Theater der Zeit

Magazin

Theater-Geschichte als Werkzeug der Macht

Kritische Studien zu Theaterwissenschaftlern in Deutschland und der Schweiz

von Stephan Dörschel

Erschienen in: Theater der Zeit: Semantik des Schönen – Eine unterschätzte Kategorie (03/2024)

Assoziationen: Buchrezensionen Theatergeschichte

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Das erste Theaterwissenschaftliche Institut wurde vor gut hundert Jahren, am 10. November 1923 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gegründet, am 15. November 1948 eröffnete Hans Knudsen als erster ordentlicher Professor für Theaterwissenschaft das Theaterwissenschaftliche Institut an der neu gegründeten Freien Universität Berlin. Diejenigen, die die ersten Kämpfe für eine Wissenschaft vom Theater ausfochten, prägten das Fach auch entscheidend: Max Herrmann in Berlin (Theater als soziales Spiel), Carl Niessen in Köln (globale Theatralität), Artur Kutscher in München (Theaterethnologie), Albert Köster in Leipzig (die Bühne als Fortsetzung der Literatur) – und eben Oskar Eberle in der Schweiz (Theateranthropologie), der es im Gegensatz zu den zuvor genannten nie zu einer ordentlichen oder außerordentlichen Professur brachte: Erst 1992 wurde dort ein Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Bern gegründet! Beide anzuzeigende Publikationen haben gemeinsam, Fachgeschichte nicht als Ideengeschichte zu beschreiben, sondern als eine von Personen geprägte Zeitgeschichte.

Rastloser Netzwerker

Biografien haben generell etwas Hagiografisches an sich: Sie bereiten der darzustellenden Person eine Bühne. Heidy Greco-Kaufmann und Tobias Hoffmann-­Allenspach versuchen Oskar Eberle von dem Vorwurf einer allzu großen Nähe zu den national­sozialistischen Theaterideen zu befreien. Oskar Eberle wurde 1902 in Zürich geboren und blieb Zeit seines Lebens der Innerschweiz sowohl emotional wie wissenschaftlich verbunden. Das unbeschreibliche Glück von Heidy Greco-Kaufmann und ­Tobias Hoffmann-­Allenspach war die reiche Überlieferung, die sich in einem Teilnachlass in der SAPA (Swiss Archive of Performing Arts) befindet und zu einem anderen Teil noch im Familienbesitz, wo er durch Frau Greco-­Kaufmann ausgewertet werden konnte. Dadurch wurde es möglich, seine zahllosen Tätigkeiten umfänglich zu rekonstruieren. Oskar Eberle muss ein begnadeter, rastloser Netzwerker gewesen sein, an dem man in der Schweiz ab den 1930er Jahren nicht vorbeikam. Eberle erscheint hier aber auch tief gespalten zwischen seiner national-­konservativen Anhänglichkeit an seine innerschweizerische Heimat und seiner nicht nachlassenden Neugier. Die chronologische Darstellung gerät scheinbar immer wieder aus den Fugen, wenn versucht wird, dem Journalisten, dem Dramatiker, dem Regisseur, dem Sammler theatraler Objekte und dem Theaterwissenschaftler der ersten Schweizer Generation gerecht zu werden. Als Nichtfachmann der innerschweizerischen Verhältnisse fällt es einem natürlich schwer, seine Stellung zu bewerten – und dabei hilft einem die Autorin auch nicht. Nur wenn in kurzen Vermerken die Biografie eines Konkurrenten skizziert wird, der Eberle mal wieder ausbootete, erahnt man, dass es noch andere gab, die dieses Feld – u. a. Schweizer Freilichtspiele, Schweizer Theaterausstellungen, Schweizer Theatergeschichte – beackerten. Eberles Engagement in der „geistigen Landesverteidigung“ scheint seine offensichtliche völkische Grundeinstellung (Katholizismus, Patriotismus mit einer Prise Antisemitismus) „dank“ des Außenfeindes Nazideutschland doch noch zu einem historisch gesehenen positiven Ergebnis geführt zu haben. Sehr irritierend ist, wie beinahe wortkarg der Aufstand der Laien-Spielleiter (alles Männer) wegen der sexuellen Übergriffe Eberles gegenüber seinen Laiendarstellerinnen 1947 benannt wird. Der Rezensent gesteht, dass er sich ab dieser Passage vor jeder Schilderung eines Engagements Eberles fürchtete. Die großen Erfolge sollten da erst noch kommen, das Fêtes des Vigneron (Winzerfest) in Vevey und seine „Wilhelm-Tell“-Inszenierung in Altdorf. Nachdem man die dreihundertseitige Lebensgeschichte Oskar Eberles und die Spezialstudie zu Eberles Festspielambitionen verschlungen hat, bleibt man etwas ratlos zurück: Was war das für ein Leben, das mit einer verschleppten Blinddarmentzündung 1956 so abrupt wie gewaltsam endete?

Und man vermisst hier, was das umfangreiche Werk erst brauchbar für gezielte Recherchen macht: ein Register! Die Vielzahl der erwähnten Personen, Stücke, Orte verschwimmen selbst bei konzentriertem Lesen. Auch ein tabellarischer Lebenslauf Oskar Eberles wäre zur Orientierung hilfreich gewesen.

Jan Lazardzig will mit seiner Publikation Hans Knudsen keine Bühne schaffen. Sein Anliegen ist im Gegensatz zu dem Greco-Kaufmanns, die geistige Nähe Knudsens zu den Ideen der National­sozialisten herauszuarbeiten und die Folgen, die dies im Laufe der Geschichte zeitigt, zu analysieren. Im Gegensatz zu Oskar Eberle war bei Hans Knudsen kein umfangreicher Nachlass auszuwerten. Lazardzig untersuchte daher die Veröffentlichungen Knudsens, um herauszufinden, inwieweit die Vorwürfe gegen Knudsen, den „Professor von Hitlers Gnaden“, berechtigt waren – sein Ergebnis nach hunderten von Artikeln und Broschüren: Sie waren es. Knudsen, 1986 im westpreußischen Posen geboren, Lehramtsstudium an den Universitäten in Greifswald und Berlin, war offiziell von 1911 bis zu seiner Berufung zum außerordentlichen Professor 1944 Lehrer an einer höheren Mädchenschule in Berlin-Steglitz. Inoffiziell oder im Nebenberuf arbeitete er als Kritiker, nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend für Zeitungen und Zeitschriften, die der Republik ablehnend gegenüberstanden, und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch als Herausgeber des zentralen Fachorgans Die Bühne, die mithalf, die nationalsozialistische Theaterpolitik durchzusetzen. Von 1923 bis 1932 war er unentgeltlich als Assistent am Theaterwissenschaftlichem Institut und in verschiedenen Vorstandsfunktionen von zahlreichen Vereinigungen tätig. Seine Dissertation zu Schiller und die Musik (Greifswald 1908) blieb unveröffentlicht, die Monographie über den Schauspieler Heinrich Beck (1912) gilt als seine eigentliche Qualifikationsarbeit für die Max-Herrmann-Schule, deren aufrechter Vorkämpfer er seit der Begegnung mit Max Herrmann 1906 war. Mit vielen Zeitungs­artikeln und Broschüren verkündete er fortan die Lehre von der Theaterphilologie, einer streng positivistisch angelegten Wissenschaft vom Theater – wie er sie verstand. Lazardzig arbeitet gut nachvollziehbar heraus, wo der kreative Kopf Max Herrmann sich in seinen Forschungen weiterentwickelte und sein Schüler Knudsen bei der von manchen Herrmann-Schülern beklagten „Faktenhuberei“ stehen blieb. Nach der Machtergreifung gehörte Hans Knudsen schon 1933 zu den 88 Schriftsteller:innen, die ein Treuebekenntnis zum Führer publizierten. Gleichzeitig betrieb er mit anderen Vorstandskollegen die Absetzung seines Mentors Max Herrmann als Vorsitzender der Gesellschaft für Theatergeschichte. Nach Kriegsende erreichte Knudsen seine Entnazifizierung und übernahm als ­Gründungsprofessor eine ordentliche Professur für Theaterwissenschaft an der Freien Universität, die er noch ­lange nach seiner Emeritierung bis Ende der 1960er Jahre wahrnahm. Insofern war Knudsen glücklicher als Eberle. Lazardzig argumentiert in seiner Studie auf drei Ebenen: biografisch die zeithistorischen und familiären, entwicklungs­psychologischen Umstände.Dazu analysiert er z. B. die Lektüren, die Knudsen in seinem Tagebuch 1904–1907 angibt. Er geht den wissenschaftshistorischen Hintergründen nach, vor denen sich die fachliche Entwicklung des Studenten, Assistenten und Professors ergab – und er verfolgt Knudsens mehrfache umständ­liche Rechtfertigungs­strategien und die damit verbundenen Bündnisse. Die „Gefolgschaft“ bekommt hier etwas unheimlich Verschwörerisches, was Lazardzig sehr prononciert und nüchtern als das enttarnt, was es im Grunde ist: eine gegenseitige Selbstversicherung. Knudsen muss sich nach 1933 von seinem geliebten Lehrer distanzieren, um sich nach 1945 genau dessen zu bedienen, weswegen er ihn 1933 abserviert hat: seines Judentums.

Vergleichende Bilanz

Bei beiden Publikationen handelt es sich streng genommen um Fachliteratur, die jede auf ihre Weise für die Geschichte der Theaterwissenschaft wesentliche Forschungsergebnisse anschaulich präsentiert. Beide Publikationen enthalten aber auch Erzählungen von einem Wissenschafts- Theaterbetrieb, der verführbar war und auch selbst verführte. Knudsen, der sich in den 1960er Jahren als Opfer einer Kampagne sah, weil er seine Tätigkeit im Dritten Reich nicht als von seinem Ehrgeiz angetriebenes Fehlverhalten, als Täter-Tat verstanden wissen wollte – Eberle, dessen Ehrgeiz und seine im Gegensatz zu Knudsen breit gefächerten Begabungen ihn nicht den Mittelpunkt finden ließ, aus dem heraus er seine verschiedenen Aktivitäten hätte steuern können: Es sind zwei sehr unterschiedliche Schicksale zur gleichen Zeit, an entscheidend unterschiedlichen Orten, auch geistigen, die doch in ihrer großen Anhänglichkeit zum Theater und dem Glauben an den Sinn, dieses auch wissenschaftlich fassen zu können, sich ähnlich waren. In diesem Sinne sind es spannende, auch ergreifende Erzählungen. Für die Fachwissenschaft bleibt es aber weiter eine Herausforderung: zu verstehen.

 

Jan Lazardzig: Wissenschaft aus Gefolgschaft. Der „Fall Knudsen“ und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Verbrecher Verlag 2023, 310 S., 28 €

Heidy Greco-Kaufmann, Tobias Hoffmann-Allens­pach: Theaterpionier aus Leidenschaft. Oskar Eberle (1902–1956), Chronos Verlag 2024, 572 S., 68.€

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