Theater der Zeit

Protagonisten

Realismus im höheren Sinne

Schuld und Bühne: Im November jährt sich der 200. Geburtstag des großen russischen Erzählers Fjodor Dostojewski. Theater greifen gern auf seine gewaltigen Stoffe zurück – ein kursorischer Überblick

von Erik Zielke

Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)

Assoziationen: Sprechtheater Hamburg Akteure Staatstheater Cottbus Thalia Theater

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Was für ein Idiot!, möchte man da ausrufen. Der große Schauspieler Jens Harzer gibt den Fürsten Myschkin auf der ­Bühne des Hamburger Thalia Theaters und beweist sich einmal mehr als Virtuose der Darstellungskunst. In Johan Simons’ Inszenierung von Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“, einem ­beeindruckenden Abend von viereinhalb Stunden Länge, strafft und kürzt der Regisseur den monumentalen Prosatext (in einer Fassung von Angela Obst), ohne ihn zu beschneiden, ohne die Zerfranstheit des Handlungsgerüsts und das feingliedrige Arrangement der vielzähligen eigenwilligen Charaktere zu leugnen.

In dem schlichten Bühnenbild von Johannes Schütz – einige Stühle und Tische unter nackten Glühbirnen, auf dem kalten, in Schwarz-Weiß gehaltenen Bühnenboden angeordnet, abstrakt an ein Schachbrett gemahnend – und in zurückhaltend historisierender Kostümierung durch Greta Goiris, die ohne jedweden Russlandkitsch auskommt, dem Grundverbrechen bei der Inszenierung von ­östlichen Klassikern, finden die Romanfiguren zueinander. Harzer spielt den einnehmenden, wenn auch verschrobenen, nervenkranken Myschkin mehr als überzeugend: ein in Gesellschaft un­beholfener Epileptiker, bei dem man nicht weiß, ob es sich um einen jung Vergreisten oder ein großgeratenes Kind handelt.

Bei einem Autor von dem Kaliber Dostojewskis kann ein Regisseur es sich leisten, auf Aktualisierungen zu verzichten. ­Simons setzt ganz auf das spannungsreiche Figurengefüge, das das Hamburger Ensemble großartig zu verkörpern weiß. Nicht ohne Grund wird der Schriftsteller immer wieder als der große ­literarische Psychologe gefeiert. Dass die Figuren nicht unmotiviert handeln, dass sie Getriebene sind – vom unbedingten Willen zum Aufstieg, von einem Ideal von Liebe, von der eigenen Eitelkeit –, das wird hier gekonnt in Szene gesetzt, ohne Eindeutig­keiten zu behaupten, die es bei Dostojewski so wenig gibt wie in der Realität. Simons zeigt dem Publikum mit Dostojewski die ­Abgründe des Guten, die Hoffnungslosigkeit, an der auch die Hoffnungsvollen ihren Anteil haben.

Dass dieser Idiot ausgerechnet jetzt über die Bühne des Thalia Theaters wandelt, liegt nicht allein an der Anziehungskraft des wuchtigen Textes, sondern auch am Jubiläumsjahr. Vor 200 Jahren wurde Fjodor Michailowitsch Dostojewski in Moskau, dem zweiten Zentrum des zaristischen Russlands neben Sankt ­Petersburg, geboren. Und nun werden also landauf, landab Dostojewskis gegeben. Zu den gewagteren Unternehmungen zählt zweifelsohne das Cottbusser Projekt „Catabasis. Die Dämonen“, das Deutschlanddebüt von Boris Yukhananov. Von wem? ­Yukhananov ist kein Unbekannter – oder sollte es zumindest nicht sein. Er arbeitet vorrangig in seiner russischen Heimat als Regisseur und leitet in Moskau seit 2013 das Elektrotheater ­Stanislawski, das unter ihm zu einer der ersten Adressen für ­internationale Künstler und die russische Neoavantgarde gleichermaßen geworden ist.

Yukhananovs Umgang mit Dostojewskis Revolutionsroman gestaltet sich denkbar frei. Das dem Titel vorangestellte Wort ­„Catabasis“ verweist den Zuschauer ins Reich des Mythischen und stimmt ein in eine Höllenfahrt. Aber diese Inszenierung ist nicht allein ein abgründiges Unterfangen: Als Vertreter eines inter­disziplinären Arbeitsansatzes vermengt Yukhananov Schauspiel und Tanz, Musik und bildende Kunst zu einem sehr lebendigen Abend. Hier findet keine russische Provinzstadt im 19. Jahrhundert ihren Platz auf der Bühne, hier operiert keine umstürz­lerische Zelle vergangener Zeiten im Grenzbereich von revolutionärem Eifer und blindem Terrorismus. Motivisch nimmt sich Yukhananov des Textes an und versetzt ihn in eine nahe Zukunft. Alltagsszenen werden, tänzerisch verfremdet, auf die Bühne und mit dialogischen Passagen aus dem Roman in Verbindung gebracht. In einer Zeit, in der Gott tot ist und auch revolutionäre Ideen scheinbar beerdigt sind, macht der Regisseur ein neues Heiligtum aus. Die Künstliche Intelligenz wird zur neuen unbeherrschbaren wie unantastbaren Herrscherin in diesem knapp zweieinhalbstündigen Theaterabend. Diesem Ansatz konsequent folgend, ist die KI nicht nur thematisch präsent, sondern wird zur Ko-Autorin und schreibt Dostojewskis Text fort. Eine durchaus streitbare Idee, die aber allein aufgrund der offenkundigen Spielfreude sehenswert ist.

Die Neigung, Dostojewskis häufig monumentale, immer psychologisch durchstiegene Texte einem Publikum anders als durch einsame Lektüre näher zu bringen, ist kaum zu leugnen. Blickt man auf die Oper, so fallen einem schnell Sergej Prokofjews „Der Spieler“, Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ und Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ ein. Die dem Musiktheater ­eigene Formstrenge wird – bei aller faszinierenden Kraft, die vor allem letzteres Werk für sich beanspruchen kann – den unübersichtlichen Schreibanordnungen Dostojewski nur schwer gerecht. Unter den prominenten Filmemachern haben sich Andrzej ­Wajda, Akira Kurosawa und Aki Kaurismäki, Luchino Visconti und Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci und Robert Bresson der Romane und Erzählungen des moskowitischen Schriftstellers angenommen.

Albert Camus hat sich Dostojewski – oftmals als Vorläufer des literarischen und philosophischen Existenzialismus verdammt und gepriesen – 1959 schreibend zugewandt, indem er dessen Roman „Die Besessenen“ (auch unter dem Titel „Die ­Dämonen“ bekannt, was dem Original weitaus näherkommt) zu einem gleichnamigen Theaterstück verarbeitet, das längst zum Dramenkanon gehört. Camus verdichtet das Opus anhand der ­Figur Schigalew auf die Frage nach revolutionärer Gerechtigkeit, nach entmenschlichtem Humanismus, letztlich dem Verhältnis von Freiheit und Diktatur.

Knapp vierzig Jahre später ist der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin aus der Schule des Moskauer Konzeptualismus mit seinem Bühnentext „Dostojevskij-Trip“ einen anderen dramatischen Weg gegangen: Sein Stück spielt in einer Welt, in der der Glaube an Ekstase durch Hochkultur noch nicht erloschen ist. „Ich will theatralisches Heroin, LSD, China White“, heißt es da. Und so lässt sich eine Gruppe von sieben Junkies euphorisch auf eine besondere drogeninduzierte Reise ein, den titelgebenden Trip in die Welt von Dostojewski. Der Dealer verhilft den literarisch Abhängigen mit kleinen Pillen zeitweilig in die Haut von Romanfiguren aus „Der Idiot“. Aber Achtung, wo Dostojewski draufsteht, können tödliche Folgen nicht aus­geschlossen werden.

Diese eher assoziative Annäherung an Literatur und insbesondere an den bärtigen Russen kennt man an deutschen Bühnen, wenn auch intellektuell ganz anders durchdrungen, vor ­allem durch Frank Castorf. Das Ausufernde von Dostojewskis ­Prosa findet seine theatrale Entsprechung in dessen Bühnen­versuchen. Er hat seit Ende der neunziger Jahre bekanntlich einen Dostojewski nach dem anderen auf die Bühne gehoben. Die Castorf’sche Arbeitsweise der Fortschreibung und Überlagerung, der Verknüpfung und Überspitzung, die bei Dostojewski eben kein Ende, sondern ihren Höhepunkt findet, sind hinlänglich ­beschrieben worden. Erwähnt sei aber, dass der kühne Regisseur sich nicht nur des Dostojewski’schen Hauptwerks, den sechs ­großen Romanen (von „Dämonen“ 1999 bis zu den überbordenden „Brüdern Karamasow“ 2016 zwischen Wien und Berlin), angenommen hat, sondern dass er durch seine Bearbeitungen auch unbekannterer Texte (u. a. „Die Wirtin“, „Ein schwaches Herz“, „Der grüne Junge“) der vielleicht wichtigste Vermittler des Russen im deutschsprachigen Raum der Jetztzeit ist.

An diese gedankenreichen Dostojewski-Theatralisierungen reichen am ehesten die Spektakel von Sebastian Hartmann heran, der, sichtlich beeinflusst von Castorfs Theaterarbeiten, seinen ­eigenen Zugang zu Dostojewskis Texten gefunden hat. Den Anfang machte er zum Abschluss seiner Intendanz am Schauspiel (ehemals Centraltheater) Leipzig mit dem Soloabend „Traum“ (nach der Erzählung „Traum eines lächerlichen Menschen“), zuletzt legte er am Staatsschauspiel Dresden 2019 seine Version von „Schuld und Sühne“ vor. Am selben Haus erarbeitete er bereits im Vorjahr „Erniedrigte und Beleidigte“, euphorisch aufgenommen und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Diese bildstarke Inszenierung zeigte neben dem Können Hartmanns das kaum erschöpfliche Potenzial der Vorlage. Auf der düster eingerichteten Bühne wurden Versatzstücke aus dem Roman Abend für Abend neu und anders zusammengesetzt und damit ein Prinzip aus Texttreue und Improvisation etabliert, das dem Autor gerecht wird.

Schnell ist die Behauptung in den Raum gestellt, die Bühnenadaptionen von Werken aus Dostojewskis Feder wären nur zeitgeistige Erscheinungen, eine dümmliche Laune von Dramaturgen, lieber Filme und Romane auf dem Theater zu geben, als sich auf die Suche nach genuin dramatischen Stoffen in Vergangenheit oder Gegenwart zu machen. Das ist vielleicht nicht ganz falsch. Aber kann ein solcher Vorbehalt ein Grund sein, den Reizen der Texte des alten Russen, vor denen auch Theatermacher nicht gefeit sind, zu widerstehen? Mittlerweile können die Bühnenfassungen von Dostojewskis Prosaschriften auf eine beacht­liche Aufführungsgeschichte zurückblicken, die mit Dramatisierungsversuchen durch Zeitgenossen des Meisters beginnt und mit der Inszenierung von „Die Brüder Karamasow“ 1910 durch Konstantin Stanislawski – wohl eher nicht unter Postmodernismusverdacht stehend – einen ersten Höhepunkt erlebte.

Vieles spricht gegen die Theatralisierung von Dostojewskis Texten. Ist es überhaupt möglich, Aberhunderte Seiten Prosa­material auf der Bühne zu ihrer Geltung zu verhelfen? Sind die erzählten Konflikte nicht oft kaum darstellbar, weil sie sich im Inneren und nicht im Mit- und Gegeneinander der Figuren abspielen? Und eine gewichtige Frage gesellt sich dazu: Darf und soll man Fjodor Dostojewski, als junger Mann noch Sozialist, aber schon bald ein Reaktionär, ein christlicher Fundamentalist, ein Anti-Westler, vielleicht auch Antisemit, Platz im Theater ein­räumen? Der russische Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Michail Bachtin hat bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Fährten zu den Antworten auf diese Fragen gelegt. Dostojewski hat in seinen literarischen Werken keineswegs nur nach einem Ausdruck für seine eigenen wechselhaften Positionen zu Gesellschaft und Politik gesucht, die dem Leser dann als literarisierte Pamphlete vor die Augen kommen. Bachtin hat anhand von Dostojewskis Texten das Konzept der ­Polyphonie und Dialogizität formuliert: Gleichberechtigte Stimmen ganz unterschiedlicher Figuren mit ihren eigenen Geschichten kommen hier zum Tragen und sind mitnichten bloßer Spiegel des Innenlebens ihres Autors.

Dostojewski vertritt in seinen Werken keine Meinungen, er zeigt das Nebeneinander verschiedener Haltungen. Seine Figuren sind für ihn individuelle Träger von Welt. Wer das begreift, dem wird schnell ersichtlich, warum Dramaturgen und Regisseure auf den umstrittenen Schriftsteller zurückgreifen. Er bietet etwas an, das im Gegenwartstheater höchst selten ist. Wie oft geht es auf den Bühnen heute um die Zurschaustellung tagespolitischer ­Haltungen, nicht nur um Moral in einem abstrakten Sinn, sondern auch um das mantraartige, bekenntnishafte Aussprechen derselben? Und wie oft tritt das im Theater Dargestellte nur gepaart mit einem Werturteil über dasselbe auf? Dabei könnten wir wissen, lernten wir von Dostojewski, dass die Darstellung der Welt in ihrer Plastizität schon einen Wert hat – und dass sie es ist, die sinnlich Erkenntnis schafft. „Man nennt mich einen Psychologen: Das stimmt aber nicht. Ich bin nur Realist im höheren Sinne, das heißt, ich schildere alle Tiefen der menschlichen Seele“, heißt es bei Dostojewski. „Schuld und Sühne“ heißt der berühmte Roman, er benennt auch zwei der gewaltigen Themen für das Theater. Dostojewski scheute nicht den Blick aufs Abgründige, auf Gottesnarren und Verbrecher, Getriebene und Verzweifelte. Auf, wie wir seit Freud wissen, gewöhnliche Perverse und Neurotiker, auf ganz normale Menschen wie uns also. //

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