Theater der Zeit

Auftritt

Seebühne Hiddensee: Im Gastmahl des Meeres herrscht Fahndungsdruck

„Die kleine Meerjungfrau“ von Karl Huck und Antje König nach Hans Christian Andersen – Regie Antje König, Bühne Antje Bartel und Christian Werdin, Figuren Christian Werdin und Katharina Schimmel, Musik Otfried Büsing, Künstlerische Mitarbeit Christian Wirrwitz und Thomas Noll

von Michael Helbing

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Karl Huck Seebühne Hiddensee

Inspektor Andersen verhört Verdächtige: Karl Huck mit den Puppen der Prinzessin, der Meerhexe und des Prinzen in der Figurensammlung Homunkulus auf Hiddensee. Foto Martin Weinhold
Inspektor Andersen verhört Verdächtige: Karl Huck mit den Puppen der Prinzessin, der Meerhexe und des Prinzen in der Figurensammlung Homunkulus auf HiddenseeFoto: Martin Weinhold

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Der junge Andersen. So nannte ihn, erinnert sich der Puppenspieler Karl Huck, eine, wenn nicht die Berliner Zeitung einst. Das war Ende 1986, nachdem er „Der fliegende Koffer“ im Theater unterm Dach aufgeführt hatte: in eigener Textfassung und Regie nach Hans Christian Andersens Märchen sowie in offener Spielweise, wie sie in der Puppenspielabteilung der Ernst-Busch-Hochschule damals nicht gepflegt und nicht gelehrt wurde, wie sie Huck aber bis heute praktiziert.

Vier Jahrzehnte später tritt er mit Weste und Zylinder als, nun ja, nicht mehr ganz so junger Andersen auf, der seinerseits den Hergang des eigenen Märchens ermittelt. Nicht als Dichter, sondern Inspektor geht der in „Die kleine Meerjungfau“ einer Vermisstenanzeige nach: junge Frau, sehr schweigsam, spurlos verschwunden. Eine alte Orgel spielt dazu den Kriminaltango …

Hier schließt sich gewissermaßen ein Kreis. Und eine vorläufige Lebensbilanz schwingt durchaus mit in dieser knapp einstündigen Aufführung, die noch einen grundsätzlicheren Fahndungsdruck offenbart: Herr Andersen und/oder Herr Huck suchen nach dem Glück.

Von Andersen kam Huck nie los. Er ist: sein Gott. Nicht nach Westdeutschland, sondern zu ihm nach Odense pilgerte er umgehend, nachdem die DDR ihre Grenzen 1989 geöffnet hatte. Immer wieder spielte und inszenierte er Stücke nach Andersen. So schrieb er es für das Andersen-Buch „Lieblingsmärchen“ auf, das die Illustratorin Kat Menschik jüngst im Verlag Galiani herausbrachte. Er hatte die Idee dazu, beide stellten es im April im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin vor.

Es enthält auch eine Puppenspielfassung von Andersens „Nachtigall“, die Huck vergangenen Herbst in der Regie Antje Königs auf Hiddensee zur Premiere brachte. Kurz darauf inszenierte er wiederum König (vom Hermannshoftheater im niedersächsischen Wümme) in „Das hässliche Entlein“. Beide kennen sich seit dem Studium in Berlin, gründeten dort dann das Figurentheater Homunkulus (aus dem 1997 Seebühne Hiddensee in Vitte hervorging) und arbeiten bis heute regelmäßig zusammen.

In diesem Jahr, da des Dichters 220. Geburtstag gefeiert wurde und im August dessen 150. Todestag ansteht, vollendeten beide sozusagen ihre Andersen-Trilogie. König inszenierte in der Seebühnen-Spielstätte „Homunkulus Figurensammlung“ Huck als Andersen und Andersen als Huck. Der lässt sich von vier Puppen ohne Unterleib, während er sie technisch gesehen spielt, gleichsam traumwandlerisch durch eine von hinten aufgerollte Geschichte führen. Sie beginnt im Grunde dort, wo Andersens Märchen endet. Die Meerjungfrau selbst kommt deshalb als Puppe gar nicht vor. Sie ist als Figur hier buchstäblich nur noch ein Schatten aus der Vergangenheit – und eine Stimme, von Tochter Johanna Huck eingesprochen, die ihre Geschichte in einem Tagebuch hinterließ.

Huck, der immer wieder mal mit Themen und Bildern aus dem Gastgewerbe spielt – und zuletzt auch König im „Entlein“ als Portiersfrau im Hotel inszenierte –, siedelt die Handlung im „Gastmahl des Meeres“ an: Restaurant mit Fremdenzimmern, wo eine ungenießbare Blaubrasse auf den Tisch gelangt, später aber Spaghetti alle vongole (mit Venusmuscheln), und wo eine Fischgrippe grassiert.

Hierher verschlug es, nach einer Ölpest, die Meereshexe Etna als Wirtin, während Poseidon, einst Herrscher über die Meere, Tische abräumt und Gläser spült. Er gab die Vermisstenanzeige zu seiner jüngsten Tochter auf. Herbergsgäste sind, wegen Renovierungsarbeiten im Schloss, Prinz und Prinzessin: er, in den sich das Mädchen hoffnungslos verliebte und der sich unternehmerisch mit Schiffe versenken beschäftigt, sie, die dessen divenhafte, aber längst illusionslose Gattin wurde.

Mit und in diesem Personal brechen Huck und König die allzu märchenhafte Gut-und-Böse-Dichotomie konsequent auf, zugunsten von holprigen Lebenswegen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ausgestattet mit Stolperfallen aus Fehlern, Schuld und Scheitern. So entstehen: Charakterköpfe, die nicht bleiben konnten, was sie waren, sondern sich neu erfinden müssen.

Sie werden vor, an und hinter einer dreiteiligen Wand sicht- und hörbar, mit Drehtür in der Mitte sowie diversen Spielluken, die sich darin öffnen lassen. Davor ein Stehtisch mit Hochprozentigem. In dieser Kulisse entfaltet Huck seinen ironischen bis melancholischen Spielwitz, dem er ruhig noch mehr Raum und Zeit geben dürfte. Ihm gelingt es aber erneut, eine zeitgenössische Erzählweise mit einem Charme des Altmodischen zu verbinden, der ein Bewusstsein für (Kultur-)Geschichte atmet.

Im Inhalt wie in der Form wird dabei die Vergangenheit zum Resonanzraum der Gegenwart. Auch dann, wenn die Stimme der Meerjungfrau zur Stimme der Callas wird, die wie aus einem Grammophon und jedenfalls wie aus einer anderen Zeit Puccini-Arien ins Gedächtnis zurückruft: Laurettas „O mio babbino caro“ („O mein lieber Papa“) erinnert an das Glück einer Vater-Tochter-Beziehung, Cio-Cio-Sans „Un bel dì, vedremo“ („Eines schönen Tages werden wir sehen“) beschreibt eine ins Jenseits gerichtete Hoffnung.

Der ältere Andersen spiegelt sich dabei im jungen und richtet den Blick, das ist die größere Dimension dieses vermeintlich kleinen Stückes, auf jene, die nach ihm kamen und kommen. Sie sind sein Glücksversprechen.

Erschienen am 16.7.2025

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