Theater der Zeit

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„Es ist die Kunst der Fuge, sich nicht zu fügen“

Rückblicke auf Theater der Zeit

von Friedrich Dieckmann

Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)

Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte

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Dass die Zeit ein sonderbar Ding ist – wir wissen es nicht erst durch Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, die es allerdings besonders eingängig zu sagen wussten, zuletzt in Barrie Koskys blitzend-einfallsreicher Münchner Video-Inszenierung des „Rosenkavaliers“, in der die Marschallin am Ende des 1. Aktes melancholisch-graziös auf dem Pendel einer riesigen Standuhr hin und her schwang. 75 Jahre Theater der Zeit – das ist eine ziemliche Strecke, und wenn wir die alten Hefte wieder in die Hand nehmen, tritt uns das Timbre der Zeit, der sie entsprangen, mit einer Anschaulichkeit entgegen, wie kein Roman sie erreicht und keine Theatergeschichte. Die Zeit selbst scheint zu uns zu sprechen, nicht nur durch Texte, sondern ebenso durch Druckgestalt und Papier, die Abbildungen, den Preis, den Umfang. Als ich 1965 zu Theater der Zeit stieß, war die Zeitschrift 19 Jahre alt und immer noch sehr bescheiden gewandet: im gestauchten DIN-A-4-Format zum Preis von 1,50 Mark 42 eng bedruckte holzhaltige Seiten, von denen acht römisch bezifferte Stellenanzeigen, Spielpläne von 71 Opern- und Schauspielhäusern des Landes (davon neun in Berlin), Premierenbesetzungen und allgemeine Nachrichten enthielten.

Das Impressum findet man längsgedruckt auf dem rückseitigen Umschlag: Manfred Nössig, dem Chefredakteur, attachieren sich außer Karl-Heinz Adler (bin ich ihm jemals begegnet?) Horst Gebhardt, Hans-Gerald Otto und Ingrid Seyfarth, alle drei mir in guter Erinnerung. Otto, ein so angenehmer Partner wie später sein Nachfolger Wolfgang Lange, war für das musikalische Theater zuständig und schickte mich zu den Premieren zweier Opern des aus Siebenbürgen stammenden und als Professor und Akademiemitglied in DDR-Berlin wirkenden Rudolf Wagner-Régeny, eines Komponisten, dessen Schauspielmusik zu Brechts Farquhar-­Bearbeitung „Pauken und Trompeten“ – mein Artikel nannte sie „ein Meisterwerk zärtlich-ironischer Einfühlung“ – Furore gemacht hatte. Das Erfurter Opernhaus hatte sich des 1935 unter Karl Böhm in Dresden uraufgeführten und danach sehr erfolg­reichen „Günstlings“ erinnert, die Deutsche Staatsoper Berlin der 1939 unter Herbert von Karajan an der Lindenoper uraufgeführten „Bürger von Calais“, beide mit Texten des Bühnenbildners und Brecht-Freundes Caspar Neher. Mit beiden Werken hatte ich gewisse Schwierigkeiten, unter dem Titel „Deutsche Oper unterm Faschismus“ beschrieb ich sie als Versuche, widerständige Fabeln (im einen Fall ging es um den tyrannisch-skrupellosen Günstling einer britischen Königin, im andern um die zum Opfer eines siegreichen Belagerers bestimmten mittelalterlichen Stadtväter von Calais) durch eine traditionsbewusste Simplizität der textlichen wie musikalischen Faktur zu ermöglichen.

Ich hatte viel Raum für meine Einwände bekommen, die sechs Hefte später auf lebhafte Gegenreaktionen stießen. Ernst Hermann Meyer, als Komponist wie als Musikpolitiker prominent, gab abweichende Meinungen kund, und der ND-Kritiker Ernst Krause kippte schier aus den Pantinen: „So bitte nicht!“ endete seine Attacke auf dieses „Ärgernis“, für die er auch die Wochenzeitung Sonntag in Anspruch nahm. Im folgenden Heft meldete sich, kritisch, aber nicht polemisch, der Wagner-Régeny-Biograf Dieter Härtwig zu Wort, zugleich war mir Gelegenheit zu einer eingehenden Erwiderung ge­geben: „Der Kritiker abermals“. „Mit gekränkten Leuten ist schwer reden. Mit schimpfenden schon gar nicht“, hob sie an und vertiefte sich in der Folge in das von beiden Opern auf je eigene Weise auf­geworfene Problem, einer immer komplizierter gewordenen Gesellschaft mit dem Gestus retrograder Vereinfachung zu begegnen. Die Redaktion, auf Debatten geradezu erpicht, gab mir drei Seiten Raum, die Bahn war frei für weitere Mitarbeit, und schon in der übernächsten Nummer war ich wieder für die Zeitschrift unterwegs: zu „Zauberflöten“-Premieren nach Leipzig und Weimar.

Der Henschel Verlag als Träger der Zeitschrift wurde zu dieser Zeit noch von seinem Gründer geleitet, dem allseits geschätzten Bruno Henschel, der ihn 1952 der SED übereignet hatte; erst 1967 wurde er durch einen farb­losen jungen Mann abgelöst, der als Beigeordneter des ­agilen Cheflektors Horst Wandrey erschien; die Zeitschrift, inzwischen monatlich erscheinend und in neuem, deutlich opulenterem Gewande, war 1966 Organ des neugegründeten Theaterverbands der DDR geworden. Die Veränderungen, auf das niederschlagende ZK-Plenum vom Dezember 1965 folgend, waren symptomatisch für den Weg des Sozialismus in den bürokratischen Engpass. Klima und Spielräume der Arbeit veränderten sich auch für den freischaffenden Außenseiter, der 1971 im Henschelverlag einen gegen starke innerbetriebliche Hindernisse durchgesetzten Großband über „Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble“ veröffentlichte und etwas ­später als Dramaturg ins Berliner Ensemble eintrat. Die Geschichte der Zeitschrift wie des Verlages wird erst noch zu schreiben sein.

Ich überspringe die weiteren Stationen meiner Mitarbeit, die immer eine freischaffend-sporadische blieb, übergehe eine Besprechung der „Faust“-Inszenierung von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz am Deutschen Theater, die Anfang 1969 nur als Leserbrief erscheinen konnte, und lasse auch meine als Auftakt zum Beethoven-Jahr erscheinende Dialogneufassung des „Fidelio“ beiseite, die von dem erschrockenen Kulturministerium sogleich mit einem Bann belegt wurde; Horst Gebhardt, inzwischen Chefredakteur, verließ das Blatt. Das war 1970, zwanzig Jahre später trat eine ganze Bevölkerung, deren Landesgrenzen nach nur einer Himmelsrichtung offen gewesen waren, unversehens ins Freie und konnte sich darüber Gedanken machen, wie es im Sevilla der Oper nach der Öffnung der Mauern wohl weitergegangen war. Einer Sicherheit, die auf starken ­Einschränkungen beruhte, folgte eine Unsicherheit, die auf der Freiheit von allen Einschränkungen außer einer beruhte: kein Geld zu haben. Das betraf auch die Zeitschrift, die sich unter dem neuen, von der Belegschaft gewählten Chefredakteur Martin ­Linzer 1990 nach Layout, Format, Autorenschaft grundlegend umgestaltet hatte, ohne in der neuen, konkurrenzträchtigen Welt Fuß fassen zu können.

Der Henschelverlag ging in die Hände eines Münchner Interessenten über, der die Zeitschrift im März 1992 einstellte – war es nach 46 Jahren mit ihr vorbei? In dieser Lage trat Harald Müller auf den Plan, der eigentlich einen Verlag der Autoren hatte gründen wollen. Er nahm sich der Verwaisten an, deren Niveau im letzten DDR-Jahrzehnt stark gelitten hatte, erwarb vom Henschelverlag die Abon­nentenkartei und ging, im Bund mit einem Essener Verlag ­namens felidae und gestützt von dem als Stiftung in die Neue Welt geretteten Kulturfonds der DDR, an eine Neugründung, bei der ihm Martin Linzer, Frank Raddatz und der hier Schreibende als Herausgeber zur Seite standen. Geld hatte auch felidae nicht, und als der Verlag merkte, dass mit dem Unternehmen keins zu verdienen war, sprang er nach einem Heft ab – wie ging es weiter? Es ging faktisch im Eigenverlag weiter, gestützt auf eine Interessengemeinschaft, die als kollektiver Eigentümer fungierte, und wir alle – Ingeborg Pietzsch und Monika Mirus waren dabei, und Kathrin Tiedemann stieß aus dem Westen dazu – legten uns unter Linzers leichthändig-souveräner Direktion gehörig ins Zeug. Hier war nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren: eine Stimme im Konzert der Zeitschriften und Tageszeitungen, in der die Erfahrungen eines Theaterlandes von europäischem Rang und unverkennbarer Eigenart im Blick auf die in vollem Lauf befindliche Veränderung der ökonomischen Grundlagen, der gesellschaftlichen Beschaffenheit und der ästhetischen Voraussetzungen zur Geltung kam.

Die noch vom alten Henschelverlag verantwortete Übergangsversion der Zeitschrift hatte unter einem verfehlten Layout gelitten: übergroß, blasse Schrift und knallige Überschriften, ein barock überfrachtetes Inhaltsverzeichnis. Hatte man mit Theater heute mithalten wollen? Das neue, auf zweimonatliches Erscheinen angelegte Heft, für dessen Gestaltung wir den Weißensee-Professor Rudolf Grüttner gewinnen konnten, stand im Zeichen einer noblen Askese; in Treptow, wo die Redaktion ihren Sitz ­hatte, sehe ich mich noch mit Harald Müller und Martin Linzer über Grüttners Entwurfsvarianten gebeugt. Eine Zehn-Punkt-­Garamond als Grundschrift, zweispaltiger Satz mit Ausnahme des dreispaltigen Dramen-Textes, Schwarz-Weiß-Abbildungen, die auf dem satinierten Papier (es war leider zu teuer) vorzüglich zur Geltung kamen – das erste Heft, Nr. 1 im Mai 1993, war eine Augenweide und ein redaktionelles wie ­typografisches Meisterstück. Ein Vorwort umriss das neue, durchaus umfassend angelegte Programm: „In einer Situation weltgeschichtlicher Umwälzungen will die Zeitschrift Theaterleuten aus Ost und West, aus Nord und Süd ein Forum der ­Kritik, der Debatte, der Verständigung eröffnen; in ­einer zerklüfteten Theaterlandschaft will sie zu einer gemeinsamen Sprache bei­tragen.“

Ein lustiges Probenfoto von Frank Castorf fungierte als Frontispizvignette, es folgten ­Situationsberichte von sieben Stadttheatern aus den für den Westen neuen Ländern, gefolgt von einem Ministerinterview aus Thüringen. Danach brachte Martin Linzer den frischgekürten Kollektiv­intendanten des Berliner Ensembles in Sicht: Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch, Peter Zadek, Matthias Langhoff (von links nach rechts). Palitzsch äußerte sich gesprächsweise, ein paar Seiten weiter tat dies Thomas Brasch. Inge Pietzsch blickte auf das Schiller-Theater, ich selbst auf die Aufführungen des Freyer-­Ensembles in der Volksbühne Ost: „Theater als Zeitlupe“ – Wiederkehr eines Großmeisters an dem Haus, in dem er einst mit ­Benno Besson den „Guten Menschen“ auf ein stufenförmiges Großpodest gestellt hatte. „Freyers Theater“, endete mein Text, „dieses Teamwork persönlichsten Einsatzes und beschränktester Kosten, malt die Gespenster der Nichtigkeit an die Wand einer von ihren Fortschritten beängstigten Welt. Wo eine geschäftige Wirklichkeit uns Bewegung vortäuscht, sieht er die stehende Zeit und läßt sie vernehmlich ­ticken, was wie eine Uhr aussieht und sich wie eine Bombe anhört.“

Das alte, gänzlich unvergilbte Heft wieder zur Hand nehmend, finde ich unter den Autoren alte Freunde und Kollegen wie Heinz Klunker, Dieter Kranz und Jörg Mihan und stoße auf eine Besprechung von Ruth Berghaus’ Züricher „Freischütz“-Inszenierung aus der Hand Nora Eckerts, die ihren Werdegang durch viele Stationen unlängst in einem fesselnden Lebensbuch beschrieben hat. Voranstehend eine Laudatio der Berghaus auf den Konrad-Wolf-Preisträger Peter Konwitschny, ein Text von einer Eindringlichkeit und Tiefe, die Einblicke in beide gibt, die Laudatorin und den von ihr Gedeuteten. „Das ist ein Talent“, konnte man hier ­lesen, „wie wir es in Deutschland Ost und West selten finden; Konwitschny ist wirklich anregend für beide Hälften, und vielleicht fügt sich ja tatsächlich etwas. Doch die Fuge sollte ruhig sichtbar bleiben, und bei Konwitschny bin ich mir so gut wie ­sicher: Er wird sie nicht verwischen wollen, diese Fuge. Es ist die Kunst der Fuge, sich nicht zu fügen.“

Stand auch die Neugründung der Zeitschrift unter diesem Zeichen? Viel­fache Verwandlungen standen der so sehr geglückten Erscheinungsform bevor, und immer neue Schwierigkeiten bereitete das anfangs zu kurz geratene Inhaltsverzeichnis, das Problem, auf einer, höchstens zwei Seiten alles, was das Heft enthält, mit Titel und Autornamen kenntlich zu machen oder, etwa durch Schwarzdruck mit weißen Buchstaben, im Dunkel zu lassen. Es begleitet die Zeitschrift bis heute, es liegt in ihrem Wesen, das Vielfalt heißt und unter Umständen überschäumend ist. Als ich im Jahre 2005 für die Neue Zürcher Zeitung über den Stand der deutschen Vereinigung zu schreiben hatte, fiel mir die damalige Redaktion als Musterbeispiel des Gelingens ein, ich nannte sie nicht, aber sie war es unverkennbar: „Nach diesen Gesprächen gerate ich in eine Zusammenkunft, die den Eindruck erweckt, als funktioniere es mit der Ost-West-­Differenz der Herkünfte und Prägungen in Deutschland: als lebendige Kooperation von Menschen aus je eigenen Kultur- und Erfahrungsbereichen. Ein Tanzfachmann (mir scheint, er kommt aus dem Westen) … bringt den ­Charakter des Blattes auf den Punkt, als er sagt, man könne von dessen Erscheinungsbild nicht sagen, dass Ost und West keine Rolle darin ­spiele; das Besondere sei, dass man sich der Unterschiede des Blicks bewusst sei und sie wechselweise fruchtbar zu machen ­suche. … Doch wo die geistige Existenz so hoffnungsvoll fundiert ist, steht die materielle immer noch auf des Messers Schneide; das Ganze funktioniert nur auf der Basis von Verzicht und Selbstausbeutung.“

Ist das in den 15 Jahren nach dieser Momentaufnahme anders geworden? Das Coronavirus trifft mit dem Theater auch die Theaterpublizistik; während Produktionsbetriebe schier ungehindert weiterarbeiten, blicken die Produzenten der Kultur entgeistert auf die Rücksichtslosigkeit, mit der die Politik ihnen trotz feinstgesponnener Sicherheitsvorkehrungen die Arbeit untersagt. Dass Kunst Widerstand nicht nur bedeutet, sondern ist, wird sich neu zu bewähren haben. //

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