin, es entwickelt sich, und dann wird gestoppt, und man hört schon die Peitsche der Regie. Aber das gab dann am Ende auch eine tolle, radikale Energie. Auf der Bühne war das ganz konträr: diese älteren Leute ohne Bühnenerfahrung, die eher so über die Bühne schlurften und dazwischen musikalisch die völlige Kakophonie. Ein toller Moment. Aber das haben wir von den zwölf Aufführungen vielleicht auch nur zwei Mal so richtig hingekriegt und die anderen zehn Mal nur versucht.

Ihr habt schon ein bisschen über euer Instrumentarium gesprochen und gesagt, dass presets nerven: Womit arbeitet ihr, und welche Rolle spielt Technologie in eurem Schaffensprozess?

MP: Presets versuchen halt, ein Abbild von einem richtigen Instrument zu schaffen. Das funktioniert natürlich immer besser, weil es immer ausgefeilter wird, u. a. durch Techniken, bei denen man z. B. pro Klavierton zwölf verschiedene Anschlagsdynamiken sampelt. Natürlich nutze ich diese Instrumente, aber ich drehe so lange daran herum, bis es mir ›schmeckt‹. Ich arbeite viel am Computer und suche viel nach Instrumenten und schaue nach Sounds, die mir gefallen, die ich fast anfassen kann, die fragil sind – und nicht so Hochglanz-Bilder, die mich überhaupt nicht interessieren. Mich interessiert Hans Zimmer nicht.15 Ich arbeite dabei mit Ableton Live: Das ist ein guter Workflow, da höre ich gleichzeitig, was ich mache, und es kommt hinzu, dass die Theater die Musik auch damit abspielen, weil das auf dem Mischpult gut zu rooten ist. Ich muss aber dazu sagen, dass das auch wahnsinnig gefährlich ist, denn du kannst mit diesem Programm alles automatisieren, was natürlich dazu führt, dass wenn ich in einem der vielen Theatern, an denen ich arbeite, auf eine faule und zombiehafte Tonabteilung treffe, dann sitzt beim Durchlauf jemand in der Tonloge, liest eine Zeitung und lässt sich jedes Zeichen vom/von der Inspizient*in geben, weil ich schon alles automatisiert habe. Ich möchte aber die Tonleute dazu zwingen, dass sie sich als Teil jedes Abends verstehen. Ich sage denen: »Wenn mal ein Fehler passiert, ist es nicht so schlimm, aber sei bitte dabei! Das soll leben! Hab noch einen Finger am Regler!« Also: Ableton ist einerseits toll, weil es mir viele Möglichkeiten schafft, und andererseits muss man immer aufpassen, dass das Ganze nicht eine Filmmusik wird.

Früher bestand eingespielte Musik aus fertigen Tracks, die man eigentlich nur noch in der Lautstärke verändern konnte; heute kann man innerhalb der Musik vieles noch in Echtzeit beeinflussen: Eine Geige setzt zwei Takte später ein, weil das Stichwort an diesem Abend später kommt usw. Nutzt ihr diese technisch mögliche ›liveness‹ von eingespielter Musik viel?

MP: Natürlich nutzen wir das und arbeiten damit, und ich finde es auch wunderbar. Andererseits ist es so: Ich hatte gerade eine Produktion, da kam der Tonmensch zum ersten Mal zur »AMA«16, also erst fünf Tage vor der Premiere, und da sagte ich zu ihm: »Hast du eigentlich einen Oberknall?« Und er sagte nur: »Ja, die Arbeitspläne …«. Ich baue immer Sachen, die bestehen aus Geräuschen, aus Musik, aus Attacken – das muss zusammengehen mit dem Licht, den Schauspieler*innen, die sich darauf verlassen, und und und. Damit das ein Ding wird, das leben kann, muss da jemand sitzen, der das gerne macht.

IG: Ich kann das nur unterstützen und sage vor allen Dingen immer: Was haben die für eine Macht! Die haben ihr Mischpult und verfügen über 30.000 Watt, und der/die Schauspieler*in steht alleine da mit blankem Arsch. Und wenn sie diese Macht so nebenbei fahren, dann sollen sie lieber einen anderen Beruf machen. Ich möchte z. B. auch pro Produktion nur einen Tonmann haben und möchte nicht, dass die dauernd tauschen. Da fange ich ja jedes Mal von vorne an! Ich will einen, und der sitzt die letzten drei Wochen neben mir. Dann sagen die: Das geht aber nicht. Dann sage ich: Doch!

MP: Das geht auch eigentlich, aber ich arbeite so viel an kleineren Häusern, und es ist Wahnsinn, was ich da für Kämpfe führe. Es ist Gold wert, wenn man da drei Wochen jemanden neben sich hat. Dann macht das auch Spaß, wenn das ein guter Typ ist.

Wie ist es bei dir, Ingo – arbeitest du auch viel am Computer?

IG: Nee, inzwischen gar nicht mehr. Das ist aber auch eine Absprache mit Herbert, weil wir sagen: Theater ist live, es ist Schweiß. Das ist dann auch eine Entscheidung. Wenn ich überhaupt mit Computer arbeite, dann möchte ich auch, dass er etwas macht, was nur ein Computer kann. Ich möchte ihn nicht benutzen, um eine Realität abzubilden. Wo ich ihn so benutzt habe, war z. B. unsere letzte Arbeit Der eingebildete Kranke an der Burg.17 Da konnte ich nicht live dabei sein und habe dann Musik für drei Cembali geschrieben. Wir sind dann darauf gekommen, dass die auch automatisch spielen könnten – wie diese Pianola Pianos. Diese Cembali hat dann jemand gebaut, und die wurden dann vom Computer mit MIDI-Dateien gefüttert. Und dann natürlich mal los! [lacht] Die können dann auch was spielen, was keine Sau spielen kann. Das war dann auch Konzept. Das fand ich dann schön, diese Verbindung von den uralten Instrumenten, die aber von Hightech zugeballert werden. Bei einem anderen Stück in Hamburg, Die Kassette18, spiele ich jetzt gerade nur Flügel live auf der Bühne und merke aber, durch das ganze elektronische Zeug aus den Neunzigern hat man natürlich auch eine ästhetische Erfahrung gemacht, die ich jetzt wieder mit ans Klavier nehme, also Erfahrungen, die man in der digitalen Welt gemacht hat, auf das Analoge zu übertragen. Dann passiert da was. Das ist auch irgendwie neu, denn diese Erfahrung hatte z. B. der Cage jetzt nicht, obwohl er auch zu schrägen Ergebnissen gekommen ist. Es ist ja z. B. so: Wenn man am Synthesizer ein rosa Rauschen erzeugen will, dann werden per Zufallsgenerator willkürliche Töne gespielt, und wenn man das immer schneller dreht, entsteht ein Rauschen. Und da dachte ich: Da habe ich ja drei Cembali … [lacht]! Und dann habe ich denen Zufallstöne gegeben, Tempo auf 2080 [lacht] und dann spielen diese drei Cembali, und man hört nur ein [macht brummendes Rauschen nach]. Da finde ich den Computer gut, weil er eben so etwas kann.

MP: Auch noch mal zum Computer: Ich sitze manchmal nachts da und spiele Gitarre, nur für mich. Das nehme ich immer öfter auch auf, gebe das dann in den Computer ein und bekomme ein Notenbild. Und aus so einem intimen Moment, nachts in der Küche, mache ich dann Musikstücke. Das finde ich einen kreativen Profit, dass man Dinge so schnell aufnehmen und verarbeiten kann. Aber am Anfang steht mein Spiel, und das gibt eine komplett andere Musik, als wenn ich zu einem Bass oder Schlagzeug nur dazuspiele.

Man könnte ja meinen, dass Digitalität bedeutet, dass man keine Musiker*innen mehr für Aufnahmen bestellen muss, dass aber das Denken das gleiche ist: Man schreibt ein Stück und nutzt eben den Computer als Aufnahmestudio. Was ihr aber beschreibt, ist ein ganz anderer, kreativer Umgang, nämlich zwischen digitalen und analogen Medien die jeweiligen materiellen Bedingungen und damit verbundene ›Denke‹ zu nehmen und dann miteinander eine Reaktion zu erzeugen. Also auch zu fragen: Wie können wir durch das eine Medium einen Abstand zum anderen gewinnen?19

MP: Das Absurde ist ja: Je weiter sich der Computer entwickelt, desto analoger will er klingen. Alles, was an neuem Zeugs rauskommt, tut eigentlich so, als wäre es eine alte Bandmaschine.

IG: Das ist aber auch irgendwie eine Verarsche, denn Digitalität kann eines nicht, was analoge Medien können: Sie kann keine Patina bekommen, sie kann nicht altern. Wir kennen das bei einem Buch: Ein altes Buch von meiner Oma, das schlage ich auf, und das riecht! Oder alte Fotos von früher: Da sehe ich genau, ob das jetzt ein Agfa- oder ein Kodak-Film war, je nachdem, wie es vergilbt ist. Wir Menschen stehen ja auf dieses Altern. Die Digitalität versucht, uns den Wunsch des Unsterblichen zu verkaufen. Dateien können nicht altern. Und ich hoffe, dass es noch so eine Sehnsucht gibt, dass man an diesem Altern noch Spaß hat. Ich glaube auch, dass die Wahrnehmung sich nicht so schnell verarschen lässt: Als ich noch ein richtiges Klavier hatte, konnte ich ohne Probleme zwei Stunden daran herumklimpern, obwohl es relativ schlecht war und verstimmt. Beim digitalen Klavier ist es so, dass man nach einer halben Stunde keine Lust mehr hat. Und ich habe immer noch nicht verstanden, warum das so ist.

MP: Ich glaube, ich weiß, warum. [lacht]

IG: Es ist vielleicht so eine Ermüdungserscheinung, dass das Ohr irgendwann merkt, dass ihm da etwas vorgegaukelt wird. Es hat nicht diese Wärme, auch nicht diesen Fehler vielleicht: Digitalität suggeriert ja sogar noch die Fehler, wie bei diesen Foto-Apps, die das Foto alt erscheinen lassen – aber weil man die völlige Kontrolle über diesen Fehler hat, ist er auch keiner mehr.

MP: Ich kann das noch ergänzen: Beim Digitalklavier weißt du eben auch, dass du da noch 100 andere Klaviersounds hast, und dann klimperst du eben nicht auf dem einen Instrument herum, sondern springst von einem zum nächsten – was mich total nervt. Man hat den Stress, dass man was verpassen könnte.

Ihr habt beide viel über Sound gesprochen, der für Theatermusik sicher ganz wesentlich ist. Was sind für euch Kriterien für einen ›guten Sound‹?

IG: Es gibt ja dieses schöne Spiel: Ich nehme zehn verschiedene Platten und spiele eine halbe Sekunde ab – und ihr wisst genau, welches Jahrzehnt das ist, welches Genre usw.20 Das ist in einer halben Sekunde schon drin. D. h., der Sound transportiert schon wahnsinnig viel an Inhalt. Das ist natürlich etwas, was für Theater sehr interessant ist. Ich brauche nur etwas kurz anzuklicken, und schon bin ich im Barock.

Wenn du dich für einen Sound entscheidest, gibt es da eine Begründung oder eher eine Intuition?

IG: Das fühlt sich richtig an. Warum, weiß ich nicht unbedingt. »Klingt grad geil!« [lacht] Andererseits weiß ich noch, wenn ich Computermusik für Theater gemacht habe, dann hatte ich schon so ein paar Tracks vorbereitet. Ein oder zwei schienen einem immer besonders gelungen, da war man richtig stolz drauf, und dann hatte man noch so zehn andere, die waren eher so »geht so«. Ich habe dann aber die Erfahrung gemacht, dass die schlechteren Tracks es bis zur Aufführung geschafft haben, die guten aber nicht! [lacht]

Ihr habt beide über presets gesprochen, und ich habe auch bisher noch niemanden getroffen, der damit so richtig glücklich ist. Wie schon die Geräusche aus den Geräuschebibliotheken, kann man diese Sounds offensichtlich nicht unverändert übernehmen. Sind die zu perfekt? Fehlt da eine Rauheit?

IG: Man muss sie zum Leben erwecken, glaube ich, indem man sie noch mal durcharbeitet. Das ist wie Kochen. Es gibt ja so fertige Mahlzeiten mit allen Zutaten, aber da will man ja auch noch mal nachwürzen. Man will das persönlich kriegen.

MP: Für mich ist wichtig, die Sachen, die ich mal gut fand, eine Zeit lang nicht zu hören und dann mit Abstand noch mal zu überprüfen. Manchmal kommt dann zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Schicht dazu: Dann finde ich auf einmal, dass da z. B. noch ein tiefer Basston dazugehört, um den Sound noch etwas freizukratzen.

Entzieht sich eure Musik den klassischen Funktionen von Theatermusik?

IG: Es gibt ja so komische Sachen wie Leitmotivik, das hat man natürlich alles mal gelernt in der Schule, aber das ist ja das Problem. Also, beim Eingebildeten Kranken, da kommt die Frau von Argan zu so einer Cembalomusik hereingetänzelt. Dann kommt sie im zweiten Akt wieder, und sie kriegt von mir eine komplett andere Musik – sie tänzelt aber genauso wie bei der ersten! Und dann meinte die Schauspielerin zu mir: »Sag mal, Ingo, ich hab doch da beim ersten Mal diese schöne Musik, wäre das nicht gut, wenn die wiederkommt?« Dann sage ich: »Ja klar, mache ich aber nicht. Komme ich jetzt ins Gefängnis?«

MP: Bei mir ist es so, weil ich ja mit verschiedenen Regisseuren arbeite, da habe ich mich mit vielen schon richtig, richtig doll gestritten. Die kommen dann mit ihrer iTunes-Bibliothek, und im schlechtesten Fall hab ich es schon erlebt, dass ich mit der Gitarre auf der Bühne sitze, und da haut mir die Regisseurin so eine perfekt gemischte Musik rein: Da musste ich erst mal zig-mal schlucken.

IG: Ich kenne so was auch und finde das unmöglich!

Wird Musik da zum reinen Funktionserfüller?

IG: Das ist ein gutes Stichwort. Da gibt es so zwei Sachen: Das eine ist, wenn der Regisseur gerade eine ganz tolle CD geschenkt bekommen hat und muss jetzt die Musik hören, die wahrscheinlich auch noch gerade en vogue ist. Da denke ich dann: Warum machst du nicht Werbejingles? Das ist doch hier Theater! Das verstehe ich dann nicht. Und das zweite sind Schauspieler*innen, die kommen und vorschlagen, dass es doch passen würde, wenn sie in dieser oder jener Szene doch den Song sowieso singen. Ophelia wünscht sich, dass sie »My heart belongs to Daddy« singen darf. Da habe ich mittlerweile eine Standardantwort: »Nenn mir eine Szene aus der kompletten Theaterliteratur, zu der es keinen Popsong gibt! Muss man ihn deshalb machen?« Das kann natürlich auch mal funktionieren, aber dann muss man es in einem Kontext machen, der seine Berechtigung hat und nicht, weil es gerade hip ist. Theatermusik ist nicht, dass ich die Musik so toll finde.

MP: Ich kenne einen sehr arroganten jungen Regisseur. Von dem habe ich drei Sachen gesehen, und jedes Mal lief Portishead. Geht’s eigentlich noch? Klar gibt es atmosphärische tolle Popmusik. Die neue CD von Goldfrapp läuft auch bestimmt in zehn Inszenierungen in Deutschland.

IG: Oder man ist eben Tarantino, der für seine Filme eben nur Pop Songs verwendet, aber das hatte Sinn und Verstand. Das hatte auch eine Aussage. Er hat als Künstler bewusst mit diesen Zitaten gearbeitet und sie nicht einfach nur benutzt.

Heißt das, dass Theatermusik für euch immer etwas ist, das für sich eine eigene Sprache und Stimmigkeit entwickeln muss im Rahmen einer Inszenierung? Dass sie eine eigene Logik verfolgt?

MP: Auf jeden Fall – selbst wenn ich fremde Musik verwende, dann habe ich das selbst sehr genau ausgesucht.

Gibt es wichtige Einflüsse für eure Arbeit – der Name Cage ist schon gefallen, Filmmusik der Sechziger …

IG: Klar gibt es Idole, im Theater fällt mir da gerade nichts ein, aber eine Filmmusik, die ich interessant fand, war die von American Beauty21. Die ist gar nicht so »hollywood-esk«, so streichermäßig, sondern eher wie eine Ethnomusik mit diesem Marimbafon, man denkt fast, der Film spielt in Afrika! Da hat der Thomas Newman einen Sound dafür gefunden, der sehr speziell war – das fand ich toll.

MP: Es gibt so Meilensteine, und das war so einer.

IG: Das ist dann auch so eine Setzung, die man von so einer Filmmusik lernen kann. Bei Spiel mir das Lied vom Tod22 benutzt Morricone so eine Tenor-E-Gitarre zum ersten Mal, und wenn ich heute diesen Sound höre, denke ich: Western. Warum ist das so? Weil Morricone gesagt hat: Das ist Western. Wenn er eine Blockflöte verwendet hätte, würden wir jetzt immer bei Blockflöte Cowboys sehen [lacht]. Das finde ich eben toll, dass man bestimmte Sachen auch einfach setzen kann.

Manchmal ist es gar nicht Musik, die man dann übernimmt, sondern eher so ein Prinzip oder so eine Idee, wie jemand mit Musik umgeht.

IG: Henry Mancini hat ja mal gesagt: »Die beste Filmmusik ist die, die man nicht hört.« Ich würde aber schon sagen: »Die beste Theatermusik ist die, die man hört!« Und das gibt es natürlich im Film auch, dass man als Rezipient wirklich wahrnimmt, was da musikalisch gerade passiert, und dass man nicht so eingelullt wird. Das finde ich ganz wichtig.

MP: Ich erlebe aber immer noch, dass die Theater eigentlich nicht möchten, dass Theatermusik stattfindet. Das Regieteam muss da schon drauf bestehen: Wir brauchen diesen Musiker, das ist wichtig! Dann sind wir manchmal umso radikaler, um das zu beweisen. Ich habe es leider, leider immer wieder als Theatermusiker erlebt, dass die Leute das scheinbar nicht wichtig finden, weil das eine Sache ist, die man nicht anfassen kann. Es ist eine unsichtbare Kunst und wird deswegen oft auch nicht ernst genommen. Ich erlebe das, weil ich verhindert werden soll. Das sind natürlich oft die kleineren Theater, die dann rumjammern, dass sie so wenig Geld haben. Das Schlimmste fand ich mal, als mir erzählt wurde, dass sich der Intendant eines Theaters, an dem ich mal gearbeitet habe, aus einer anderen Inszenierung die Musik genommen hat und sie einfach wiederverwendet hat. Das ist so eine Respektlosigkeit gegenüber dem, was wir da machen.

Und das spiegelt sich ja auch in den Diskursen wider: In der Kritik, aber auch in der Wissenschaft findet Theatermusik praktisch nicht statt, mit wenigen Ausnahmen.

IG: Ja, da war ich mal sehr stolz, dass der Peter Laudenbach im letzten Jahrbuch von Theater heute etwas in dieser Kritikerumfrage geschrieben hat, wo Beste Regie, Bestes Stück usw. gewählt werden, und da schreibt er unter »Ärgernis des Jahres«: »Dass Theatermusik nicht nominiert wird, wie z. B. der tolle Ingo Günther« [lacht].

MP: Ich finde ja gar nicht, dass die Musik da so hervorgehoben werden muss, aber wenn man alles nur Starschauspieler*innen und Regisseur*innen zuschreibt, dann ist das doch Schwachsinn. Es ist ja eine gemeinsame interdisziplinäre Arbeit, die da auf die Bühne gehoben wird; das gilt ja auch für die Kostümleute, für den Lichtmensch …

IG: Es liegt wahrscheinlich daran, dass Theatermusik nicht elementar wichtig ist für ein Theaterstück, genauso wie Video. Bei jedem Stück hast du eine Bühne, Kostüme, Schauspieler, aber Musik und Video sind optional.

Ich glaube aber auch, dass das eine Kompetenzfrage ist. Viele trauen sich zu, einen Schauspieler oder eine Regiehandschrift zu beurteilen, aber bei Musik sind sie dann doch ein bisschen ratlos.

IG: Oft ist es eben subtil, und man muss bewusst drauf achten. Mir geht es ja auch oft so, dass ich aus dem Kino komme, und wenn mich jemand nach der Musik fragen würde, wüsste ich auch nicht immer, was ich da eigentlich gehört habe, obwohl ich vom Fach bin.

MP: Schon, aber wenn ein*e Kritiker*in für viele Leser*innen über Stimmung oder Atmosphäre schreibt, über Tempowechsel und so etwas, dann darf ich doch erwarten, dass er irgendwann mal darauf kommt, dass das auch was mit Musik zu tun hat.

Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es etliche Nominierungen für beste Schauspieler*in gab, wo die eine tolle Szene hatten, zu der es aber eben auch eine tolle Musik gab! Herausragende Theatermomente haben eben oft auch mit der Musik etwas zu tun.

Ingo Günther wurde 1965 in Bremen geboren. Er ist Musiker, Komponist, Arrangeur und Schauspieler. Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim und der Pop-Musik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Mitbegründer der Filmmusikband die paramounts, mit denen diverse CD-Produktionen entstehen. Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Jarg Pataki, Sebastian Baumgarten, Barbara Weber, Claudia Bauer und Armin Petras am Schauspiel Leipzig, dem Bayerischen Staatsschauspiel, Theaterhaus Jena, Nationaltheater Weimar, Schauspiel Magdeburg, Burgtheater Wien, Thalia Theater Hamburg, Maxim Gorki Theater und der Volksbühne Berlin. Zusammenarbeit mit Herbert Fritsch ab 2007, u. a. im intermedialen Kunstprojekt Hamlet X und 2010 für den Film Elf Onkel sowie an der Volksbühne Berlin in Theaterarbeiten wie Die (s)panische Fliege von Franz Arnold und Ernst Bach (2011), Murmel Murmel nach Dieter Roth (2012), Frau Luna von Paul Lincke (2013), Ohne Titel Nr. 1 – Eine Oper von Herbert Fritsch(2014), der die mann nach Konrad Bayer (2015) oder Pfusch von Herbert Fritsch (2016) an der Volksbühne Berlin. Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg als Komponist, Musiker, Schauspieler und Dirigent in Herbert Fritschs Inszenierungen Die Schule der Frauen von Molière (2014) und Die Kassette von Carl Sternheim (2015) tätig. Ingo Günther lebt in Berlin.

Malte Preuss stammt aus Bremen und studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Seit 1990 macht er Theatermusik (Gitarre, Computer, Gesang, Livemusiker, Komponist, Musikalischer Leiter). Er war Mitglied des »Theater Aspik« (u. a. mit Julia Lochte, Matthias Günther, Uli Jäckle, Ingo Günther). 1999–2007 war er fest als Theatermusiker, Schauspieler, Regisseur am Luzerner Theater engagiert (u. a. Die Pest, Das Totenhaus, Jakob von Gunten, Käthchen von Heilbronn, Haruki Murakamis Untergrundkrieg, Mädchenband, Franz Kafkas Käfer, Thomas Bernhards Frost). Er war Gast am Theater Basel (Taking care of baby, Pornografie, Berlin Alexanderplatz, Kabale und Liebe etc.) und machte die Musik zu Lulu, Gift am Schauspielhaus Bochum, Die Methode am Schauspielhaus Zürich, Chronik eines angekündigten Todes, Fegefeuer, Wilhelm Meister, Bei den wilden Kerlen am Schauspiel Hannover, Der Besuch der alten Dame, Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Kasimir und Karoline, Der Prozess, Die Jungfrau von Orleans, Drüberleben am Theater Freiburg, Jugend ohne Gott, Urfaust, Peer Gynt, Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten, Die Netzwelt, Hamlet am Hans Otto Theater/Potsdam, Die Räuber, Das fliegende Kind, Hamlet am Theater Münster, Lupus in Fabula, Kasimir und Karoline am Theater Heidelberg, Judith am Staatstheater Darmstadt. Auch für Radiohörspiele machte er Musik, u. a. beim SWR und SRF. Filmmusiken entstanden zu Kein Zurück – Studers neuester Fall und The Breeder. Diverse CD-Veröffentlichungen (Kriminalmuseum, One before closing, Zooming Kalliroi, Schauspielmusik – Trilogie auf Vinyl, Granulatsexrom und die aktuelle CD Malte Preuss 21:30).

www.maltepreuss.com

Endnoten

1Theater Aspik ist eine freie Theatergruppe, die 1988 von Absolventinnen und Absolventen der Hildesheimer Kulturwissenschaften gegründet wurde. Siehe http://www.theateraspik.de (zuletzt aufgerufen am 13. Dezember 2017).

2Der Studiengang Kulturpädagogik wurde 1979 an der Universität Hildesheim gegründet und gehört neben der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen zu den Wegbereitern und wichtigsten Vertretern einer »Praktischen Theaterwissenschaft« im deutschsprachigen Raum. Siehe: Kurzenberger, Hajo (Hrsg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim, 1998. Ende der neunziger Jahre wurde der Studiengang in »Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis« umbenannt.

3Theater Mahagoni hatte 1981 im Studiengang Kulturpädagogik der Universität Hildesheim seinen Ursprung. Kernmitglieder waren Albrecht Hirche und Kathrin Krumbein, die als »hirche/krumbein productions« in Berlin weiterarbeiteten, Joachim von Burchard als »Theater M21« in Hildesheim/Göttingen, Carsten Hentrich als »Theater Fenster zur Stadt« in Hannover und Adrian Frieling in Athen.Siehe https://hirchekrumbeinproductions.wordpress.com/eine-seite/formerly-known-as-theater-mahagoni/ (zuletzt aufgerufen am 13. Dezember 2017).

4Im Studiengang Kulturpädagogik wählte man ein Hauptfach und ein Nebenfach aus drei möglichen Bereichen: Kunst, Musik und Theater/Literatur/Medien.

5Siehe: Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2001.

6Transeuropa wurde 1994 zum ersten Mal in Hildesheim ausgerichtet und findet alle drei Jahre als Festival für freie Gruppen in Europa statt.

7Das Peter Thomas Sound Orchester prägte mit Film- und Fernsehmusik u. a. zu Raumpatrouille Orion oder Winnetou, den Sound der sechziger und siebziger Jahre in der BRD.

8Murmel Murmel von Dieter Roth, Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 28. März 2012.

9Ohne Titel Nr. 1. Eine Oper von Herbert Fritsch. Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 21. Januar 2014.

10Der die mann nach Konrad Bayer. Regie: Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin, Premiere am 17. Februar 2015.

11Peer Gynt von Henrik Ibsen, Regie: Alexander Nerlich, Hans Otto Theater Potsdam, Premiere am 23. April 2016.

12Edward Griegs Schauspielmusik von 1876 zu Henrik Ibsens Peer Gynt gehört zu den wenigen berühmt gewordenen Beispielen des Genres und findet sich in Form der Peer-Gynt-Suiten noch regelmäßig in Konzertprogrammen.

13Fritz Hauser (*1953) ist ein experimenteller Schlagzeuger und Komponist aus der Schweiz. Ein jüngeres Werk heißt z. B. ›Schraffur‹ für Gong und Theater (2011). Siehe auch: Ziltener, Alfred: »Fritz Hauser«, in: Kotte, Andreas (Hrsg.): Theaterlexikon der Schweiz. Band 2, Zürich 2005, S. 806–807.

14Geister sind auch nur Menschen von Katja Brunner, Regie: Heike M. Goetze, Luzerner Theater, Uraufführung am 7. Mai 2015.

15Hans Zimmer ist der derzeit erfolgreichste deutsche Filmkomponist in Hollywood und bekannt für häufig sehr monumentale Scores, die er mit einer Phalanx von Assistent*innen in einem riesigen Studio produziert. Siehe: Weigel, Markus: »Der Popstar der Filmmusik«, http://www.deutschlandfunkkultur.de/komponist-hans-zimmer-wird-60-der-popstar-der-filmmusik.2177.de.html?dram:article_id=395659 (zuletzt aufgerufen am 18. Dezember 2017).

16AMA steht im Theater für »Alles mit Allem« und bezieht sich auf Endproben auf der Bühne mit Kostüm, Maske, Licht und Ton.

17Der eingebildete Kranke von Molière, Regie: Herbert Fritsch, Wiener Burgtheater, Premiere am 5. Dezember 2015.

18Die Kassette von Carl Sternheim, Regie: Herbert Fritsch, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 3. Oktober 2015.

19Das ist eine bewusste Anspielung auf Heiner Goebbels’ Beschreibung seiner Doppelfunktion als Regisseur und Komponist: »In the past I used to answer the question about the relationship between composing and directing by taking advantage of both professions in order to get a creative distance towards the other medium: composing as a director, directing as a composer.« (Goebbels, Heiner: »›It’s all part of one concern‹: A ›Keynote‹ to Composition as Staging«, in: Rebstock, Matthias/Roesner, David (Hrsg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes. Bristol 2012, S. 111–120.

20Vgl. Wicke, Peter: »The Art of Phonography: Sound, Technology and Music«, in: Derek B. Scott (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to Popular Musicology, Ashgate 2009, S. 147–170.

21American Beauty von Sam Mendes, DreamWorks, 1999.

22Spiel mir das Lied vom Tod von Sergio Leone, Paramount Pictures, 1968.

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