Protagonist:innen
Radikal, politisch und revolutionär
Laine Halpern Zisman gibt Einblicke in die queere Theater- und Performancegeschichte Kanadas und erzählt, warum Vielfalt nicht immer gleich divers ist
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)
Assoziationen: Akteure Nordamerika
Manchmal kann sich die queere Theater-Community unglaublich klein anfühlen, besonders wenn man den Performancebereich in Kanada betrachtet. Dies kann zu der Vermutung verleiten, es handle sich dabei um eine einheitliche Gemeinschaft, als wäre, wenn von queerem Theater gesprochen wird, eine bestimmte Community, ein bestimmter Stil, eine bestimmte Ästhetik oder eine bestimmte Art von Kunst gemeint. Allzu häufig wird diese Sicht von queerem Theater zu einem Code für homosexuelles weißes Mainstreamtheater und schließt (oder löscht) Arbeiten aus, die nicht in diese Kategorie passen. Auch wenn populäre Schilderungen und Archive dies möglicherweise nahelegen, gibt es keine einheitliche queere Theater-Community in Kanada. Die Vielfalt ist ebenso divers, komplex und vielschichtig wie die Menschen, die sie erschaffen, und genau das macht sie so bemerkenswert. Obwohl zahlreiche unterschiedliche Gemeinschaften und Menschen queere Kunst machen, konzentriert sich ein Großteil der Forschung, der Archivarbeit und der großen Produktionen auf die stärker privilegierten Anteile der LGBTQ-Bevölkerung, hauptsächlich weiße, schwule oder queere cis-Männer.
Stärker marginalisiertes queeres Theater wie die Performances von queeren Frauen oder transgender Frauen of Color werden an den Rand gedrängt und erhalten weniger Förderung und Ressourcen. Wie die Theatermacherin Moynan King beschreibt, bekommen schwule Männer Öffentlichkeit und Förderung für ihre Kunst, während „die queere Künstlerin sogar innerhalb von als alternativ und politisch identifizierten Institutionen wie Frauentheater und schwule Theater ‚die Andere‘ bleibt.“ Forschung und Förderung für Indigene, nicht-weiße, körperlich beeinträchtigte und transgender queere Künstlerinnen waren in der Vergangenheit sogar noch stärker eingeschränkt, wodurch ihre bedeutenden Beiträge zur Geschichte des queeren Theaters ausgelöscht wurden. Dabei sind es oft genau diese Künstlerinnen und Kompanien, die unglaubliche schöpferische Risiken eingehen, sich mutig und notwendig äußern, und unser Verständnis dessen erweitern, was queeres Theater sein kann. Wenn wir also die queeren Theaterarbeiten feiern, die in Kanada produziert wurden, müssen wir auch die Frage stellen, wessen Stimmen am meisten Gehör finden, wer das Rampenlicht bekommt und wer die Preise und Stipendien. Aus historischer Perspektive lässt sich der Erfolg von queerem Theater in Kanada an der Aufzählung einiger der bedeutendsten Theaterkompanien ablesen, die es produzieren. Buddies in Bad Times in Toronto ist das größte und dienstälteste LGBTQ-Theater der Welt (seit 1979). Die frank theatre company (seit 1996) ist die einzige professionelle Theaterkompanie mit explizit queerem Profil in Vancouver. Das Theatre Outré (seit 2012) ist eine professionelle queere Theaterkompanie mit Sitz in Lethbridge, Alberta. Obwohl wir einige Erfolge dieser Kompanien feiern sollten, ist es auch wichtig festzuhalten, dass seit ihrer Gründung sowohl ihre Produktionen als auch ihre Leitungsebenen von weißen, schwulen, männlichen Stimmen dominiert waren. Dies ändert sich gerade. Fay Nass, die Künstlerische Leiterin des frank theatre, und Evalyn Perry, die ehemalige Künstlerische Leiterin von Buddies in Bad Times, geben BIPoC- und migrantischen Stimmen den Vorrang – und verschieben so das Monopol des weiß-Seins, das in der Vergangenheit einen Großteil des queeren Theaters in Kanada definierte. Andere Theaterkompanien aus Toronto, die nicht ausschließlich auf queere Arbeiten spezialisiert sind, aber auch Arbeiten von Indigenen, Schwarzen und nicht-weißen Künstler:innen entwickeln und produzieren, sind unter anderem: LemonTree Creations, Sulong Theatre, Bcurrent Theatre, Watah Theatre und Native Earth. Natürlich ist diese Liste nicht vollständig, doch stellt sie einige der – hauptsächlich nicht-weißen – Kompanien vor, die daran arbeiten, queere Stimmen im ganzen Land zu repräsentieren. Während der Covid-19-Pandemie produzierten sowohl das frank theatre als auch Buddies in Bad Times digitale Formate, um Live-Performances auch im monatelangen Lockdown zugänglich zu machen. „be-longing“, eine kollaborative digitale Musikperformance des frank theatre, kann auf der Website der Company angesehen werden, während das von Buddies in Bad Times gemeinsam mit dem nationalen Fernsehsender CBC produzierte „Pride Inside Cabaret“ auf YouTube zugänglich ist. Eine Fülle von Produktionen und Kompanien beschäftigt sich in kritischen queeren Performances mit Intersektionalität (sich überschneidende Diskriminierungsformen, Anm. d. Red.). Die genannten sind nur einige wenige Beispiele aus jüngster Zeit, die normalisierten Rassismus, den Kolonialismus der europäischen Siedler, Sexismus und weiße Vorherrschaft anprangern. Queerem Theater in Kanada geht es nicht lediglich um die Erweiterung der Grenzen von Performance und Kunst, sondern vor allem darum, unser Verständnis von Identität, Kultur und Gemeinschaft zu hinterfragen. Die radikalen queeren, politischen und revolutionären Arbeiten bringen Stimmen zu Gehör, die in unserem Land allzu oft zum Schweigen gebracht wurden, und bieten ein Ventil und Medium für tiefgreifenden Wandel und politische und soziale Veränderung. //