Theater der Zeit

Auftritt

Hamburg: Vexierspiel aus Licht und Schatten

Thalia Theater: „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili (UA). Regie Jette Steckel, Bühne Florian Lösche, Video Zaza Rusadze

von Peter Helling

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Sprechtheater Hamburg Nino Haratischwili Jette Steckel Thalia Theater

Das Patriarchat als krankes, heroinsüchtiges Konstrukt, das im Kern leer ist: Lisa Hagmeister in „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili in der Inszenierung von Jette Steckel am Thalia Theater Hamburg. Foto Armin Smailovic
Das Patriarchat als krankes, heroinsüchtiges Konstrukt, das im Kern leer ist: Lisa Hagmeister in „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili in der Inszenierung von Jette Steckel am Thalia Theater Hamburg.Foto: Armin Smailovic

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Vier Freundinnen stehen im Zentrum von Nino Haratischwilis neuem Roman „Das mangelnde Licht“: Dina, Qeto, Ira und Nene. Am Anfang sind nur drei der vier auf der Bühne, sie sind schwarz gekleidet. Dina, die vierte, lebt nicht mehr. Auf einer Retrospektive in Brüssel wird die Fotografin 2019 gefeiert: Ihre großen Porträts geistern als Video-Schatten über hohe Wände, die mit bunten Quadraten bedruckt sind, ein Pixel-Teppich. Die Lücke, die Dina hinterlässt, ist dieser Theaterabend. Ihre Bilder werden zu Fenstern in die Vergangenheit. Wie Dina starb, bleibt bis zum Schluss ein Geheimnis.

Und dann eröffnen die Wände des Bühnenbilds von Florian Lösche und die ­Videos von Zaza Rusadze fast tänzerisch Räume, Säle, verwandeln sich in Küchen, Jugendzimmer, bilden schattige Kammern und düstere Straßenzüge. So entstehen fließende Übergänge zwischen Zeiten und Orten. Von 2019 tauchen wir ein in die Kindheit und Jugend der Freundinnen, ins Georgien der 90er Jahre. Wir sehen ihnen beim Älterwerden zu, verspielte Energiebündel, die durch Dick und Dünn gehen. Fritzi Haberlandt, Lisa Hagmeister, Maja Schöne und Rosa Thormeyer verkörpern grundverschiedene Temperamente: wie sie in den Hinterhöfen im georgischen Tbilissi das Leben ausprobieren, in der Schul­uniform, mit artigen Käppchen, später mit Karottenjeans und Pony-Frisur (Kostüme: ­Sibylle Wallum). Wie sie die neuesten Popsongs hören, den allerersten Kuss halbwegs überstehen. Die vier spielen überwältigend gut.

Schnell wird klar, dass diese Jugend gefährdet ist, historische Filmaufnahmen von rollenden Panzern Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre versetzen das Publikum in den Zustand der Gegenwartsstarre. Der Krieg in der Ukraine, der russische Überfall, wird in Georgien 1989 vorexerziert, dennoch vermeidet die Inszenierung jede platte Analogie. Es gibt auch tiefe Verwerfungen innerhalb des Landes, kriminelle Strukturen, Nenes Onkel ist ein gefürchteter Clan-Chef. Sie muss einen Mann heiraten, den sie hasst, die Hochzeit wird zum feierlich-düsteren Ritual: Rosa Thormeyer verkörpert glaubhaft die lebenslustigste der vier. Lisa Hagmeister spielt die leiseste Stimme an diesem Abend, ihre Qeto hat den größten Überblick. Ira, die ihre lesbische Sexualität bei Nene entdeckt, will ­Anwältin werden, Fritzi Haberlandt als liebend-linkische Streberin und Gerechtigkeits- Fanatikerin. Und Dina? Die Fotografin? Ist die Zündkapsel des Abends, bringt die anderen zum Leuchten, führt sie ihrer Bestimmung zu. Maja Schöne spielt sie wild, überbordend. Sie lebt und liebt wie eine Waffe.

Dina beginnt, ihre Welt zu fotogra­fieren, abzulichten. In der Bühnenfassung des 830-seitigen Romans geht es vor allem um das Licht. Jede der vier versucht auf ihre Weise, die schwarze, männerdominierte Welt auszuleuchten. Und sie selbst, die Männer? Der Theaterabend zeigt das ­Patriarchat als krankes, heroinsüchtiges Konstrukt, das im Kern leer ist. Und dem sich die jungen Männer in den Rachen werfen. Ole Lagerpusch unter Dauerstrom als Qetos Bruder Rati. Sebastian Zimmler als ein Clan-Prinz, Balletttänzer der Gewalt, Jirka Zett, verträumt und irrlichternd. Und Julian Greis fast kindlich bedrohlich: Sie verkörpern die Facetten von Mackertum in aller Härte und Erbarmungslosigkeit, vererbtes Gift, das sie sich mit der Nadel in den Arm spritzen, bis sie verrecken. Opfer sind sie alle.

Jette Steckel findet bezwingende Bilder, etwa wie ein Affe einen Mord im Zoo beobachtet und im Gegenlicht verharrt. Die Regisseurin neigt dazu, sehr viel erzählen zu wollen. Indem sie aber kluge Übergänge schafft, wird diese Fülle zum Rausch. Die Spiel- und Verwandlungslust des Ensembles machen den Abend zum Theaterfest. Wenn etwa Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser als Großmütter und in liebender Abneigung verbunden zwischen sich die Risse Georgiens ausmachen. Und sich trotzdem grollend ertragen. Fabelhaft.

„Das mangelnde Licht“ wirkt wie der dunkle Zwilling von Jette Steckels Inszenierung von Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“. Die Erzählweise brutaler, gewalttätiger, das Licht trüber. Dieses Theater ist hemmungslos ins Spielen verliebt, völlig Diskurs- und Brechungs-frei, beinahe altmodisch, auf eine kluge Art. Die bunten Wände kreisen erbarmungslos weiter, das Leben will es so. Das Black am Ende ist schwärzer als gewöhnlich. //

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