Magazin
Ethnologin der Scham
Annie Ernaux: Die Scham. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2020, 110 S., 18 EUR.
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)
Ein Ereignis zerteilt den Sommer eines jungen Mädchens. Am 15. Juni 1952 versucht der Vater von Annie Ernaux ihre Mutter umzubringen. Von dieser Zäsur ausgehend entwickelt die Autorin eine Topografie der ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln, die ihr Aufwachsen in einer französischen Kleinstadt prägten. Mit Fotos, Zeitungsartikeln und populären Liedern der Zeit erinnert sich Ernaux an das Mädchen, das sie damals war.
Bereits 1997 erschien „Die Scham“ in Frankreich. Die 23 Jahre später im Suhrkamp Verlag veröffentlichte Übersetzung ergänzt das autobiografische Werk Ernaux’ zu ihrem 80. Geburtstag. Wie in ihren vorangegangenen Erinnerungsarbeiten rekonstruiert die Autorin das Milieu ihrer Kindheit als Ethnologin ihrer selbst. Dabei ist das einschneidende Erlebnis, der versuchte Mord, kein Anlass zur psychologisierenden Analyse.
„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ In dem drastischen ersten Satz benennt sie sachlich die Szene, um die sich ein Sommer im Nachkriegsfrankreich kristallisiert. Darin das Unaussprechliche zu Papier zu bringen, ist für sie ein Akt der Distanzierung. Der Gewaltakt gehört nun den Leserinnen. In der externalisierenden Geste teilt sie auch die Scham, die seitdem in ihr Leben gedrungen ist. Das Gefühl der Unwürdigkeit stellt sich im Zusammenprall der Verhaltensregeln in ihrem familiären Umfeld und der katholischen Schule her,...