Theater der Zeit

Thema

Dem Vergangenen nahekommen

Mai-An Nguyen und Martín Valdés-Stauber im Gespräch über ihre Inszenierungen „stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Kooperation mit dem Piccolo Theater Cottbus und „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen

Das Theater ist flüchtig. Der Momentcharakter ist ihm wesenhaft, der Livemoment der Aufführung gar sein Merkmal. Selbst das Bühnenbild wird eingelagert, umgebaut oder recycelt, da ist das Stück erst abgespielt. Wir haben uns gefragt: Eignet sich das Theater als Medium der Erinnerung? Was vermögen unterschiedliche künstlerische Formsprachen im Sinne der Erinnerung? Wie verändert sich unsere Erinnerungskultur, wenn wir die radikale Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennen? Und: Inwieweit kann das das Theater leisten? Entstanden ist ein Schwerpunkt, der den Blick auf Projekte richtet, die sich mit Erinnerung im Theater auseinandergesetzt haben. Mai-An Nguyen hat das renommierte Projekt „stolpern“ anhand von Stolpersteinen mit Jugendlichen entwickelt, an den Münchner Kammerspielen hinterfragt die Inszenierung „Time Busters“ Erinnerungskultur und wir blicken zurück auf das weit angelegte Festival Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart.

von Martín Valdés-Stauber und Mai-An Nguyen

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Theaterpädagogik Münchner Kammerspiele Schaubühne am Lehniner Platz piccolo Theater Cottbus

Ensemble von „stolpern“, ein theaterpädagogisches Projekt, Leitung: Matthias Heine, Mai-An Nguyen
Ensemble von „stolpern“, ein theaterpädagogisches Projekt, Leitung: Matthias Heine, Mai-An NguyenFoto: Gianmarco Bresadola

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Martín Valdés-Stauber: Warum hast du Theater als Medium der Auseinandersetzung mit Erinnerung gewählt? Welche Rolle können Inszenierungen spielen, in denen Jugendliche auf der Bühne stehen?

Mai-An Nguyen: Ich bin in Verhältnissen aufgewachsen, in denen mir sehr früh klar gemacht wurde, welche Rolle mir für meine Zukunft zugeschrieben wird. Aufgewachsen als Mädchen im Plattenbau einer ostdeutschen Stadt, als Tochter eines vietnamesischen Vertragsarbeiters, nach der Wende geprägt von Armut. Meine Optionen sahen nicht so gut aus. Theater zu spielen gab mir die Möglichkeit auszubrechen. Ich konnte mich in verschiedenen Reaktionen, Verhaltensweisen und Charakteren ausprobieren – völlig gleich, ob diese gesellschaftskonform waren oder nicht. Nirgendwo anders habe ich so viel Freiheit gespürt. Das war schon so in kleinen Spielen im Kindergarten und ging in der Grundschule weiter. 1997 stand ich dann das erste Mal auf der Bühne des Piccolo-Kinder- und Jugendtheaters in Cottbus und bin dann dort auch bis 2011 nicht mehr wegzukriegen gewesen. Nach dem Abitur wollte ich diese Freiheit anderen Menschen schenken können und studierte Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück in Lingen. Was hat dich zum Theater gebracht und was hält dich dort?

MVS: Meine Geschwister und ich sind in Kaufbeuren, einer bayrischen Mittelstadt, aufgewachsen. Nicht nur durch unsere Familiensprache Spanisch waren für uns Differenzerfahrungen alltäglich… Als wir klein waren, hat uns unsere Mutter ermutigt, Theater zu spielen, was allerdings überhandgenommen hat. Gemeinsam mit ehemaligen Schüler:innen unseres Gymnasiums haben wir das Kaufbeurer Stadttheater ordentlich aufgewirbelt. Schnell habe ich für mich die gesellschaftliche Bedeutung von Theater entdeckt: Wie können wir Vorstellungswelten und damit soziale Konventionen verschieben? Auch während des Soziologiestudiums führte ich Regie in Kaufbeuren. Erst meine Auslandssemester beendeten dieses Engagement. Später lernte ich durch Zufälle Matthias Lilienthal kennen, der mich zurück zum Theater brachte und schließlich der Universität entriss. Kein Zufall vermutlich, da wir beide Theater als Orte der künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart betrachten. Sie können aber auch Orte der Beschäftigung mit der Vergangenheit sein, wie ihr mit eurem Stück „stolpern” gezeigt habt, das zum Theatertreffen der Jugend eingeladen worden ist. Was habt ihr gemacht und warum?

MN: Gemeinsam mit Jugendlichen haben sich die Schaubühne Berlin und das Piccolo-Kinder- und Jugendtheater Cottbus mit der Shoa und den Verbrechen der Nationalsozialisten beschäftigt. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung waren die Stolpersteine (das Kunstprojekt des Künstlers Gunter Demnig), die in Cottbus als auch Berlin zu finden sind. Wir haben uns also auf die Suche nach den Einzelschicksalen hinter diesen Steinen gemacht. Der Personen, die damals in derselben Straße, demselben Haus gewohnt haben wie wir, die dieselben Wege gegangen sind. Dann kommt das Vergangene nämlich ganz nah. Immer wieder habe ich in der Zeit gehört, dass dieses Thema in der Schule so unpersönlich und distanziert behandelt wurde. Aber um mich für eine Zukunft verantwortlich zu fühlen, muss ich dem Vergangenen nahekommen, es verstehen. Darum geht es doch. Ich denke, dass Kunst Erinnerung nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und im besten Fall körperlich erfahrbar machen kann.

Mich trägt die große Hoffnung, dass dies zu einer größeren Nachhaltigkeit führen kann. Ich erlebe das immer wieder: Es gibt nichts, das authentischer ist, nichts, was mehr Kräfte freisetzt als die Arbeit mit Jugendlichen. Häufig sind sie noch nicht völlig aufgesaugt vom Leistungsdruck des Kapitalismus, ihre Ideale hängen noch höher als der Bausparvertrag. Das macht junge Menschen erfrischend radikal und idealistisch. Davon lasse ich mich gern anstecken. Vielleicht hast du das auch bei deinem Projekt „Time Busters” so erlebt? Ihr habt euch gefragt, wie Menschen im Jahr 2433 auf unsere heutige Zeit und unsere nahe Vergangenheit schauen würden. Welche Entdeckungen habt ihr in diesem Gedankenspiel machen können?

MVS: Das Projekt entstand aufgrund einer sehr einfachen Beobachtung: Der Kern der deutschen Erinnerungskultur, die kritische Analyse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die mahnende Erinnerung an die Shoa, sind mit den Familienbiografien vieler Jugendlichen gar nicht verbunden. Dennoch spielt diese Erinnerungsarbeit in der Selbstverständigung der deutschen Gesellschaft zu Recht eine große Rolle. Gleichzeitig blicken die Jugendlichen auf globalisierte Familienbiografien, die oftmals mit Gewalterfahrungen verknüpft sind: Flucht, Krieg, Verfolgung und Rassismus, das ist vielen schmerzhaft bekannt. Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung: Wie erweitern wir unser Geschichtsverständnis durch einen einfachen Blick auf die Familienerinnerungen junger Menschen? Und: Wie funktioniert kollektive Erinnerung, wenn die NS-Vergangenheit immer weniger mit den Familienbiografien der Bürger:innen verwoben ist? In poetischen Bildern zeichnen die Jugendlichen, wie eine Zukunft in der Erinnerung zum entscheidenden gruppenbildenden Ritual geronnen ist. Vision oder Dystopie?

MN: Mein Lieblingszitat aus unserem Stück „stolpern“ lautet: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Die Vergangenheit hat eine Gegenwart und eine Zukunft. Erinnere dich!“ Und das fasst recht gut zusammen, warum jede:r sich mit der Vergangenheit beschäftigen sollte. Und im Gegensatz zu dem, was einige Menschen gern behaupten, geht es hierbei nicht um eine kollektive Schuld. Es geht um eine kollektive Verantwortung dafür, dass das Vergangene sich nicht wiederholt und aus der Geschichte gelernt wird. Die Geschichte zieht kontinuierliche Verbindungslinien bis ins Jetzt. Wenn wir uns also mit den Opfergruppen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoa beschäftigen, dann müssen wir uns auch anschauen, wie es diesen Gruppen in der Nachkriegszeit ging, in der Zeit des Kalten Krieges, nach der Wende und heute.

MVS: In „Time Busters” heißt es: „Was ist die Zukunft unserer Gegenwart? Und was ihre Vergangenheit?” Ein entscheidender Grund für mich, Theater zu machen, liegt darin, immer wieder neu an der Selbstbeschreibung von Gesellschaft mitwirken zu können, an dem Reservoir und Repertoire verfügbarer Bilder, Begriffe und Erzählungen zu arbeiten. Dabei manifestiert jede Form der Vergangenheitsbeschreibung einen spezifischen Blick auf die eigene Gegenwart. Aus diesem Grund meine ich, dass wir „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” begreifen müssen. Unter diesem Titel gründete ich 2021 einen künstlerischen Forschungsbereich, der internationale und interdisziplinäre Projekte ermöglicht und begleitet, die sich künstlerisch mit Erinnerungsarbeit befassen. Ich denke, dass es kein Zufall ist, dass Carolin Emcke zeitgleich an der Schaubühne ihren Streitraum den Titel „Pluralisierung der Gegenwart – Pluralisierung der Erinnerung” widmete. In beiden Fällen fragen wir unter anderem, wie sich Erinnerungsarbeit in einer Gesellschaft verändert, die ihre eigene radikale Vielfalt anerkennt. Doch wie übersetzt man das in künstlerische Projekte? Was bedeutet es, wenn ein Schauspieler mit Down-Syndrom an einer Lesung zu den nationalsozialistischen Krankenmorden mitwirkt? Plötzlich wird eine weitere Vielfaltsdimension unserer Gesellschaft sichtbar und zugleich holen wir eine Stimme auf die Bühne, die ganz neu und persönlich für uns liest. Bei einem Versuch, der Lecture Performance „Wir riefen Gastarbeiter*innen, es kamen Dissident*innen“, warst auch du auf der Bühne!

MN: Ich habe von meinem Vater erzählt, der 1978 als Vertragsarbeiter aus Vietnam in die DDR kam, und wie es ihm in Deutschland, auch nach der Wendezeit, erging. Von Rassismus und Ausgrenzung. Dabei habe ich natürlich auch von mir erzählt. Mich prägt nicht nur meine eigene Vergangenheit, ich werde geprägt von der Vergangenheit meiner Eltern und Großeltern. Es zeigt sich darin, wie ich mit Stress umgehe, in meinem Verhältnis zu Geld oder darin, wie ich Sicherheit definiere. Das zu erzählen war mir einerseits wichtig, weil ich das Gefühl habe, dass solche Geschichten noch viel zu wenig erzählt werden und gerade Geschichten mehr Gehör geschenkt werden sollte. Und andererseits, weil ich über die Recherche dazu viele tolle Gespräche mit meinem Vater führen und damit nochmal mehr über ihn und mich selbst lernen konnte. Ein bisschen Eigentherapie ist also auch immer dabei. An dem Abend wurden verschiedenste Geschichten erzählt. Was war dein Impuls, diesen Abend ins Leben zu rufen?

MVS: An den Münchner Kammerspielen begann meine Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit mit der Recherche von „Schicksale“ von Mitarbeiter*­innen des Theaters in der NS-Zeit. Janne und Klaus Weinzierl haben im Rahmen unseres gemeinsamen Projekts seit 2018 mehrere hundert solcher Schicksale recherchiert und Informationen dazu zusammengetragen, die dank der Mitarbeit von Felicitas Friedrich nun auf einer interaktiven Website zugänglich gemacht sind: www.schicksale.muenchner-kammerspiele.de. Ausgehend von dieser Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht ermöglichte die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft” ebenso wie in deinem Fall an der Schaubühne ein groß angelegtes, ambitioniertes Projekt. Uns war es dabei wichtig, auch auf Kontinuitäten faschistischer Gewalt zu blicken und gemeinsam mit internationalen Kolleg:innen den Blick merklich zu weiten. So entstand zum Beispiel mit chilenischen Künstler:innen die weltweit gefragte choreografische Theaterarbeit „Oasis de la impunidad”, musikalische Arbeiten mit dem „Jewish Chamber Orchester” sowie eine Vielzahl an kleineren dokumentarischen Projekten mit ukrainischen Kolleg:innen. So erkundet das künstlerische Forschungsfeld, was verschiedene Formensprachen und Formate zur Erinnerungsarbeit beitragen können. Was denkst du, wie sich Erinnerungs­kultur in Deutschland verändern muss?

MN: Es gibt leider viele Scheinargumente, um sich nicht mit der ja leider sehr unbequemen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch wer es tut, kommt nicht drum herum, sich auch kritisch mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Kritisch zu hinterfragen: Wie wird denn heute mit marginalisierten Gruppen umgegangen? Fühlen sich jüdische Menschen heute in Deutschland sicher? Haben tatsächlich alle die gleichen Rechte? Und auf Kosten von wessen Diskriminierung genieße ich eigentlich meine Privilegien? Da wird es natürlich sehr unangenehm. Aber wenn angemes­sene Erinnerungskultur leicht wäre, dann müssten wir nicht darüber sprechen.

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