Stück
Wenn der Moment der Verletzlichkeit zur Ware wird
Der Autor und Regisseur Boris Nikitin über sein für die Mülheimer Theatertage nominiertes Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ im Gespräch mit Sabine Leucht
von Sabine Leucht und Boris Nikitin
Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)
Assoziationen: Dramatik Dossier: Neue Dramatik Staatstheater Nürnberg
Boris Nikitin, Ihr aktuelles Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“, das am Staatstheater Nürnberg uraufgeführt wurde, bezieht sich sehr konkret auf die berühmt-berüchtigte TV-Show „Big Brother“, die in Deutschland im Jahr 2000 auf RTL II gestartet ist. Haben Sie die erste Staffel damals gesehen?
Nein, für mich war das eine Form von Trash, die mich zu der Zeit noch nicht interessiert hat. Ich war Anfang zwanzig und hatte mich in einer gewissen naiven Überheblichkeit eingerichtet.
Sie haben sich also der ersten Reality-Show im deutschen Fernsehen erst wieder als Theatermacher genähert, der schon etliche Stücke mit Titeln wie „Imitation of Life“ oder „Sei nicht du selbst!“ geschrieben und inszeniert hat.
Gewissermaßen ja. Als ich in den nuller Jahren in Gießen studierte, habe ich mich viel mit dem Thema der Selbstdarstellung und der Darstellung „echter“ Menschen auseinandergesetzt und die Behauptung des „echten Ich“ kritisch gesehen. Ich empfand derartige Setzungen im Theater in vielen Fällen als Reduktion von Komplexität, weil die Personen auf ein Selbst festgenagelt wurden oder sich selbst festnagelten, das sie beim Verlassen der Bühne nicht einfach als Rolle ablegen können. Insofern war es auch eine Reduktion von Möglichkeiten, die sich verschärfte, wenn Menschen, die sich selbst repräsentieren sollten, von anderen auf die Bühne gestellt wurden. Das hat mich beschäftigt.
Bei „Big Brother“ wie in „Erste Staffel“ ist die Rahmung der Container, dessen Bewohner 102 Tage lang Alltag spielen und dabei beobachtet werden. Wenn Sie Ihrem Stück die Sätze voranstellen: „Früher haben wir über den Container gelacht. Heute sitzen wir alle selbst drin“, kann das derzeit von der Corona-Isolation bis zur Social-Media-Bubble vieles bedeuten. Was meinen Sie damit konkret?
Ich wollte das 20. Jubiläum der ersten Staffel zum Anlass nehmen, ein Zeitfenster aufzumachen. Ich und meine Freunde haben uns damals über diese Formate lustig gemacht. Heute sind wir alle dazu aufgefordert, zum PR-Manager unseres Selbst zu werden, um nicht in der Unsichtbarkeit zu versinken. Dass „normale“ Menschen, die nicht qua Beruf im Entertainment tätig sind, zum Gegenstand der Kamera werden, dass das gewöhnliche und alltägliche Sosein zum zentralen Rohstoff eines kompletten Zeitalters und unsere Privatsphäre gläsern geworden ist: das hat damals angefangen. Das ist die Behauptung des Abends.
Sie haben in Ihrem 2017 entstandenen „Versuch über das Sterben“ über das Offenbaren der eigenen Verwundbarkeit als Stärke gesprochen, die einem eine größere politische Wirksamkeit verleiht. Hat diese Geste im „Big Brother“-Container ihre Unschuld verloren?
Ja, vielleicht. Insofern es hier nicht um ein politisches Sichtbarmachen geht, sondern der Moment der Verletzlichkeit zur Ware geworden ist. Die Leute im Container sind verwundbar, weil sie sich mit ihrem bürgerlichen Selbst und dem eigenen Namen einer Öffentlichkeit als Objekt präsentieren und dabei bewertet werden. Sie verwerten sich ganz. Verschärft dadurch, dass es sich um einen Wettbewerb handelt. Der Container ist keine simple Zoo-Situation, sondern das Ganze hat eine Casting-Struktur, wodurch jedes Verhalten nicht nur beobachtet wird, sondern zugleich automatisch unter Verdacht steht: vonseiten des Publikums, das immer darüber nachdenkt, ob eine Person sich auf eine bestimmte Weise verhält, um in der Gunst der Zuschauer:innen zu steigen, aber auch die Bewohner:innen untereinander beobachten und bewerten sich ständig. Das ist konzeptionell genial für die Show, die ich überhaupt als ein großes Kunstwerk bezeichnen würde, jedoch ebenso als ein zynisches Modell unserer Zeit. Die sozialen Medien funktionieren heute ähnlich: Es ist schwer, den sich dort äußernden Personen keine hidden agenda zu unterstellen, handelt es sich bei diesen Medien ja strukturell in den meisten Fällen um Werbeplattformen in eigener Sache.
Es ist ein Leben unter drei Imperativen, die eigentlich nicht miteinander kompatibel sind: Zeigt euch, wie ihr seid! Vertragt euch! Unterscheidet euch, und setzt euch gegen die anderen durch!
Eigentlich würde man sagen: All diese Widersprüche kann man gar nicht aushalten. Doch das Verrückte ist: Es geht! Auch wenn es das gesamte Leben unter eine Spannung setzt, an die wir uns heute irgendwie gewöhnt haben, selbst wenn wir permanent spüren, dass etwas nicht stimmt.
Zum Thema Gewöhnung gibt es eine Szene im Stück, in der Andrea mehrmals hintereinander eine Tüte Kaffeepulver fallen lässt und erklärt, es fühle sich mit jedem Mal normaler an: „This is repetition, this is reality.“ Ist das ein Schlüsselsatz?
Dass Wiederholung zur Gewöhnung führt, beschäftigt mich schon lange. Realität ist Wiederholung. Beim ersten Mal ist es seltsam, beim zweiten Mal gibt es etwas, das man wiedererkennt, und beim dritten Mal wird es zur Form. Eigentlich banal. Wir haben Anfang April 2020 mit Masken proben müssen, was wir anfangs unangenehm und auch etwas peinlich fanden. Aber spätestens nach ein paar Tagen war es eine Tatsache, an die wir uns gewöhnt hatten. Beziehungsweise haben wir uns an den Widerspruch gewöhnt, dass man sie trägt, obwohl man sie nicht tragen will. Ein verblüffender Aspekt von Realität: Man gewöhnt sich nicht nur an die Dinge, sondern auch daran, dass man sie aushält. Dasselbe gilt für die Wettbewerbssituation. Insofern ist es schon ein Schlüsselsatz in dem Stück.
In der Aufführung gibt es einige Momente, in denen einem der Atem stockt: Wenn etwa Jürgen in einer entspannten WG-Szene beteuert: „Ich würde euch nie nominieren“, sprich: rausvoten – und kurz danach ploppt eine Einblendung mit den Namen auf, die jeder am folgenden Tag zum Ausscheiden aus dem Container vorgeschlagen hat.
Auch das sind Widersprüche, die ausgehalten werden. Zugleich war ich beim Schauen der Originalfolgen sehr davon bewegt, was menschlich zwischen den Bewohner:innen passiert ist. Durch die großzügig bemessene Zeit scheinen sich innerhalb des Containers soziale Beziehungen herausgebildet zu haben, die ich den Protagonist:innen wirklich abgenommen habe. Es gab sogar Versuche, sich gegen den Nominierungszwang zu verbünden. Man muss sich das nur mal vorstellen: Man versucht, sich eine gute Zeit zu machen, und es geht dabei dauernd um eine Bewertung deines Selbst. Mich hat das an den Sportunterricht in der Grundschule erinnert, wenn Teams gewählt wurden und man Angst hatte, dass einen niemand will. Mit dieser kindlichen Angst des Nicht-Gemochtwerdens spielt diese Containersituation. Und aus der Spielstruktur, in der die Kameras 24 Stunden pro Tag an sind, gibt es kein Entkommen. Das ist ihr totalitärer Charakter. Und dennoch haben die Bewohner:innen es geschafft, sich den Container irgendwie anzueignen, was vielleicht nur deshalb möglich war, weil sie die Ersten waren und selbst noch nicht wussten, wie das, was sie tun, von außen ausschaut. Diese subversive Naivität ist nicht wiederholbar.
Hatten Sie auch Kontakt zum ursprünglichen „Big Brother“-Cast?
Ich habe Sabrina und Alex getroffen. Die erste Stückidee war, einen Abend mit der kompletten Originalbesetzung aus dem Jahr 2000 zu machen. Es sollte eine Überschreibung von Tschechows „Kirschgarten“ werden: Wir kehren alle nochmals in den Container zurück, aber wir sind zwanzig Jahre älter geworden, und die Welt hat sich verändert. Darin hätte sich – so dachte ich – eine Wahrheit jenseits der Bilder offenbart: die Realität der Zeit, der Sterblichkeit, der Verwundbarkeit. Als sich zeigte, dass die Idee so nicht realisierbar ist, habe ich das Konzept verändert. Die Idee, dass professionelle Schauspieler:innen Menschen darstellen sollten, deren entscheidendes Merkmal es gerade ist, keine Profis zu sein, fand ich sehr reizvoll.
Können Sie beschreiben, wie das Stück entstanden ist, dessen ästhetisch überformte, narrativ surreale Passagen gegen Ende die Überhand über die scheinbar dokumentarischen gewinnen?
Die konzeptuelle Setzung am Anfang des Prozesses war die eines Reenactments. Es sollte aber nie eine saubere Eins-zu-eins-Reproduktion werden, in der nur O-Ton-Material in einem anderen Rahmen oder Zusammenhang präsentiert würde. Das hätte zwar seinen Reiz gehabt, zugleich habe ich einen solchen Ansatz aber immer als ein wenig feige empfunden. Ich hatte das Gefühl, ich muss mich als Autor mit in das Material einschreiben, mich selbst outen. Das ist ohnehin ein Thema, das mich beschäftigt. Es ist also auch viel Dichtung im Text. Und dass sich der zweite Teil noch einmal in eine andere Richtung bewegen würde, hat sich während des Schreibens und aus Improvisationen der Schauspieler und Schauspielerinnen entwickelt, entspricht aber auch der Struktur vieler meiner Stücke und Inszenierungen. Wenn man dem Abend eine Identität gibt, die sich dann jedoch unerwartet ändert, werden die vergehende Zeit und die Realität als etwas Organisches, Veränderbares physisch spürbar. Das ist für mich ein zentrales Element von Theater: die Lust und Sehnsucht nach Veränderung. //