Theater der Zeit

Auftritt

Salzburger Festspiele: Kopflose Ameisen im Archiv der großen Taten

„Sternstunden der Menschheit“ nach Stefan Zweig – Regie und Sounddesign Thom Luz, Komposition und Musikalische Leitung Mathias Weibel, Licht Gerrit Jurda, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Tina Bleuler

von Sabine Leucht

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Residenztheater Salzburger Festspiele

Isabell Antonia Höckel, Barbara Melzl, Nicola Mastroberadino, Evelyne Gugolz, Vincent Glander und Steffen Höld in „Sternstunden der Menschheit“, Regie Thom Luz, Komposition und Musikalische Leitung Mathias Weibel, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Tina Bleuler bei den Salzburger Festspielen. Foto Sandra Then
Foto: Sandra Then

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Die Redekunst des Cicero, die „Auferstehung“ von Händel und das Versagen des US-Präsidenten Woodrow Wilson beim Schaffen einer friedlichen Weltordnung. Sie alle gehören für Stefan Zweig zu den „Sternstunden der Menschheit“, von denen er 14 in literarischen Essays verewigt hat. Es handelt sich dabei um Momente, in denen die Entscheidungen oder Taten eines einzigen Menschen den Lauf der Geschichte in eine andere Richtung weisen und die laut Zweig „leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen“. Bei den meisten von ihnen waren allerdings die Zielmarken hoch gesteckt und die Taten mindestens zur Hälfte auch Zeugnisse des Scheiterns.

Im Salzburger Landestheater, wo der als liebevoller Chronist des Scheiterns bekannte Licht- und Nebel-Regisseur Thom Luz Zweigs „Sternstunden“ adaptiert und mit der Biografie ihres Autors verschnitten hat, leuchten erst mal nur ein paar Buchstaben um die Wette. Sie blinken kurz unter dem Bühnenportal und lassen Stück für Stück Titel und Untertitel des Unterfangens erscheinen. Das ist hübsch, aber auch etwas umständlich. Bei vielem anderen an diesem Abend geht Luz hingegen sehr direkte Wege und nimmt sogar einiges so buchstäblich, dass man sich wundern muss, wo der Bühnenmagier geblieben ist, der so freischwebende, vieldeutig-versponnene Abende wie „Girl from the Fog Machine Factory“ angerichtet hat.

„Wo ist mein Platz?“, fragen verwirrt und ein wenig abwesend wirkende Menschen, die anfangs die Zuschauerreihen entlanggehen, als hätten sie ihre Eintrittskarten verlegt. Auf meiner Höhe ist es Evelyne Gugolz, die in dieser Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Residenztheater mit fünf weiteren Münchner Kolleg:innen auf der Bühne stehen wird. Und Bingo! Das ist schon die Frage des Abends: Wo ist der Platz des Einzelnen in der großen Weltgeschichte? Wie gehen wir vor den Augen der Ewigkeit noch sehr leichtgewichtigen Heutigen mit den menschlichen, künstlerischen und zeitgeschichtlichen Schwergewichten der Vergangenheit um?

Über Luz’ Antwort darauf muss man nicht lange rätseln. Duri Bischoffs Bühne präsentiert sich als eine Art Archiv vermeintlich großer Taten. Vor und in hohen Regalen liegen eine Unmenge weißer Dinge herum. Statueske Vertreter diverser „Sternstunden“: Eine Kanone, ein Pferdekopf – womöglich für Waterloo und andere Schlachten, ein Obelisk, eine Wolke, ein Rad und vieles mehr, aber alles aus Styropor und darum sehr leichtgewichtig. Der Schauspieler Nicola Mastroberardino hat diesen Ort in einem Interview vorab mit Stefan Zweigs Kopf verglichen. Dann wären die Menschlein, die an den Dingen lauschen, sie beklettern und herumtragen und dabei so unverständlich wie unablässig durcheinanderschnattern, so etwas wie kleine Helferlein, die die Erinnerungen des Autors ordnen. Und zu ordnen, neu zu gewichten und zu durchdringen gab es wohl einiges für den Humanisten, der als Jude und an der rechtsnationalen Politik Verzweifelnder von Salzburg aus nach Brasilien floh, wo er im Februar 1942 in den Freitod ging. Das große optische und akustische Durcheinander drängt einem aber auch eine ganz andere Deutung auf. Dass vier wunderbare Musikerinnen einen lateinamerikanischen Genre-Mix spielen, während die Styropor-Dinge unzusammenhängende Passagen aus Zweig-Texten preisgeben und die Schauspieler:innen dazwischen recht kopflos herumwerkeln, ist ja mit Sicherheit nichts, was Luz nur unterläuft. Diese Dissonanz ist gebaut und sie ist nicht nur anstrengend und überfordernd fürs Publikum, sondern bildet auch Überforderung ab.

Wir können das Gewicht der Historie gar nicht stemmen und schon gar nichts daraus lernen, denn wir sind so mit unserem eigenen Kleinklein befasst, schreit es geradezu aus diesem Wimmelbild. Und dass dieses „Wir“ uns alle meint, unterstreichen auch Tina Bleulers Kostüme: ein farbenfroher Querschnitt des zeitgenössischen anything goes, wenn der Geldbeutel stimmt. Über ihre Klamotten hinaus aber gewinnen diese Menschlein kaum Kontur, die mal fröhlich-naiv und mal genervt in die Statuen hineinlauschen, Steine zu Türmen stapeln und wieder umschmeißen und besonders unleidlich werden, wenn ein Bericht oder eine Mahnung aktuell klingen. Diese kommen zunehmend nicht nur aus den Statuen, sondern werden von den Schauspieler:innen in zu Bällen zusammengeknüllten Papieren gefunden und verlesen. Vieles darin stammt aus Briefen und späten Aufzeichnungen von Zweig, die uns daran erinnern, dass wir nicht besser und gerechter sind als andere, denen es schlechter geht und von „großen Katastrophen“ künden, auf die wir „zutreiben“. Prompt wird der Überbringer der unliebsamen Nachricht unter einer Kiste versteckt, gegen die alle anderen lautstark trommeln und treten. Noch so ein Moment, an dem es fast unangenehm eindeutig wird.  

Die rund neunzig Minuten, die der Abend dauert, ziehen sich teils gewaltig. Ein wenig besser wird’s gegen Ende, wenn die strahlende Isabell Antonia Höckel singt und von den Sehnsüchten und Schmerzen von Zweigs letzten Jahren erzählt. Schon das brasilianische Portugiesisch, das sie spricht, bringt ein wenig Wärme ins optisch kalte und für Luz erstaunlich düstere Spiel. Und konkretes Leid ist bekanntermaßen ohnehin viel bühnentauglicher und emotional fassbarer als die historische Abstraktion. Den Abend rettet Höckel aber ebenso wenig wie das schöne Schlussbild: Die Bühnenarbeiter haben die Regale leergeräumt, die zu riesigen Stockbetten für die Giganten der Weltläufe werden – natürlich längst allesamt tot.  In diesen Regalen legen sich schließlich auch die Schauspieler:innen zur Ruhe. Es ist wie ein finaler Blick aufs Anthropozän.

Erschienen am 8.8.2024

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