Theater der Zeit

Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik

Die nicht geregnet werden

von Maria Ursprung

Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)

Assoziationen: Dramatik Schweiz Theater St. Gallen

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Dann zeigt sie dem Kind einen Wunschbrunnen: Hier würden die Leute Geld hineinwerfen, weil sie davon zu viel hätten, und dann würden sie sich etwas wünschen.
And you know what they don’t wish for?
No.
Water!
Aus: 1000 serpentinen angst
Olivia Wenzel

Selbst den Sesshaften wie den Ameisenvögeln, die sich im Unterholz verstecken, bleibt dann nichts anderes übrig, als ihrer Beute hinterherzuwandern.

Aus: Perus Vögel verstummen

Reportage von Benjamin von Brackel

Besetzung nach Belieben für:

TROPFEN

(darin diverse Figuren wie GARTENZAUN, MOTORRAD, BRÜCKENWAGEN)

KAMERA

MIKROFON

VERWALTUNG, politischer Berater

FREIBAD, Berit, Betreiberin einer Schwimmanlage

GOLDREGENPFEIFER, Era, Halbschwester KIEBITZ, Ines, Halbschwester

WOLKE

Geschlechterrollen sind im vorliegenden Text zweitrangig und können anders besetzt werden. Die im Text entsprechenden Geschlechterbezeichnungen können binär angepasst werden (Schwester–Bruder, sie–er, etc.) oder sie werden belassen und Spielende verkörpern losgelöst vom eigenen Geschlecht.
(/) Ein Schrägstrich im Text bedeutet eine Überschneidung mit der nächsten Replik.

PROLOG

e (KIEBITZ) Wir sind zu Gast
Bei Freunden meiner Eltern
Und mein Vater schenkt meiner Schwester
zu trinken ein
Anstatt zu sagen, dass es genug ist,
zieht sie das Glas weg
Und er, er sieht zwar hin, sieht,
dass da kein Glas mehr ist
Dass er aufhören müsste
Aber ignoriert es
Verfällt in eine stille Starre
Giesst einfach weiter ein
Giesst das Wasser auf den Tisch
In meiner Erinnerung steht er da
Wie Berg und Wasserfall
Als wäre der Krug ohne Boden
Als würde für immer und ewig
Wasser aus dem Krug fliessen
Wenn er nur so stehen bliebe
Als müsste der Krug nie gefüllt werden
In meiner Erinnerung höre ich
Das Wasser rauschen
Und alles versickert sofort
In der weichen Stofftischdecke
e Und dann
e (KIEBITZ) Gab’s eine Ohrfeige
e Das scheint mir übertrieben
e (KIEBITZ)
Es war das einzige Mal, dass meinem Vater die Hand ausgerutscht ist
Ich weiss nicht mehr, was der Ohrfeige vorausgegangen war –
Hatten sich meine Eltern gestritten
Ist meine Schwester unverschämt gewesen oder
Habe ich den ganzen Morgen geheult
Irgendwas war
e Und das hat das Fass zum Überlaufen
gebracht
(KIEBITZ) Mein Vater erinnert sich nicht an die Ohrfeige
e Das kann nicht sein
e (KIEBITZ) Wir vergessen vieles
Wir erinnern kaum etwas richtig
e Und die grössten Probleme blenden wir aus

NICHT GEREGNET

e Wie fängt es an
e Mit einem Tropfen
e Mit uns, die wir diese Geschichte erzählen
e Sie zusammenfügen, sichtbar machen, spürbar, wie Regen, Nebel, Dunst
e Denn wir sind die Tropfen, uns hört man dort, wo wir uns sammeln
e Zwischen Erde und All
e Und wie alles, fängt auch diese Geschichte mit einem Tropfen an
e Beim Fluss des Duschstrahls
e Über den Kopf, Nase, Schulter, Hüfte, Knie, Ferse
e Läuft
e Denkt Ines und trocknet sich ab mit dem Handtuch
e Tritt aus der Dusche, rubbelt das Haar, macht sich frisch
e Wie das Vogelgezwitscher in der Früh
e Ist schon seit einigen Tagen verstummt
e Merkt kaum jemand, dass die Vögel weiter­gezogen, nach oben geflogen
e Frisch für die Arbeit, den Morgen, den Alltag da draussen
e Um nach nichts zu riechen, nicht nach sich selbst
e Und Ines, in ein Handtuch gewickelt, dreht den Hahn auf
e Hält ein Glas darunter, schreibt nebenbei eine Nachricht an
e Ihre Schwester
e Schreibt: treffen demnächst auf ein Getränk?
e Und das Wasser
e Läuft
e In das Glas
e Schiebt sich nach oben bis an den Rand
e Ein Hoch auf die Oberflächenspannung
e Sie hat schon so manchen Tropfen gerettet
e Und ganz sorgfältig
e Führt sie das Glas zum
e Nein, eher den Mund zum Glas, und
e Ahhhhhh
e Das tut gut
e In großen Schlucken heruntergestürzt
e Und in der gleichen Stadt steht Berit am Beckenrand, sieht sich um, und freut sich: Bald wird das Becken gefüllt werden
e Randvoll
e Ahhhhhh
e Menschen werden eintreffen in Strömen
e Denn der Schweiss
KAMERA Läuft.
MIKROFON Eine so frühe, intensive Hitzewelle gab es noch nie: Temperaturen von zehn bis dreizehn Grad über den Normalwerten; in der Hauptstadt wurden heute 43,5 Grad gemessen, die höchste je gemessene Temperatur im Juni. Und weiterhin bleibt es sehr, sehr
e Heiss ist es
e Und Ines ist noch immer durstig
e Hält das Glas erneut unter den Hahn
e Füllt das Glas
e Es füllt sich langsam – der Strahl wird schwächer, er wird dünner
e Und als das Glas voll ist
e Nicht ganz bis zum Rand und doch mehr als halb
e Fallen nur noch einzelne Tropfen
e Tro-pfen
e Nacheinander, immer langsamer, immer lauter
e Hörbar tropfen sie dahin
e Sie spürt den Durst in der Kehle,
betrachtet das Glas
e Als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben Wasser betrachten
e Und stellt es auf den Tisch, wo das Handy schon liegt – die Schwester antwortet nicht

FREIBAD Wie finden Sie die? (FREIBAD hält eine Bikini-/Badehose in der Hand.)
GOLDREGENPFEIFER Etwas zu bunt?
FREIBAD Trägt man das nicht so?
GOLDREGENPFEIFER Kann schon sein, nur Sie eher nicht.
FREIBAD Sie sind ehrlich.
GOLDREGENPFEIFER Wenn Sie fragen.
FREIBAD Dann geb ich Ihnen die zurück.
GOLDREGENPFEIFER (etwas verwirrt) Klar.
FREIBAD Wie ist die?
GOLDREGENPFEIFER Besser.
FREIBAD Würden Sie sie tragen?
GOLDREGENPFEIFER Vermutlich nicht.
FREIBAD Sie würde Ihnen gut stehen.
GOLDREGENPFEIFER Ich brauche keine.
FREIBAD Aber es ist Sommer.
GOLDREGENPFEIFER Ich schwimme nicht.
FREIBAD Warum nicht?
GOLDREGENPFEIFER Ich kann nicht schwimmen.
FREIBAD Was?
GOLDREGENPFEIFER Nie gelernt.
(Kurze Pause)
FREIBAD Ich könnte es Ihnen beibringen.
GOLDREGENPFEIFER Sie?
FREIBAD Im Freibad, das kennen Sie wohl. Ich leite es, sozusagen.
Also bin ich oft da.
GOLDREGENPFEIFER Jetzt verstehe ich.
FREIBAD Was verstehen Sie?
GOLDREGENPFEIFER Dass Sie Zeit haben
für privaten Schwimmunterricht.
FREIBAD Wie meinen Sie das?
GOLDREGENPFEIFER Es ist nicht in Betrieb, das Freibad. Kein Wasser drin, dachte ich – das Becken leckt, dachte ich?
FREIBAD Nicht mehr.
GOLDREGENPFEIFER Es ist Wasser da?
FREIBAD Noch nicht.
GOLDREGENPFEIFER Dann läuft das Wasser derzeit ein?
FREIBAD Bald.
GOLDREGENPFEIFER Also trocken schwimmen lernen?
FREIBAD Ich bin zuversichtlich.
Das Wasser wird kommen.
Es muss doch Wasser im Becken sein. Es ist doch Sommer.
GOLDREGENPFEIFER Ja.
FREIBAD Alle sollten schwimmen können, denke ich.
(Kurze Pause)
Sie denken da wohl anders.
GOLDREGENPFEIFER Ich denke oft anders.
FREIBAD Und welche würden Sie an meiner Stelle kaufen?
GOLDREGENPFEIFER Haben Sie noch keine?
FREIBAD Nicht genug.
GOLDREGENPFEIFER Wie viele Badehosen sind genug?
FREIBAD Ich muss sie oft wechseln, wenn ich im Wasser bin, und ich trage sie täglich. Gibt es die auch in der kleineren Größe?
GOLDREGENPFEIFER Haben Sie schon alle durchgesehen?
FREIBAD Nicht ganz.
GOLDREGENPFEIFER Schauen Sie genauer hin und sonst können Sie ja immer noch jemanden um Hilfe bitten.
FREIBAD – Sie sind gar nicht – ich dachte/
GOLDREGENPFEIFER Was?
FREIBAD Sie arbeiten nicht hier.
GOLDREGENPFEIFER Nein, tut mir leid.
(will gehen)
FREIBAD Warten Sie –
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Fragen Sie mich auch etwas.
GOLDREGENPFEIFER Wie bitte?
FREIBAD Ob ich Ihnen das Schwimmen beibringen könnte? – Gern.
Das kann ich, ich bringe es Ihnen bei.
GOLDREGENPFEIFER Nicht nötig.
FREIBAD Ich wohne im Eckhaus beim Freibad, direkt am Gelände.
Kommen Sie vorbei, zum Schwimmen?
GOLDREGENPFEIFER Vermutlich nicht.
FREIBAD Warum nicht?
GOLDREGENPFEIFER (denkt kurz nach) Dafür fehlt mir die Zeit.
e Und dann stößt Ines
e Ganz aus Versehen
e An das volle Glas, nur an den Rand, doch das reicht aus
e Und das Glas beginnt zu tanzen, dreht sich
e Wie ein Glas, das sich auf der Stelle dreht
e Doch die Kreise, die vom Glas gezogen werden, werden nicht kleiner
e Immer größere Kreise zieht das Glas und dreht sich weiter

MIKROFON Irgendwas fühlt sich merkwürdig an.
KAMERA Was meinst du?
MIKROFON Es hängt in der Luft
wie ein Geruch.
KAMERA Das klingt
widerlich.
MIKROFON Im Gegenteil: Noch nie war ich einer Vorahnung so nahe.
KAMERA Das klingt –
MIKROFON Etwas mythisch?
KAMERA Nach Überstunden.

WOLKE Wo fängt es an,
habe ich gesagt, es war an diesem Kongress.
Alle Namhaften waren da,
haben mich angeschaut.
Hiermit, habe ich gesagt,
und auf mein Wasserglas gewiesen,
das auf dem Rednerpult stand.
Und weil ich gern Zuhörende imaginiere, die
platzend vor Neugierde ihre Fragen in meinen Vortrag einwerfen, habe ich mir vorgestellt,
wie jemand laut fragt
e Mit diesem Wasserglas?
WOLKE Und ich hatte zuvor bereits sachlich gesprochen, über
aufgebrauchte Ressourcen, Knappheit bei
wachsender Bevölkerung, den Ausverkauf des Grundwassers undsoweiter.
Manchmal muss ausgesprochen werden, was alle
schon wissen, nur um den Raum zu definieren.
Doch ich spürte, wie sie allmählich ihre Gedanken abwandten
und dann wollte ich,
denn dazu war ich eingeladen,
eine Lösung anbieten:

Wir brauchen, sagte ich und mir war, als rührte sich
das Wasserglas auf meinem Rednerpult,
eine Katastrophe.
(Kurze Pause)
Ich machte eine Pause, um zu prüfen,
ob sie mir zuhörten,
tauchte eine Fingerspitze in das Wasser
und schnippte ein paar Tropfen
in die Reihen der Zuhörenden.
Und weil ich spürte, dass sie geweckt waren,
dass sie mehr hören wollten,
machte ich meinen Vorschlag.
Ich beschrieb bildhaft und ausführlich, präzise beschrieb ich,
begeistert und logisch – denn so gehört es sich doch.

Wir sammeln das Wasser, sagte ich schliesslich,
das ganze Wasser,
da wo es nah doch unerreichbar bleibt,
und geben es nur zurück, wenn es sich lohnt.
Wir machen sie, die Katastrophe, bis sie wirkt.

Ich spürte, wie sie raunten
und war stolz auf meine Worte,
für mich war klar, dass ich sie bewegt hatte,
dass sie Teil wurden von meinem Plan,
dass sie einsteigen, mitmachen,
frohlocken würden!
Wir sollten es nicht schwarz sehen, sagte ich,
sondern realistisch:
Immer wird dann etwas in die Wege geleitet, wenn es richtig weh tut, sagte ich,
es muss spürbar werden, für alle,
vorher gibt es zu viele Meinungen,
die einen sagen:
Ich sehe es zwar, aber für uns reicht es noch
und dann schauen sie weg.
Andere sind grundsätzlich ignorant
oder verstehen es nicht
und manche glauben noch, sie lebten
in einer intakten Welt, und dass man es
schon richten können wird.
Also, habe ich gesagt,
angefangen hat es schon längst.
Und dann,
darauf hatte ich mich schon seit Tagen gefreut,
gab ich dem Glas einen ganz kleinen Schubs
e Und es drehte und drehte
WOLKE Danach wartete ich,
stand draussen beim Kaffee,
erwartete, dass sie zu mir kämen,
nicht zum Gratulieren oder zum Schmeicheln, nein,
sie sollten Teil werden von meinem Plan,
sollten partizipieren, mit mir die Katastrophe gestalten,
die alles rettende Katastrophe.
Aber niemand kam.
Alleine blieb ich beim Kaffee.
Gemieden wurde ich.

Später dann, bald schon danach
kam, eingeschrieben und deutlich,
die Entlassung aus meinem Lehrstuhl.
Und als ich nachfragte, weil es mich etwas anging,
warum,
berichtete man
von meiner Katastrophe.

Also fing ich an.

VERWALTUNG Was ich Ihnen jetzt sage,
muss unter uns bleiben.
FREIBAD Aha?
VERWALTUNG Es ist keine große Sache.
Nur wäre es wichtig, dass es nicht öffentlich
die Runde macht.'
Nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
FREIBAD Verstehe.
(Kurze Pause)
VERWALTUNG Wir haben keins.
FREIBAD Wie, Sie haben keins?
VERWALTUNG Für Sie. Kein Wasser mehr da.
FREIBAD Es ist nicht direkt für mich.
VERWALTUNG Tut mir leid, aber es geht nicht.
FREIBAD Warum nicht?
VERWALTUNG Die Hitze. Die Böden.
Die Menschen.
Und kein Regen, Sie verstehen.
FREIBAD Aber/
VERWALTUNG Ich kann Ihnen nicht
dreitausend Hektoliter Wasser geben,
einfach so. Nicht jetzt.
FREIBAD Sie geben es nicht mir.
VERWALTUNG Wem dann?
FREIBAD Allen – Ihnen.
VERWALTUNG Mir?
FREIBAD Im Sommer mal abends den Kopf unter Wasser tauchen, das brauchen alle mal.
VERWALTUNG Wo soll ich so viel Wasser hernehmen?
FREIBAD Sie sind doch die Stadt?
VERWALTUNG Meine Funktion ist eher beratend.
FREIBAD Ich wurde an Sie verwiesen.
VERWALTUNG Es ist rar. Verstehen Sie?
FREIBAD Haben Sie Kinder?
VERWALTUNG Ich kenne die Wasserbestände der gesamten Region. Und ich weiss, dass wir dieses Wasser nicht haben.
FREIBAD Stellen Sie sich vor, wie Ihre Kinder im Becken herumtollen, wie sie lachen.
(Kurze Pause)
VERWALTUNG Sie hatten Ihr Wasser – wo ist es hin?
FREIBAD Das Becken war frisch gewartet, alles sah gut aus. Vielleicht ein kleines Erdbeben oder so, eine Erschütterung.
VERWALTUNG –
'FREIBAD Ich kann den Betrieb nicht halten, wenn ich nicht öffnen kann,
ich brauche die Einnahmen.
Und dafür brauche ich Wasser.
Ein Freibad ohne Wasser ist nichts, verstehen Sie?
VERWALTUNG Das ist traurig.
FREIBAD Können Sie mir helfen?
VERWALTUNG Wir zwei finden keine Lösung.
Wir haben die Lösung für dieses Problem nun mal nicht.
Weil es sie nicht gibt.
FREIBAD Das will ich nicht glauben.
(Kurze Pause)
VERWALTUNG Nehmen wir an, ich hätte plötzlich so viel Wasser. Irgendwo würde sich eine Quelle auftun,
ein bisher unentdeckter Schatz.
Und ich entscheide mich, Ihnen diesen Sommer, jetzt, das Wasser zu überlassen, nachdem schon einmal ein so großer Verlust verzeichnet wurde, ja?
Wer garantiert mir, dass das Becken nicht mehr leckt?
FREIBAD Ich. Ich garantiere es.
VERWALTUNG Womit?
FREIBAD –
e Sie kann es sehen, doch nichts tun
e Sieht dem Glas beim Kreisen zu, will danach greifen
e Doch das Glas, das letzte, von ihrer Bewegung erschrocken, springt zurück
e Dreht einen letzten grossen, einen ausladenden Kreis
e Und fällt
VERWALTUNG Ich habe kein Wasser für Sie.
e Ein Glas hat mehrere Möglichkeiten, wenn es fällt
e Manchmal bleibt es unversehrt, auf wunderbare Weise, wenn es aufschlägt
e Kullert herum und bleibt ohne Kratzer
e Doch oftmals zerspringt es in kleine Einzelteile
e Zerspringt ein Glas
e Ist es kaum wieder zusammenzufügen
e Ist es schwer, es so zusammenzufügen, dass nichts mehr durchläuft
e Kein Tropfen darf mehr durch die scharfen Kanten weichen
e Doch manchmal zerspringt ein Glas
e Zerspringt in so viele kleine Splitter, dass es unmöglich ist
e Unmöglich das wiederherzustellen
KIEBITZ (am Telefon)
Goldregenpfeifer – hier spricht Kiebitz.
Era, es nervt. Geh mal ran.
Du kannst nicht nur am Rechner hocken und dein Geld vermehren, das ist nicht gesund. Du musst auch mal – triff wenigstens mich.
Ich hab endlich das Thema für die Masterarbeit. Du wirst erfreut sein zu hören, dass – nein, ich erzähl’s dir, wenn du dich meldest.

FREIBAD Berit.
GOLDREGENPFEIFER Era.
FREIBAD Das ist lustig.
GOLDREGENPFEIFER Was?
FREIBAD Sonst sagen die Menschen, Berit, ein ungewöhnlicher Name, aber du –
GOLDREGENPFEIFER Ich?
FREIBAD Du sagst nur deinen Namen.
GOLDREGENPFEIFER Ich fand es schon immer befremdlich,
das Ungewöhnliche lustig zu finden.
FREIBAD –
GOLDREGENPFEIFER Das ist also das Freibad.
FREIBAD Nein.
GOLDREGENPFEIFER Aber ich dachte/
FREIBAD Das ist eine leere Hülle.
GOLDREGENPFEIFER Was fehlt?
FREIBAD Das Gekreische, das Platschen und Planschen, Rennen und Weinen,
das wohlige Quietschen von Haut auf der Rutsche, das Trippeln nasser Füße
auf zu heißem Boden, Fussbälle, versehentlich
auf Bäuchen von Schlafenden landend,
aufgeschlagene Knie fehlen, Blut,
das in gechlorten Pfützen sich verliert,
dieser Schmerz, der mit Eis in der Waffel geheilt werden kann, brennende Augen, trockene Haut, ein leichtes Gefühl in der Brust und die Ahnung, dass es gut wäre, öfter unterzutauchen, den wohligen Schatten der Bäume auf den Armen zu spüren, sich um nichts zu sorgen.
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Alles fehlt. Das hier ist nichts.
GOLDREGENPFEIFER Es ist ein Anfang.
FREIBAD Es ist ein Warteraum. Schlimmer: Patientin im Koma. Wer weiß, ob es ein Erwachen gibt.
GOLDREGENPFEIFER So schlimm ist das nicht.
FREIBAD Ich finde es schlimm.
GOLDREGENPFEIFER Vielleicht hat es sein Gutes. Vielleicht wird sogar Leid vermieden.
FREIBAD Niemand leidet wegen einem Freibad.
GOLDREGENPFEIFER Weniger Sonnenbrand, weniger Hautkrebs.
FREIBAD Mehr schlechte Schwimmerinnen und Schwimmer: mehr Tod durch Ertrinken.
GOLDREGENPFEIFER Niemand ertrinkt ohne Wasser.
FREIBAD Das ist lächerlich.
GOLDREGENPFEIFER Letztlich fehlt dein Wasser woanders –
so gesehen ist es sogar gut.
FREIBAD Zwanghafter Optimismus.
GOLDREGENPFEIFER Im Gegenteil.
FREIBAD Also Pessimismus?
GOLDREGENPFEIFER Ich versuche, an andere zu denken.
FREIBAD Du denkst, dass es für andere besser ist, wenn mein Bad leer bleibt.
GOLDREGENPFEIFER Viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser und wir lassen ein Planschbecken einlaufen, damit wir uns gegenseitig hineinschubsen können.
FREIBAD Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.
GOLDREGENPFEIFER Alles hat miteinander zu tun.
FREIBAD Warum hast du so ein Problem mit meinem Freibad?
GOLDREGENPFEIFER Es bringt niemandem was.
FREIBAD Es macht Menschen Freude.
GOLDREGENPFEIFER Und dafür braucht es ein Freibad?
FREIBAD Wie meinst du das?
GOLDREGENPFEIFER Beim Treffen einer Entscheidung frage ich mich, was andernfalls geschehen würde.
FREIBAD Ich verstehe dich nicht.
GOLDREGENPFEIFER Würden diese Menschen ohne das Freibad keine Möglichkeit haben, Freude zu empfinden?
FREIBAD Schon,/ aber –
GOLDREGENPFEIFER Dein Freibad ist absolut überflüssig.
(Kurze Pause)
FREIBAD Und was machst du dann hier?
WOLKE Fürchtet ihr euch eigentlich vor dem Tod
oder seid ihr dafür noch zu jung?
KIEBITZ Das hat unsere Professorin irgendwann gefragt,
in einer Pause, aus dem Nichts.
Mir gefällt die Vorstellung, dass meine Seele, wenn ich sterbe, wie ein Regentropfen ins Meer fällt,
antwortete ich
und kam mir klug vor.
Meine Professorin dachte kurz darüber nach
und antwortete,
dass das die Frage nicht beantworten würde.
Fürchtest du dich vor dem Tod?
Ich hoffe einfach darauf,
ein Wassertropfen zu sein –
dann bin ich Teil eines Kreislaufs.
Und wenn die Möglichkeit besteht,
dass ich irgendwann
in ein größeres Gewässer eingehen kann,
bin ich nicht immer nur ich,
bin ich mehr als ich,
bin ich einmal mehr,
und so brauche ich mich vor nichts zu fürchten.
Vom Klingeln der Pausenglocke wurden wir
aus der Mitte des Gesprächs gerissen.
Das Seminar ging weiter,
ich weiss nicht mehr, worum es ging,
aber ich weiss noch, dass sie uns am Ende
einen sonnigen Tag gewünscht hat
und dann hat sie gesagt:
Ich wünsche allen Regentropfen, dass sie,
wenn es soweit ist,
tatsächlich geregnet werden.
Und ich dachte: Ist es möglich,
dass sie einfach nur verdunsten?
KAMERA Die Redaktion will meinen Arbeitsplan nicht umstellen.
MIKROFON Ach ja?
KAMERA Sie sagen, das ginge nicht. Weißt du, warum?
MIKROFON Hm?
KAMERA Weil du das nicht willst.
MIKROFON Hat sie das gesagt.
KAMERA Geht’s noch?
MIKROFON Ich weiß nicht, warum du dich aufregst.
KAMERA Seit wann bestimmst du meinen Dienstplan?
MIKROFON Ich nehme meine Arbeit sehr ernst
und Dienstpläne sind Bestandteil davon.
KAMERA Mich zu fragen, wäre dir nicht eingefallen?
MIKROFON Unterschiedliche Meinungen bedrohen das Erreichen eines Ziels. Und dafür ist es zu wichtig.
(Kurze Pause)
KAMERA Menschen sind das Letzte.
MIKROFON Geh zurück zu den Tierdokus.
KAMERA Tiere sind besser als Menschen.
MIKROFON Ach komm.
KAMERA Weniger egoistisch.
MIKROFON Glaubst du das wirklich?
KAMERA Du bist das beste Beispiel.
MIKROFON Viele Studien belegen, dass Tiere und Menschen empathisch geboren werden.
KAMERA Und dann treffen sie auf Artgenossen und lernen, nur für sich zu kämpfen.
MIKROFON Weil Menschen nicht allen gegenüber mitfühlend sind.
KAMERA Sag ich ja.
MIKROFON Nein. Versteh doch, genau deshalb ist unser Beruf so wichtig: Während, sagen wir, Eishockeyfans mit Fans ihres Teams empathisch sind, freuen sie sich bei der Niederlage gegnerischer Teams, das ist nicht neu. Interessant daran ist: die Kategorie ist beliebig austauschbar – Herkunft, Hobby, Essgewohnheit – durch ein beliebiges Merkmal entsteht ein Wir – das bedeutet, dass Empathie über die Geschichte, über die Information entsteht.
Und wer erzählt die Geschichten?
KAMERA Du vermutlich.
MIKROFON Wir, du Dummie.
Die Welt wird in Wir und Andere eingeteilt. Und wir steuern die Grenzen davon. Daher ist es bei unseren Beiträgen absolut wichtig, welches Wir erzählt wird – verstehst du?
KAMERA Du schweifst ab, du weichst mir aus!
MIKROFON Du hast gesagt, Menschen wären Egoisten, aber das stimmt nicht, nur, wenn sie sich nicht/zusammengehörig
KAMERA Warum änderst du meinen Dienstplan?
MIKROFON Ich/ habe nur
KAMERA Was ist dein Problem mit mir?
MIKROFON Ich habe kein Problem.
(Kurze Pause)
KAMERA Und warum willst du nicht mit mir arbeiten?
MIKROFON Du – du hast nicht gut hingesehen. Du musst besser hinsehen.

FREIBAD Flach auf den Boden legen, auf den
Rücken, die Arme neben dich,
beuge die Knie um neunzig Grad,
Becken nach oben, Körperspannung halten,
streck die Arme so, kreise mit den Händen.
Die Fersen vom Boden lösen, auf die Zehenspitzen, langsam atmen.
GOLDREGENPFEIFER Was hat das mit Schwimmen zu tun?
FREIBAD Kraft und Stabilität.
GOLDREGENPFEIFER Wie lange muss ich das machen?
FREIBAD Noch dreissig.
(Kurze Pause)
Die haben gestern
Eine Schildkröte gefunden,
die grösste der Welt.
GOLDREGENPFEIFER Wer?
FREIBAD Ich weiß nicht genau.
Sie haben einen Lastwagen gebraucht,
um sie wegzuschaffen.
GOLDREGENPFEIFER Von wo?
FREIBAD Weiß ich nicht. Aber sie war so schön.
Ich mag Schildkröten.
GOLDREGENPFEIFER Wie kommst du darauf?
FREIBAD Irgendwie ähnelst du ihr.
GOLDREGENPFEIFER – Es reicht. (sie löst die Übung auf)
FREIBAD Sie war wirklich schön, so stolz und freundlich.
Da habe ich ihnen was gegeben.
GOLDREGENPFEIFER Was?
FREIBAD Na, Geld.
GOLDREGENPFEIFER Wie viel?
FREIBAD Hundert.
GOLDREGENPFEIFER Wem?
FREIBAD Der Schildkrötenorganisation.
GOLDREGENPFEIFER Wofür?
FREIBAD Für die Schildkröten.
GOLDREGENPFEIFER Und was machen sie damit?
FREIBAD Die Schildkröten retten.
GOLDREGENPFEIFER Wovor?
FREIBAD Umweltverschmutzung?
GOLDREGENPFEIFER Du gibst spontan Geld an eine Organisation, ohne zu wissen, wofür?
FREIBAD Du hast davon erzählt, eine Welt zu schaffen,
in der du gern leben würdest.
Das hat mich inspiriert.
GOLDREGENPFEIFER Aber ich spende
zielgerichtet, minimiere meine Ausgaben,
recherchiere, wie vielen ich helfen kann, wie sich ihre Lebensqualität verbessert.
Irgendeiner Organisation Geld zu geben,
die Schildkröten mit Lastwagen
in der Gegend herumfährt, ist –
MIKROFON Ich schwitze.

FREIBAD Was?

KAMERA Das Offensichtliche sollte nie ausgesprochen werden.
MIKROFON Man verbrennt von innen.
KAMERA Die Klimaanlage läuft, es ist nicht heiß.
MIKROFON Ich antizipiere, verstehst du?
Ich lebe das, wovon ich berichte.
KAMERA –
MIKROFON Du bist so still. Bist du noch immer beleidigt.
KAMERA –
MIKROFON Weil ich deinen Dienstplan anpassen ließ?
Mach doch mal das Fenster auf und lass die Stille nach draussen, ja?
KAMERA Du kannst einem Kameramann nicht sagen, dass er nicht genau hinsieht.
MIKROFON Wenn er so stümperhaft auf den Dienstplan sieht wie du, eben schon.
KAMERA Was meinst du?
MIKROFON Hättest du ihn genauer angeschaut, wüsstest du, dass ich deinen Dienst komplett an meinen anpassen ließ.
(Pause)
Weil du – wir arbeiten gut zusammen.
KAMERA –
Trotzdem egoistisch.
MIKROFON Wo bleibt die Maske?
KAMERA Ist nicht mehr da.
MIKROFON Was?
KAMERA Es gehe ihm nicht gut, hat er gesagt.
e Seid ihr bereit?
KAMERA Bereit.
MIKROFON Etwas stimmt nicht.
KAMERA Wieso?
e In vier, drei

FREIBAD Zwei, eins – genau so.
Du bist ein Naturtalent.
GOLDREGENPFEIFER Macht es im Wasser mehr oder weniger Spaß?
FREIBAD Im Wasser macht alles mehr Spaß. Warum hast du nie schwimmen gelernt?
GOLDREGENPFEIFER Es war mir nicht so wichtig.
FREIBAD Und deine Eltern, wollten die nicht, dass du Schwimmen kannst?
GOLDREGENPFEIFER Meinen Eltern war ich nicht so wichtig.
FREIBAD Wie meinst du das?
GOLDREGENPFEIFER Gar nicht.
FREIBAD Doch, erzähl.
(Kurze Pause)
GOLDREGENPFEIFER Ich mag mich nicht beklagen. Mein Leben besteht aus Privilegien.
FREIBAD Beklag dich.
GOLDREGENPFEIFER Ich find’s zum Kotzen, wenn sich Menschen darüber beschweren,
dass sie auf dem Internat waren. Weil sie damit
vor allem sagen wollen, wie klug sie sind
oder wie reich ihre Eltern.
FREIBAD Eine Information über das geheimnisvolle Leben der Era K.
GOLDREGENPFEIFER Kind aus erster Ehe wird, zugunsten der neuen Familie, wegrationalisiert.
Ich bin ein Klischee.
FREIBAD Ich find’s originell.
(Kurze Pause)
GOLDREGENPFEIFER Schau mich nicht so an.
FREIBAD Wie denn?
GOLDREGENPFEIFER Ich leide nicht, du brauchst mich nicht zu bedauern.
FREIBAD Ich bedaure dich nicht. Ich betrachte dich.
GOLDREGENPFEIFER Ich muss langsam los.
FREIBAD Es ist schön, dass du oft herkommst. Vor allem, weil du jedes Mal sagst, du hättest keine Zeit.
GOLDREGENPFEIFER Ich habe keine Zeit.
FREIBAD Aber ich schon.
GOLDREGENPFEIFER Ich bin zu oft hier.
Nein, lass.
FREIBAD Erzähl mir mehr von dir.
GOLDREGENPFEIFER Ich rede nicht gern über mich.
FREIBAD Großartig, dann reden wir endlich über mich. Frag mich was.
GOLDREGENPFEIFER Ich muss wirklich los.
FREIBAD Warum ich Schwimmen so wichtig finde? Gute Frage! Das erzähle ich dir gern.
Wo fange ich an?
Als Kind bedeutete Sommer für mich barfuß auf heißem Asphalt nachhause laufen mit klebrigen Händen und irgendwas Süßem im Mundwinkel. Doch in dem einen Sommer war das anders.
Da regnete es.
Ich weiß noch, wie ich stundenlang am Fenster saß und Bilder gemalt habe. Mit einem stumpfen Bleistift zog ich lange Striche, die ganz gerade nebeneinanderherliefen, dicke Linien, die sich eng aneinandergereiht über das Blatt schoben. Ich habe einen Regen gezeichnet, der so dicht war, dass er aussah wie die Fäden, die in der Küchentür hingen, damit die Fliegen nicht reinkommen konnten. Zwischen diesen Tropfen hätte keine Fliege durchfliegen können.
In diesem Sommer stand das Wasser zuerst im Keller. Dann in der Garage, später im Wohnzimmer. Das ging schnell, es war ein plötzliches Durch­einander, in dem meine Eltern einfach nichts mehr zu mir gesagt haben, außer, dass ich im Zimmer bleiben soll, bleib oben, bleib im Zimmer, komm nicht raus. Unser Auto ging kaputt und meine Tante, die nicht schwimmen konnte, starb beim Versuch, trotz Hochwasser einen Schuhkarton aus der Garage zu retten. Niemand hat darüber geredet, was in dem Karton war, aber alle redeten von diesem Schuhkarton, der Schuhkarton, der im Hochwasser verlorenging, und da wusste ich, dass ich schwimmen lernen musste. Ich wusste, dass es wichtig ist, schwimmen zu können, um nicht davongespült zu werden, um nicht wegen einem Schuhkarton zu ertrinken.
(Pause)
GOLDREGENPFEIFER Du hast da eine Wimper.
FREIBAD Was soll ich tun?
GOLDREGENPFEIFER Dir etwas wünschen und die Wimper wegpusten.
FREIBAD Und dann?
GOLDREGENPFEIFER Hoffst du, dass der Wunsch in Erfüllung geht.
FREIBAD Ich traue Wünschen nicht,
Wünschen fehlt die Weitsicht.
GOLDREGENPFEIFER Soll ich mir etwas wünschen?
FREIBAD Wenn du willst.
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Sagst du mir, was?
GOLDREGENPFEIFER Dass deine Wünsche in Erfüllung gehen.

FREIBAD (alleine) Später fing ich an, den Regen zu hassen, das war ganz natürlich. Ab diesem Moment war Regen schlimm und wenn es regnete, verfluchte ich den Himmel, manchmal reckte ich tatsächlich die Faust nach oben und beschwerte mich lautstark bei den Wolken. Du blöder Himmel. Jetzt hör aber endlich auf damit. Das ist jetzt genug. Ich sah den Regen als Strafe oder, noch schlimmer, als Unheil, das uns einfach traf, obwohl wir gar nichts getan hatten. Ich fing an, mir zu wünschen, dass der Regen für immer ausbleibt.

VERWALTUNG Was ist es Ihnen wert?

FREIBAD Sonst gehen Wünsche nie in Erfüllung.

VERWALTUNG Ihre Bitte ließ mich nicht mehr los, Sie waren so
mitgenommen. Also habe ich etwas recherchiert.
FREIBAD Wie meinen Sie das?
VERWALTUNG Nehmen wir mal an, ich hätte eine externe Quelle, auf die ich für Sie zurück­greifen könnte. Was sagen Sie dazu?
FREIBAD Ich verstehe nicht ganz.
VERWALTUNG Ich formuliere es einfacher:
Ich bin vielleicht auf Wasser gestoßen,
das ich Ihnen anbieten könnte.
FREIBAD Das – das ist ja fantastisch.
VERWALTUNG Sie sind interessiert?
FREIBAD Natürlich, seit Wochen kämpfe ich dafür, dass das Becken gefüllt wird und/
VERWALTUNG Gut, gut. Dann sind wir hier fertig. Jemand aus meinem Team wird Sie kontaktieren. Sobald das Finanzielle geregelt ist, bekommen Sie Ihr Wasser.
FREIBAD Das Finanzielle?
VERWALTUNG Der Transport ist teuer, und das Abpumpen etc.
FREIBAD Also/
VERWALTUNG Es ist eine private Quelle.
Die müssen auch von etwas leben.
FREIBAD Die Stadt bezahlt das Wasser.
VERWALTUNG Es ist Ihr Freibad, Sie betreiben es selbst.
FREIBAD Die Stadt bezahlt – Schulen und Vereine nutzen das Bad. Das ist die Verabredung.
VERWALTUNG Die Stadt hat bereits bezahlt. Vor dem Leck.
Jetzt sind Sie dran.
FREIBAD Ich konnte nur knapp die Reparatur bezahlen.
VERWALTUNG Wir hätten uns früher absprechen sollen, dann hätten Sie gewusst, dass Sie sich die Reparatur hätten sparen können.
FREIBAD –
VERWALTUNG Das ist aber auch verzwackt.
FREIBAD Wie viel?
VERWALTUNG Fünfundsechzig.
FREIBAD Fünfundsechzig was?
VERWALTUNG Tausend.
FREIBAD (Fängt an zu lachen. Will gehen, doch die Tür ist blockiert.)
VERWALTUNG Vielleicht schaffe ich es, sie auf sechzig runterzuhandeln.
Für Sie verzichte ich auf eine Provision.
FREIBAD Sechzig tausend?
VERWALTUNG Duschen, Spritzwasser, ständiges Erneuern, etc. Die Hygiene muss stimmen. Da sind wir mindestens bei dreitausend Hektoliter. Vermutlich brauchen Sie mehr.
Der Preis ist nicht übertrieben.
FREIBAD Aber/
VERWALTUNG Ausserdem kommt der Transport hinzu. Private Anbieter garantieren
eine höhere Qualität.
FREIBAD Da könnte ich es ja im Supermarkt kaufen und aus Flaschen ins Becken kippen.
VERWALTUNG Niemand hindert Sie daran.
FREIBAD Das ist zu viel.
VERWALTUNG Ich wollte es Ihnen anbieten, Sie wirkten so niedergeschlagen.
Doch angesichts der aktuellen Lage wäre es sowieso eine Schande, im Wasser zu baden.
FREIBAD Die Lage?
VERWALTUNG Die „Trockenheit“ – Sie wissen schon.
FREIBAD Ich bin mir nicht sicher.
(Kurze Pause)
VERWALTUNG Ich darf darüber nicht reden.
FREIBAD –
VERWALTUNG Vielleicht so viel:
Bald spricht niemand mehr vom Schwimmen.
FREIBAD –
VERWALTUNG Die Idee mit den Flaschen –
FREIBAD Ja?
VERWALTUNG Sie ist gar nicht so schlecht.
Nur: kippen Sie sie nicht aus.
(Die Tür lässt sich öffnen.)

KAMERA Schau mal aus dem Fenster.
MIKROFON Wieso?
KAMERA Es fahren keine Autos, aber es sind ungewöhnlich viele Menschen draussen.
MIKROFON Sie bewegen sich eigenartig.
KAMERA Als wüssten sie nicht, wohin sie wollen.
MIKROFON –
Sie gehen Richtung Rathaus.
Was machst du?
KAMERA Ich zeichne es auf.
MIKROFON Wofür?
KAMERA Es interessiert mich, ich sammle.
MIKROFON Was sammelst du?
KAMERA Psst, leise, wir wollen sie nicht stören.
MIKROFON Uns hört niemand.
(Kurze Pause)
KAMERA Das hier erinnert mich an meinen ersten Auftrag.
Ich habe, dokumentarisch,
einen Ornithologen nach Peru begleitet.
Er hatte festgestellt, dass die Vögel
ihren Lebensraum langsam nach oben verschieben
über die Jahre.
Oben angekommen,
verschwanden sie irgendwann ganz.
Die Ursache dafür war kaum merklich:
Eine Erwärmung der Luft um 0,42 Grad Celsius.
MIKROFON Und was hier erinnert dich daran?
KAMERA Es gab diesen einen Vogel,
den Schuppenmantel-Ameisenwächter,
er hatte riesige Kulleraugen
und er konnte schlecht fliegen,
er wirkte so fehl am Platz, wie er
herumhüpfte auf der Jagd
nach Spinnen und Wanderameisen.
Er bewegte sich ähnlich wie diese Menschen da unten – er wusste, dass er irgendwohin musste, um zu überleben,
aber es schien, als wüsste er nicht recht, wohin.

GOLDREGENPFEIFER Was machst du hier?
FREIBAD Ich – ich wollte dich –
Ich war unterwegs und sonst kommst du immer zu mir.
Da dachte ich –
(Lange Pause)
Darf ich reinkommen?
GOLDREGENPFEIFER Es ist spät.
FREIBAD Das Licht war an, daher/
GOLDREGENPFEIFER Ich arbeite.
FREIBAD Woran arbeitest du?
GOLDREGENPFEIFER Das weißt du doch.
FREIBAD Ja – n – nicht so richtig.
Irgendwas mit
Computern?
Du hast es nie erzählt.
GOLDREGENPFEIFER Du hast nie gefragt.
FREIBAD Ja, stimmt.
GOLDREGENPFEIFER Informationen sind eine Holschuld.
FREIBAD Wow.
GOLDREGENPFEIFER Was?
FREIBAD Nichts.
GOLDREGENPFEIFER Doch, sag.
FREIBAD Das ist der dümmste Satz, den ich je gehört habe.
GOLDREGENPFEIFER Vielleicht verstehst du nur nicht, was ich damit meine.
FREIBAD Ist das immer so?
In allen Bereichen, auch wenn ich nie auf die Idee käme, mir die Information holen zu müssen, weil ich das Problem nicht kenne, ist es dann wirklich meine Pflicht, mich darum zu kümmern, etwas in Erfahrung zu bringen?
GOLDREGENPFEIFER Was ich beruflich mache, hättest du ja wohl fragen können. Das ist simpelster Smalltalk.
FREIBAD Ich stelle doch ständig Fragen, ich will ständig alles über dich wissen, und du – Wenn du das wirklich so siehst, warum stellst du dann nie irgendwelche Fragen?
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBADWeil du nur Fragen stellst, wenn dich etwas,
wenn dich jemand auch wirklich interessiert.

WOLKE Sie sehen also,
eine Badehose ist mehr als bloß eine Badehose, sie ist eine Reisende,
die schon viel Wasser gesehen hat, bevor Sie sich im Laden für sie entscheiden
und damit vergnügt in ein Schwimmbecken springen.
Mit diesem Ausflug in die Welt des virtuellen ­Wassers schließe ich meine Ausführungen.
Ich danke Ihnen für Ihr Mitdenken
und verabschiede mich.
Ab jetzt ist es Ihre Aufgabe,
nach Lösungen zu suchen.
(Alle Studierenden außer KIEBITZ gehen)
KIEBITZ Sie haben aber keine Lösung angeboten
WOLKE Wertschätzung ist die Lösung.
Doch das Wort ist zu schwach.
Darum liegt die Lösung
in etwas Größerem.
KIEBITZ Wer wird jetzt meine Masterarbeit betreuen?
WOLKE Goldregenpfeifer und Kiebitz, nicht wahr?
KIEBITZ Nur noch das Vorkommen des Kiebitzes in Europa in Korrelation zur klimatischen Veränderung der letzten fünf Jahre – interessant sind nämlich die/ unerwartbaren
WOLKE Sie werden jemanden finden für die Betreuung Ihrer Arbeit.
KIEBITZ –
Ja.
WOLKE Es fiel mir schon immer schwer, loszulassen.
Warum ist das so?
KIEBITZ Ehm –
WOLKE Vermutlich liegt das an meiner Kindheit, denken Sie nicht?
KIEBITZ Kann schon/ sein
WOLKE Alle meine Kindheitserinnerungen haben mit dem Loslassen zu tun.
Das ist doch nicht normal, oder?
KIEBITZ Also/
WOLKE Sogar meine allererste Erinnerung handelt vom Loslassen, ja.
Was ist Ihre erste Erinnerung?
KIEBITZ Meine?
WOLKE Ja. Nur zu.
KIEBITZ (Kurze Pause)
Es ist etwas verschwommen, aber:
Ich sitze an einem Tisch und
mein Vater schenkt meiner Schwester zu trinken ein.
Anstatt zu sagen, dass es genug ist,
zieht sie das Glas weg und er sieht zwar hin,
sieht, dass da kein Glas mehr ist,
dass er aufhören müsste,
aber gießt einfach weiter ein.
Gießt das Wasser auf den Tisch.
Und alles versickert sofort
in der weichen Stofftischdecke.
WOLKE Und dann?
KIEBITZ Gab’s eine Ohrfeige.
Kurze Pause
WOLKE Das scheint mir übertrieben.
KIEBITZ Ja.
(Kurze Pause)
KIEBITZ Werden Sie weiter forschen?
WOLKE Ich forsche mit eindeutigen Ergebnissen und alle sehen diese Ergebnisse, manche verstehen sie sogar, aber es ist, als,
als könnte man sich dagegen entscheiden,
als könnte man wegsehen und hoffen, dass sich alles von selber erledigt –
Ich will nicht mehr forschen.
KIEBITZ Was werden Sie tun?
WOLKE Irgendwas. Eine Weltreise
mit dem Fahrrad vielleicht.
KIEBITZ Klingt gut.
WOLKE Es klingt nach Verzweiflung.
KIEBITZ Sie könnten schreiben.
WOLKE Alle tun das. Und niemand will es lesen.
KIEBITZ Sie erzählen toll. Ich habe Ihnen gerne zugehört.
WOLKE Von der Wolke, die nicht mehr loslassen will. Die immer weiter wächst, die aufhört zu regnen, bis sie alles Wasser in sich aufgesogen hat – bis es nur noch die Wolke gibt.
Oben das All, unten die Erde – die Wolke dazwischen.
Die Geschichte einer Katastrophe.
KIEBITZ Es wäre eine Möglichkeit.
WOLKE Wollten Sie noch was?
KIEBITZ Mich verabschieden, mich bedanken.
WOLKE Das ist schön.
(Kurze Pause)
KIEBITZ Kann ich Sie irgendwie aufmuntern?
WOLKE Vermutlich nicht.
KIEBITZ Immerhin scheint die Sonne, nicht wahr?
Die Sonne scheint – alles wird gut.

MIKROFON Der Bevölkerung wird geraten, zuhause zu bleiben und auf körperliche Aktivitäten zu verzichten –
um einen Hitzeschlag zu vermeiden –
und Fernseher oder Radio laufen zu lassen.
e Wir sind gleich wieder für Sie da
e Es folgt ein Werbespot
KAMERA Das ist übel.
MIKROFON Was?
KAMERA Es ist offiziell.
e Der erste Todesfall wegen Dehydrierung
MIKROFON So?
KAMERA Hab ich gehört.
e Es war schon online, ging viral
MIKROFON Aha.
KAMERA Ja, vorhin.
MIKROFON Wir machen keine Gerüchte.
Wir machen Nachrichten.
(Kurze Pause)
KAMERA Auf unserem Stockwerk wurde das Wasser gestohlen.
e Wer tut sowas?
MIKROFON Berichten wir zu oberflächlich?
KAMERA Wie meinst du das?
MIKROFON Niemand hat uns gewarnt, hat den letzten Tropfen angekündigt.
Jemand hätte es doch wissen müssen.
e Wer ist dafür verantwortlich?
MIKROFON Sie müssen vor die Kamera.

e Vor dem Rathaus haben sich viele versammelt
e Unabgesprochen
e Sie warten
e Obwohl niemand mehr drin ist
e Das hat sich schnell herumgesprochen,
dass da keiner mehr
e hineingegangen ist ins Rathaus
e Schon am Tag davor, vor dem Ausbleiben des letzten Tropfens, war niemand mehr
im Rathaus drin
e Was soll man noch beraten
e Lieber Vorräte anlegen durch Wissensvorsprung, lieber Land gewinnen
e Wenn auch kein Land sein Wasser teilt
e Und doch haben sich so viele versammelt
e Wollen rufen und stampfen
e Skandieren
e Nur, die Hitze macht die Menge stumm
e Macht aus einer Meute nur noch
e Leute
e Durst ist leise

GOLDREGENPFEIFER Ist es wegen uns, siehst du deshalb so aus?
FREIBAD Wie?
GOLDREGENPFEIFER Du siehst so
farblos aus, so als
als könnte ich durch dich hindurchgreifen.
FREIBAD Alles löst sich auf.
GOLDREGENPFEIFER Was meinst du?
FREIBAD Das Freibad. Ich kann es nicht füllen.
GOLDREGENPFEIFER Warum nicht?
FREIBAD Es gibt nicht genug Wasser.
GOLDREGENPFEIFER Wer sagt das?
FREIBAD Spielt es eine Rolle? Hast du plötzlich angefangen, dich zu interessieren, mir Fragen zu stellen? Kannst du nicht einfach sagen:
Oh, das tut mir leid, oder, das sind aber keine guten Nachrichten, anstatt alles zu hinterfragen, als müsstest du es überprüfen.
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Tatsachen verändern sich nicht durch mehr Information.
GOLDREGENPFEIFER Ich versuche, dich zu verstehen.
FREIBAD Dann hör zu: Es gibt nicht genug Wasser, um das regionale Schwimmbad zu füllen. Es gibt kein Wasser mehr hier, hier, wo es
immer Wasser gibt – und niemand redet darüber. Verstehst du?
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Wir müssen uns jetzt vorbereiten. Wir brauchen Wasser auf Vorrat – und mehr.
GOLDREGENPFEIFER Was meinst du damit?
FREIBAD Das weiß ich noch nicht. Lebensmittel. Medikamente. Gas.
GOLDREGENPFEIFER Hör auf.
FREIBAD Außerdem müssen wir uns verteidigen können.
GOLDREGENPFEIFER Hör auf wir zu sagen.
FREIBAD Wir müssen uns verteidigen können, du und ich.
GOLDREGENPFEIFER Zieh mich nicht in deine Gedanken hinein,
ich gehöre da nicht hin.
FREIBAD Das hatte ich vergessen: Du bist unantastbar. Du bist die, die hilft, die umverteilt. Weißt, wo die großen Probleme sind.
Du selber hast aber keine.
GOLDREGENPFEIFER Ich gehe jetzt.
FREIBAD Ist es wegen uns, hast du gefragt, ob ich deshalb so aussehe –
Du hast gerade noch von uns gesprochen.
Warum bist du gekommen?
GOLDREGENPFEIFER Um dir zu sagen, dass ich nicht mehr herkommen werde.
Das mit uns führt nirgendwo hin.
FREIBAD Warum?
GOLDREGENPFEIFER Spar dir die Fragen. Tatsachen verändern sich nicht durch mehr Informationen.

MIKROFON (Am Telefon) Wann könnten Sie im Studio sein – bei Ihnen? – aber –
KAMERA (leise) Das ist nicht weit weg, das geht.
MIKROFON In Ordnung, wir kommen.

e Vor dem Rathaus haben sich viele versammelt, stehen stumm
e Als ein Brückenwagen kommt
e Ein Transporter, hinten offen und darauf ganz viel
e Wasser
e So viel
e Wasser
e Hinten aufgeladen
e Und die Leute sehen dem Wagen entgegen und denken
e Wasser
e Dieses Wasser wird an einen besonderen Ort geliefert
e An einen Ort, den sie nicht kennen
Und wo sie nicht dazugehören
e An einen besseren Ort, für bessere Menschen
e Und alle wissen: Dieser Wagen ist eine Lüge
e Eine Fata Morgana
e Ein Konstrukt, das sie stillschweigend akzeptiert haben
e Bereit waren zu akzeptieren für den Frieden, den die Lügen bringen
e Aber jetzt sind sie durstig
e Und sie sehen die Lüge auf dem Brückenwagen liegen und
e Verbinden sich
e Werden mehr als Leute

FREIBAD Sie hier?
e (GARTENZAUN) Da staunen Sie.
FREIBAD Und was ist das?
e (GARTENZAUN) Ein Zeichen meiner Aufmerksamkeit.
(In der Hand von GARTENZAUN kreist eine Flasche Cognac.)
FREIBAD Aufmerksamkeit?
e (GARTENZAUN) Es ist ein Geschenk.
FREIBAD Ok.
e (GARTENZAUN) Sie können es annehmen. Sie zögern.
FREIBAD Ich bin Geschenke nicht gewohnt, nicht von Ihnen.
e (GARTENZAUN) Ach was.
FREIBAD –
e (GARTENZAUN) Sie sind lustig.
FREIBAD Warum sind Sie hier?
e (GARTENZAUN) Darf man seiner Nachbarin kein Geschenk mehr machen?
FREIBAD Ein Geschenk machen darf man.
e (GARTENZAUN) Ja unbedingt sogar, in Zeiten wie diesen
sollte man seinen Nachbarn
doch unbedingt Geschenke machen.
FREIBAD Was meinen Sie damit?
e (GARTENZAUN) Hören Sie, wir waren uns nicht immer einig
beim Thema Nachbarschaft.
FREIBAD Ach.
e (GARTENZAUN) Für uns bedeutet Zusammen­leben etwas anderes als für Sie,
das haben wir ja schon gemerkt.
Wir sind halt eher weitherzige Typen, ja,
die auch mal zu einem kleinen Umtrunk
einladen
und Sie sind –
FREIBAD Ja?
e (GARTENZAUN) –
Vergessen wir die Geschichte mit dem Zaun einfach.
FREIBAD Wenn Sie das wollen, vergesse ich gern,
dass Sie einen drei Meter hohen Zaun
vor meinem Fenster hochziehen wollten.
e (GARTENZAUN) Das waren keine drei Meter waren das niemals ja. Ha, ha.
FREIBAD Etwas wollen Sie doch von mir, nicht wahr?
e (GARTENZAUN) –
FREIBAD Was wollen Sie?
e (GARTENZAUN) Ach nichts.
Wir hatten nur
wir dachten nur
gesehen zu haben, dass Sie
vor ein paar Tagen sind hier ziemlich viele Kanister
und Sie haben auch einige Kasten mit Wasserflaschen irgendwo/
FREIBAD Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrechen muss.
e (GARTENZAUN) Ja?
FREIBAD Nein.
e (GARTENZAUN) –
Wie, Nein?
FREIBAD Die Antwort lautet: Nein. Ich habe kein Wasser.
e (GARTENZAUN) Aber haben Sie, Sie haben doch/
FREIBAD Einen kleinen Vorrat habe ich mir angeschafft, ja, das Nötigste, für mich, zum Überleben.
e (GARTENZAUN) Überleben.
FREIBAD Ja.
e (GARTENZAUN) Ja.
(Kurze Pause)
Ich wollte Sie auch gar nicht jetzt so direkt danach fragen.
Wenn Sie nur einen kleinen
Bestand aufnehmen könnten.
Wir wollten in der Nachbarschaft vorsorglich Inventur machen,
sehen, was da ist,
und falls jemand etwas hat, was jemand anderes in diesen Tagen vielleicht braucht/
FREIBAD Ich brauche nichts.
e (GARTENZAUN) Ja.
FREIBAD –
e (GARTENZAUN) Wir sind vor kurzem Eltern geworden.
FREIBAD Stimmt.
Ich gratuliere noch einmal.
e (GARTENZAUN) Für das Milchpulver, das wir zur Genüge haben, brauchen wir Wasser.
(Lange Pause)
e (GARTENZAUN) Bitte.
FREIBAD Ich –
e (GARTENZAUN) Bitte. Ich bitte Sie.
FREIBAD Wenn ich Ihnen heute Wasser gebe, was ist dann morgen?
e (GARTENZAUN) Morgen ist wieder welches da.
Die Notversorgung wird kommen.
Die lassen uns nicht allein.
Wir brauchen doch nur heute etwas,
nur ein bisschen, zur Überbrückung.
Und morgen ist es wieder anders.
e Nichts ist morgen anders, will sie sagen
e Vor allem nicht mit einem Baby, das morgen noch durstiger sein wird als heute
e Sie blinzelt in die Son ne, lässt sich blenden,um ihn nicht weiter anschauen zu müssen
FREIBAD Es tut mir leid.
e (GARTENZAUN) Nein. Sie haben Wasser. Das Baby braucht es.
e Und sie will die Tür schließen, aber er ist schneller und stark ist er
e Woah, ist der stark
e Er drückt die Tür auf, schubst sie weg und rennt an ihr vorbei ins Haus
e Und dann ist er nicht mehr allein, zehnfach, hundertfach
wie Ameisen irrt er in alle Richtungen
e Und als einer von ihnen den Kühlschrank aufreisst, bleiben alle stehen
(Kurze Pause)
e Und er, der eine, erleuchtet vom Licht des Kühlschranks in der verdunkelten Küche,
sieht sich um, sieht sie an
FREIBAD Und jetzt?
(FREIBAD geht auf ihn zu, GARTENZAUN weicht vor ihr zurück. Alle weichen zurück.
FREIBAD nimmt eine Wasserflasche, gibt sie GARTENZAUN und wie Ameisen verschwinden diese so plötzlich, wie sie aufgetaucht sind.
)
e (GARTENZAUN) Ich musste das tun.
FREIBAD Danke.
Gerne.

e Im Supermarkt tummeln sich Menschen, wie früher Tauben auf dem Vorplatz
e Doch niemand gurrt
e Es ist ungewöhnlich still
e Vor der Kasse hängt die Ungeduld der Wartenden in der Luft
e In ihren Augen kreist, verdeckt vom Blinzeln kleinstädtischer Höflichkeit, ein Misstrauen
GOLDREGENPFEIFEREntschuldigung.
e Es ist zu eng hier, viel zu eng
e Sie schlängelt sich an den Regalen vorbei
e Doch sie ist zu spät
e Die Paletten sind
GOLDREGENPFEIFER Alles leer. Völlig leergeräumt.
e Wir hätten gestern herkommen sollen
e Hab ich ja gesagt
e Oder einen größeren Vorrat anlegen
e Das hab ich ja gesagt
e Era will weiter
e Der Durst nagt schon seit Stunden
e Doch sie wird nach hinten gedrängt von denjenigen, die zu den Getränken pilgern
und noch nicht gesehen haben, dass nichts mehr da ist
KIEBITZ Goldregenpfeifer?
GOLDREGENPFEIFER Kiebitz.
KIEBITZ Hilf mir.
GOLDREGENPFEIFER Wobei?
e Sie weist auf ihren Einkaufswagen,
er ist vollgepackt
mit Eis
e Gefrorenes Wasser in riesigen Beuteln
e Und während sie begreift,
welchen Schatz ihre Schwester im Wagen vor sich herschiebt,
machen sich hinter ihr Menschen über die Gefriertruhen her
wie Hyänen über Antilopen
GOLDREGENPFEIFER Was hast du vor?
KIEBITZ Ich komme nicht an den Leuten vorbei.
GOLDREGENPFEIFER Und was soll ich tun?
KIEBITZ –
Wir könnten ihn hochheben und raustragen.
GOLDREGENPFEIFER Weißt du, wie schwer der ist?
KIEBITZ Hast du eine bessere Idee?
e Kann ich euch helfen
KIEBITZ Es geht schon, danke.
e Ihr braucht doch Hilfe, ihr kommt nicht vorwärts, das sehe ich
Ich packe mit an
KIEBITZ Doch, wir kommen vorwärts.
e Ich helfe gern
GOLDREGENPFEIFER Das geht schon.
e Braucht ihr Hilfe
KIEBITZ Nein, danke.
e Wir können euch helfen
e Ich helfe auch
KIEBITZ Nein, vielen Dank.
Lassen Sie das.
e Vielleicht nehme ich einen, dann geht es leichter
KIEBITZ Nein. Finger weg. Nein, he! Nein!
e Es lässt sich nicht kontrollieren
e Die Leute fangen an, am Wagen zu zerren, Eisbeutel aus dem Wagen zu greifen
e Und je mehr sie sich dagegen wehren, desto schneller zerreissen die Beutel
e Der Wagen kippt
GOLDREGENPFEIFER Lass es – wir gehen.
WOLKE Vielleicht fing es an, als ich vor diesem Brunnen stand
Wasserfontänen spritzten und
Da stand einer und schnippte
Eine Münze in den Brunnen
Sah mich an
e Damit wir wieder herkommen, gell
Sie sollten sich sauberes Trinkwasser wünschen, sagte ich
Er zwinkerte bloß und ging
Und ich stand da und wurde
Wütend wurde ich
Dass da unten, sichtbar am Grund des Brunnens
Münzen liegen
Für die falschen Wünsche

KIEBITZ Fuck! Fuck! Fuck! Fuck! Fuck!
GOLDREGENPFEIFER –
KIEBITZ Ich war so stolz auf meine Idee.
GOLDREGENPFEIFER Die Idee war nicht schlecht.
KIEBITZ Fuck.
GOLDREGENPFEIFER Immerhin haben wir vier Beutel.
KIEBITZ Vier Beutel.
GOLDREGENPFEIFER Sind acht Liter.
KIEBITZ Das reicht nirgends hin.
GOLDREGENPFEIFER Ein paar Tage reicht es.
KIEBITZ Fuck!
GOLDREGENPFEIFER Wir müssen das Eis nachhause bringen. Die Beutel sind zerrissen und aus acht Litern wird in der Hitze sehr schnell sehr viel weniger Eis.
KIEBITZ Wie bist du hier?
GOLDREGENPFEIFER Zu Fuß.
KIEBITZ Mit dem Rad.
e Und dann sind sie auf einmal zehn Jahre jünger
e Ines auf dem Gepäckträger ihrer großen Schwester
e Und Era tritt so in die Pedale, wie sie es schon früher getan hat:
Damals, um möglichst schnell den Hügel runterzurollen
Weil sie wusste, dass beide umso lauter kreischen, je schneller sie fuhr – heute, weil sie schnell sein muss
e Das gefrorene Gold in Sicherheit bringen
KIEBITZ Und wo fahren wir hin?
GOLDREGENPFEIFER Zu dir.
KIEBITZ Du meinst zu uns nachhause?
GOLDREGENPFEIFER Es ist näher als zu mir.
e Während sie fahren, schmilzt das Eis an ihrem Körper, T-Shirt, Hose, Schuhe, alles wird nass
e Hinter ihnen eine Spur: dunkle Flecken auf Asphalt, die schon in wenigen Augenblicken wieder verschwunden sind
GOLDREGENPFEIFER Du bist undicht!
KIEBITZ Ich weiß!
e Und da fühlt sich Ines tatsächlich wie das Mädchen von damals
e Als wäre sie zehn und Era neunzehn
e Als wäre alles leicht
e Und ja, sie kreischen
e Obwohl Ines weiß, dass es nichts zu kreischen gibt
e Aber sie will es, will so gern kreischen und schreien, lachen und rufen
e Und kichern wie damals, wenn sie den Berg hinuntergerollt sind
e (MOTORRAD) He!
KIEBITZ (Jubelt im Wind.)
e (MOTORRAD) Du bist ganz schön laut!
KIEBITZ Ich muss laut sein.
Manchmal muss ich laut sein!
e (MOTORRAD) Wartet doch mal.
GOLDREGENPFEIFER Wir können nicht warten, das Eis schmilzt.
e (MOTORRAD) Haltet an.
Halt an.
KIEBITZ He!
e (MOTORRAD) –
(Sie fallen hart hin. KIEBITZ verletzt sich.)
GOLDREGENPFEIFER Geht’s noch?
(Pause)
e (MOTORRAD) Ich hab gesagt, ihr sollt anhalten.
GOLDREGENPFEIFER Wir wollten nicht anhalten.
KIEBITZ Komm. Wir haben es eilig.
e (MOTORRAD) Wartet.

Ich habe die Spur gesehen.
Dachte erst, es wär Öl.
Ist kein Öl.
KIEBITZ Nein.
e (MOTORRAD) Es ist Wasser.
(Pause)
GOLDREGENPFEIFER Wir würden gerne weiterfahren.
e (MOTORRAD) Gib es mir.
(Kurze Pause)
e Gib mir das.
GOLDREGENPFEIFER Im Supermarkt gibt es noch mehr.
e (MOTORRAD) Gut für euch.
Könnt euch neues holen.
Gib her.
GOLDREGENPFEIFER Lass sie.
e Und als er auf sie zugeht, um ihr die Beutel aus der Hand zu nehmen
Passiert es:
(KIEBITZ spuckt MOTORRAD ins Gesicht. Lange Pause.
MOTORRAD wischt sich mit der Hand über das Gesicht, sieht sich die Spucke an. Pause.
MOTORRAD leckt die Spucke von der Hand.
)
e (MOTORRAD) Mach das nochmal.
(Lange Pause)
Nochmal!
(KIEBITZ gibt die Beutel an MOTORRAD. MOTORRAD wirft zwei Eiswürfel auf den Boden und geht.)

MIKROFON Wir werden vor allem darüber reden, wie es so weit kommen konnte.
VERWALTUNG Sie sagen, das Interview wird live ausgestrahlt?
MIKROFON Es ist ein ungewöhnliches Format, doch –
VERWALTUNG Es ist auch eine ungewöhnliche Zeit. Ich nehme an, Sie möchten über Schuld sprechen.
MIKROFON Ich verstehe nicht.
VERWALTUNG Sie sind bestimmt auf der Suche nach Schuldigen. Schuld verkauft sich gut. Sie wollen doch verkaufen.
MIKROFON Ich will berichten.
VERWALTUNG Dreimal in Folge für den Journalismuspreis nominiert und nie gewonnen. Das ist doch ärgerlich, nicht?
Wir könnten das ändern.
KAMERA Sie geben selten Interviews.
VERWALTUNG Das ist richtig, ich lehne sie ab.
MIKROFON Warum haben Sie in dieses eingewilligt?
VERWALTUNG Vieles verändert sich derzeit.
KAMERA Könnten Sie etwas weiterreden, fürs Mikrofon?
VERWALTUNG Es interessiert mich, was jetzt passiert. Erwartetes Szenario: Gewalt, Chaos, Ohnmacht. Aber was, wenn das falsch ist, wenn die Eskalation ausbleibt.
KAMERA Weiter bitte.
VERWALTUNG Erfahrungsgemäss warten Menschen im Katastrophenfall nicht ohnmächtig auf Hilfe. Sie bilden Gruppen und verteilen Aufgaben, um möglichst viele zu retten. Häufig kommt es zu einem Rückgang der Kriminalität. Doch alle rechnen mit Eskalation. Weiter?
KAMERA Weiter.
VERWALTUNG Warum ist das so? Weil bei realen Ereignissen die Berichterstattung verzerrt und die Fiktion zugespitzt wird. Der Grund ist legitim: Es lässt sich besser verkaufen. Ich frage mich nun, ob, da den Menschen immer wieder die Geschichte der Eskalation erzählt wurde, sie womöglich anfangen, sich auch so zu verhalten.'
MIKROFON Es ist für Sie ein soziales Experiment?
VERWALTUNG Ganz und gar nicht. Aber ich halte nichts von Realitätsverdrängung. Und Sie bestimmt auch nicht, nicht wahr?
MIKROFON Sie sagen also, falls Chaos ausbricht, sind primär die Medien schuld?
VERWALTUNG Da Sie nicht über Schuld sprechen wollen, hätte ich sowas niemals gesagt, aber mir scheint Ihr Gedanke durchaus einleuchtend.
Gut?
KAMERA Von mir aus können wir anfangen.

KIEBITZ (Verbirgt ihre Schmerzen.)
Und jetzt?
GOLDREGENPFEIFER Fahr nachhause.
KIEBITZ Kommst du mit?
GOLDREGENPFEIFER –
KIEBITZ Sie sind nicht da. Du könntest mitkommen.
GOLDREGENPFEIFER Wo sind sie?
KIEBITZ –
Im Urlaub.
GOLDREGENPFEIFER Echt?
Und wo?
KIEBITZ Am Kühlschrank hängt ein Zettel.
GOLDREGENPFEIFER Nur weil ich nicht mit ihnen rede, musst du nicht so tun, als ob du auch nichts mit ihnen zu tun haben würdest.
KIEBITZ (Kurze Pause)
Kreuzfahrt nach Norwegen. Birdwatching, Baby. Die wissen, was rockt.
GOLDREGENPFEIFER Meinst du, sie haben gehört, was hier los ist?
KIEBITZ Nicht von mir.
GOLDREGENPFEIFER Hast du was da?
KIEBITZ Nichts.
GOLDREGENPFEIFER Du hast alle Vorräte aufgebraucht?
KIEBITZ In der Gefriertruhe gibt’s ein paar Hähnchenschenkel, Tomatensauce, geriebenen Käse und zwei Kilo Brot. Dann die Konserven mit Oliven und Ananas, ein paar Kilo Pasta, Reis und, weil niemand sie so richtig mag, Anchovis im Glas.
GOLDREGENPFEIFER Bei der Ananas ist Flüssigkeit drin.
KIEBITZ Das ist Sirup.
GOLDREGENPFEIFER Wir könnten die Gefriertruhe abtauen und trinken, was dabei rumkommt.
KIEBITZ –
GOLDREGENPFEIFER Verstehe.
KIEBITZ Es war ekelhaft.
GOLDREGENPFEIFER Nichts zu trinken?
KIEBITZ Wir haben doch nie viele Getränke auf Vorrat, mal eine Cola und ein paar Bier.
Aber die sind weg.
GOLDREGENPFEIFER Und was wollen wir zuhause?
KIEBITZ Schatten? Kühle Luft, die beim Nachdenken hilft?
GOLDREGENPFEIFER Wie verlieren für den Weg zu viel Energie.
KIEBITZ –
GOLDREGENPFEIFER Weinst du?
Du hast dich verletzt.
KIEBITZ Nein.
GOLDREGENPFEIFER Du hast Schmerzen.
KIEBITZ (Lügt) Mir geht es gut.
Kennst du das, dass du manchmal gar nicht weißt, wie durstig du bist, bis du den ersten Schluck trinkst? Jetzt vermisse ich diesen Durst. Er wurde ersetzt von einem, den ich noch nicht kannte.
GOLDREGENPFEIFER –
KIEBITZ Fahren wir zu dir.
GOLDREGENPFEIFER Da ist auch nichts.
Nicht einmal kühl ist es da.
KIEBITZ Irgendwo müssen wir hin.
GOLDREGENPFEIFER Ich kenne eine Person, die uns helfen kann.
e (BRÜCKENWAGEN) Drei Lieferungen noch heute
Nach oben, zum Altenheim am Berg
Der Straßenverkehr vor meinem Wagen
Ist sichtbar dichter, die Straßen eng
Ich atme den kratzigen Tabakrauch aus
Er schlägt zurück
Durch das Fenster, in den Wagen, ins Gesicht
Vorne am Rathaus geht eine Frau auf die Straße
Versperrt mir den Weg
Und ihr wütender Blick fängt mich ein
Ich fahre langsamer, an sie heran
So nah ich kann, fahre ich hin
Sie steht da, mitten auf der Straße
Und ich bremse und lege die Hand auf die Hupe
Und spüre, dass hupen nichts bringt
Durch den Rückspiegel seh’ ich, wie einer schon klettert
Nach hinten auf die Brücke, und
Die Ladung nimmt, die ich ausfahren muss
Und er gibt sie
Nach unten
Stück für Stück
Verteilt sie
Ich hupe nun doch
Und das Hupen zieht noch mehr Menschen an
Die mich gar nicht bemerken, als wär das alles abgesprochen
Als wäre das ihr Eigentum und diese Handlung kein Diebstahl
Und bald ist die Ladung verteilt
Die Frau vor dem Wagen
Nimmt den Blick von mir weg
Und ich öffne die Tür, steige aus, verlasse den Wagen, der Schlüssel steckt
Ich kondensiere auf der Straße, werde einer von ihnen
Stehe vor dem Rathaus
Mit nichts

FREIBAD Wer ist das?
GOLDREGENPFEIFER Meine Schwester.
KIEBITZ Ines.
FREIBAD Sie ist verletzt.
KIEBITZ Es geht schon.
GOLDREGENPFEIFER Es geht nicht. Wir wurden angegriffen.
FREIBAD –
KIEBITZ Vom Fahrrad gestoßen.
FREIBAD –
GOLDREGENPFEIFER Wir brauchen Hilfe.
FREIBAD Von mir?
GOLDREGENPFEIFER Du bist die Einzige, die gewarnt war.
FREIBAD Bestimmt nicht die Einzige.
GOLDREGENPFEIFER Aber du wusstest es.
FREIBAD Weil ich Pech hatte.
GOLDREGENPFEIFER Doch jetzt hast du Glück.
FREIBAD Weil ihr hier seid?
GOLDREGENPFEIFER Nein.
FREIBAD Es ist ständig jemand hier. Plötzlich
haben alle das Gefühl, ich müsste sie retten,
ich sei die barmherzige Samariterin oder so.
GOLDREGENPFEIFER Du konntest vorsorgen. Und nun kannst du helfen.
FREIBAD Alle konnten vorsorgen.
Nie wurde jemand am Vorsorgen gehindert.
GOLDREGENPFEIFER Hilf uns.
FREIBAD Du bist doch die, die allen hilft. Jetzt hilf dir selbst.
GOLDREGENPFEIFER Warum bist du so?
FREIBAD Plötzlich bist du da, du hattest keine Zeit, kein Interesse, aber jetzt –
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Ich würde gern.
Ich kann nicht.
GOLDREGENPFEIFER Das glaub ich dir nicht.
FREIBAD Ich kann nicht allen helfen. Wie soll das gehen?
GOLDREGENPFEIFER Versuch es.
KIEBITZ Lass.
GOLDREGENPFEIFER Du hast gesagt, dass du dein Leben verschwendest.
Vom Geben hast du geredet. Vom Helfen.
KIEBITZ Wir helfen uns selbst.
Irgendwo gibt es Wasser.
GOLDREGENPFEIFER Nein, gibt es nicht.
Es gibt schon lange kein Wasser mehr.
KIEBITZ Wir gehen.
FREIBAD Tut es weh?
KIEBITZ Was spielt das für eine Rolle?
FREIBAD Keine.
KIEBITZ Und wieso fragst du?
FREIBAD Weil es behandelt werden muss.
KIEBITZ Ich habe eine gute Wundheilung.
GOLDREGENPFEIFER Es tut weh. Es tut sehr weh.
KIEBITZ Era.
GOLDREGENPFEIFER Berit.
FREIBAD Gut.

VERWALTUNG Es klingt nach einer globalen Aufgabe, aber es ist eine lokale Angelegenheit: Für jeden Ort gibt es eigene Lösungen.
MIKROFON Können Sie das konkretisieren?
VERWALTUNG Klimatische Voraussetzungen, Ressourcen in Boden oder Luft – die Qualität ist sehr verschieden.
MIKROFON Und warum wurde nicht umverteilt?
VERWALTUNG Der Transport ist zu kostspielig, es ist wichtig, das Problem Wasser lokal zu behandeln.
MIKROFON Wenn ich das richtig sehe, wäre es Ihre Aufgabe gewesen, das Problem Wasser, wie Sie es nennen, für die Region zu lösen.
VERWALTUNG Ich warne seit langem, doch ich bin kein Entscheidungsträger.
MIKROFON In meiner Recherche habe ich keine Warnung gefunden.
VERWALTUNG Als politischer Berater entscheide ich nicht, welche Informationen an die Öffentlichkeit gehen.
MIKROFON Wie konnte die Situation dennoch so weit kommen?
VERWALTUNG Es gibt keinen Regen.
MIKROFON Doch warum wurden wir unvorbereitet getroffen?
VERWALTUNG Wegen des weit verbreiteten Irrtums, wir könnten uns immer noch auf die Natur verlassen. Sogar die Politik hält verbissen daran fest. Aber das Wetter hat Besseres zu tun, als uns zuzudienen.
(WOLKE schweigt aus einiger Entfernung)
VERWALTUNG Außerdem wurde entgegen meiner Empfehlung
die Ressource zu spät privatisiert.
Erst wenn Wasser einen Preis hat,
wird es wertvoll.
(Kurze Pause)
Der Markt wurde hier nicht lanciert. Eine verpasste Chance.
MIKROFON Sie wollen also sensibilisieren, wie es vor Ort um die Wasserreserven bestellt ist – und daraus Profit schlagen?
VERWALTUNG Ich will, was alle wollen:
Einen gerechten Zugang zu Wasser –
dies kann nur gewährleistet werden, wenn
die Ressource besser kontrolliert und klarer verteilt wird.
Der Markt schafft gewöhnlich die bestmögliche Welt.
Es hat sich gezeigt, dass der Staat dies nicht beherrscht:
zu viele Interessen, zu wenig Übersicht.
Und jetzt werden die Folgen spürbar.
Privatisierung führt
zu einer klaren Verteilung, zu exakten Preisen,
verhindert Verschmutzung –
denn die Verantwortung wird definiert.
Verschwendung und Verschmutzung bedeutet letztlich:
Verlust./
Dies schützt die Umwelt und damit
(KIEBITZ Privatisierung als das verpasste Heilsversprechen.)
e Zzzzpp: Alles weg
e Als ob der Fernseher, als ob die Stromversorgung ohnmächtig wurde angesichts der Worte, die durch den Bildschirm in den trockenen Tag dringen
GOLDREGENPFEIFER Ein Stromausfall?
FREIBAD Das war zu erwarten.
KIEBITZ Achja?
GOLDREGENPFEIFER Hast du Taschenlampen?
FREIBAD Ein Stromausfall ist erwartbar.
KIEBITZ Inwiefern?
FREIBAD Denk halt nach. Fast alle Tätigkeiten sind an Wasser geknüpft.
Hier, nimm die.
GOLDREGENPFEIFER Wie schalte ich sie ein?
e Es ist keine Taschenlampe
KIEBITZ Ich kann gut ohne Duschen und Zähneputzen sein.
FREIBAD Darum geht’s nicht. Körperlich und mental kann niemand mehr funktionieren. Dummerweise wurde bis vor wenigen Tagen alles zum Duschen und Putzen benutzt, obwohl es hätte getrunken werden können.
e Das ist keine Taschenlampe
KIEBITZ Das hat immer noch nichts mit dem Stromausfall zu tun.
FREIBAD Seit fünf Tagen haben alle,
die sich darauf verlassen haben,
dass es automatisch aus dem Wasserhahn fliesst,
keinen Zugang mehr zu Wasser. Ohne Vorräte sind sie seit vorgestern durstig. Und seither beschäftigen sie sich nur noch damit, Wasser zu besorgen.
Das ist ihr einziges Ziel.
GOLDREGENPFEIFER Das ist keine Taschenlampe.
FREIBAD Irgendwann gehen sie nicht mehr zur Arbeit, verstehst du? Wenn niemand zur Arbeit geht, stehen Maschinen still, gehen kaputt. Aber Strom muss verteilt werden, das ist zwar automatisiert, aber es wird gesteuert, reguliert. Wenn sich niemand darum kümmert –
KIEBITZ Bleibt er irgendwann aus.
FREIBAD Das Prinzip einer Katastrophe.
GOLDREGENPFEIFER Wieso gibst du mir die?
FREIBAD Zum Schutz.
GOLDREGENPFEIFER –
FREIBAD Wir stecken mittendrin, Era. Du hast noch nicht verstanden, was gerade passiert.
(Kurze Pause)
KIEBITZ Ich nehme sie.
GOLDREGENPFEIFER Nein.
KIEBITZ Du willst sie nicht.
GOLDREGENPFEIFER Du willst sie auch nicht. Sie will sie nicht.
KIEBITZ Zeigst du mir, wie sie funktioniert?
GOLDREGENPFEIFER Jetzt also Trockenschießen.
FREIBAD Morgen.
e Eras Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt
e Sie sieht ihrer Schwester zu, wie sie eine Pistole in ihren Rucksack steckt, ohne mit der Wimper zu zucken
e Wie ihre kleine Schwester ganz selbstverständlich
Das Magazin, das Berit ihr gibt, entgegennimmt
e Sieht sie in dieser ungewollten Dunkelheit ganz scharf
Aber mit anderen Augen
FREIBAD Morgen früh fangen wir an.
KIEBITZ Womit?
e Und dieser Rucksack verkörpert jetzt alles, was Era an dieser Welt hasst
VERWALTUNG Das wird nichts bringen.
Ohne Strom bleibt die Tür verriegelt.
KAMERA Was?
MIKROFON Die Tür muss eine Notöffnung haben.
VERWALTUNG Die hat sie.
MIKROFON Aber?
VERWALTUNG Sie wird von außen bedient.
MIKROFON Das ist absurd.
VERWALTUNG Und die wenigen, die zur Arbeit gekommen sind, habe ich nachhause geschickt.
MIKROFON Ist das,
das ist bestimmt nicht
sicherheitskonform.
VERWALTUNG Ich wollte es so.
KAMERA Weil Sie sich gern in ungemütlichen Räumen einsperren lassen?
VERWALTUNG Wenn eine Verhandlung zu scheitern droht, kann ich,
ups – wir sind eingesperrt,
die Tür blockieren,
und die Notöffnung lässt sich nur von aussen aktivieren.
MIKROFON Draussen ist gerade niemand,
Sie gewinnen Zeit.
KAMERA Und die Fachperson, die die Tür öffnen kann, trifft erst ein, wenn Sie soweit sind.
MIKROFON Ich dachte, Sie sind politischer Berater.
VERWALTUNG Ich habe diverse Mandate.
Die Übergänge sind fliessend.
KAMERA Und womit handeln Sie?
VERWALTUNG Ich bin eher überregional tätig.
MIKROFON Wenn Sie die Tür von innen blockieren können, warum nicht auch von innen öffnen?
VERWALTUNG Nicht ohne Strom.
KAMERA Und wie kommen wir raus?

KIEBITZ Hört mal.
Hört ihr das nicht?
GOLDREGENPFEIFER Doch. Ich höre es. Berit, du?
FREIBAD –
GOLDREGENPFEIFER Ganz schön laut.
Das müssen zwanzig, dreißig Leute sein.
KIEBITZ Es sind viel mehr.
GOLDREGENPFEIFER Als du gesagt hast, dass wir morgen früh losgehen, dachte ich, wir gehen in einen Schutzbunker oder so,
nicht in einen Raum voller Schwimmwesten.
Ist aber ok hier. Ein gutes Versteck.
FREIBAD –
GOLDREGENPFEIFER Ich habe dir nie erzählt, dass das Schwimmbad einer meiner Lieblingsorte war, im Internat.
Obwohl ich nicht schwimmen konnte,
war ich da, wenn niemand sonst da war.
Wegen des Lichts, das sich im Wasser brach.
Ist ähnlich, wie in ein Feuer zu schauen.
Das fällt mir jetzt gerade ein.

Stell mir eine Frage.
FREIBAD –
GOLDREGENPFEIFER Wo ich jetzt lieber wäre als hier, gute Frage.
Ich wäre lieber
Teilnehmerin bei einem Tanzturnier oder noch schlimmer: Bei einer Misswahl. Ich würde lieber eine Felswand hinaufklettern, obwohl mir die Höhe suspekt ist, immer weiter hoch, würde sogar runterschauen – wenn ich dafür nicht hier sein müsste.
KIEBITZ Alles ist besser, als sich jetzt hier verkriechen zu müssen.
Ich wäre sogar lieber mit Mama und Papa/ in
GOLDREGENPFEIFER Nein. Dann lieber hier.
FREIBAD Darauf lässt sich gut schlafen.
KIEBITZ Was?
FREIBAD Die Schwimmwesten. Sie sind weich, wie Matratzen. Und verstecken kann man sich darin.
GOLDREGENPFEIFER Die nehmen gerade dein Haus auseinander.
FREIBAD Sie suchen Wasser.
KIEBITZ Das tun sie aber sehr laut.
FREIBAD Sie sind auch sehr durstig.
e Berit lässt die Pistole nicht los
(Kurze Pause)
FREIBAD In der Schule.
GOLDREGENPFEIFER Was meinst du?
FREIBAD Ich wäre sogar lieber wieder in der Schule. Würde lieber eine Chemieprüfung schreiben, als hier zu sein.
KIEBITZ Was ist dein Plan?
FREIBAD Warten.
GOLDREGENPFEIFER Das Wasser hier bunkern, darauf warten, dass sie kommen und dann?
FREIBAD Ich habe hier kein Wasser gebunkert.
GOLDREGENPFEIFER Du wolltest einen Vorrat anlegen.
FREIBAD Hab ich.
GOLDREGENPFEIFER Und wo ist dieser Vorrat?
FREIBAD Im Haus.
KIEBITZ Was machen wir dann hier?
FREIBAD Die ganze Nachbarschaft wusste es. Wer weiß, was sie mit uns gemacht hätten, wenn wir im Haus gewesen wären – die waren vorbereitet, hatten sich abgesprochen.
Ich habe ihnen das Wasser überlassen.
GOLDREGENPFEIFER Das ganze Wasser?
FREIBAD Bist du verärgert?
GOLDREGENPFEIFER Nein.
FREIBAD Ich dachte, du fändest es gut.
Ich habe mich entschieden, zu teilen.
Sogar die Tür war offen – sie konnten einfach eintreten.
GOLDREGENPFEIFER Sie plündern.
e Sie organisieren sich, es funktioniert
FREIBAD Sie verteilen.
KIEBITZ Und wir?
FREIBAD Drei Liter habe ich hier.
Einen für dich, einen für dich,
einen für mich.
Es schien mir gerecht.

(WOLKE wächst)

VERWALTUNG (Am Telefon) Der Akku ist gleich – gib sie mir kurz – ich konnte nicht, ich bin eingesperrt und – im Büro – naja, wir sind im achten Stock! – nein – jetzt gib sie mir – sie ist auch meine Tochter und ich muss – – –
(Kurze Pause)
MIKROFON Jemand holt uns bestimmt bald hier raus.
VERWALTUNG Ja. Am dritten Tag geschehen Wunder.
e (KAMERA) Im Regenwald waren überall Tiere
Ich wusste nie, was sich im Baum neben mir tummelte
Vögel, Schlangen, Termiten, alles lebte
Man war nie allein
VERWALTUNG Geht es Ihnen gut?
e (KAMERA) Ich habe die Vögel aufgezeichnet, bevor
Sie verschwanden
Sie waren schön
MIKROFON Schau mal, da, beim Freibad werden Flaschen verteilt –
Ich hatte recht.
e (KAMERA) Die Vögel sind weiter nach oben gezogen
Höher auf den Berg
Je wärmer, desto
VERWALTUNG Lassen Sie das Fenster zu.
e (KAMERA) Wenn eine Art oben ankommt, ganz oben beim Gipfel
e Und nicht mehr höher wandern kann
MIKROFON Komm da runter.
VERWALTUNG Er hat ja recht.
e (KAMERA) Dann können Sie nur noch fliegen
Und hoffen, dass sie vielleicht weiter oben noch
Einen Lebensraum finden
e (MIKROFON) –
e (FREIBAD) Das Freibad wird nie wieder gefüllt werden
e (GOLDREGENPFEIFER) Wer weiss
e (FREIBAD) Es fehlt mir
e (GOLDREGENPFEIFER) –
e (FREIBAD) Ich konnte an der Farbe des Wassers
Sehen, wie es ihm geht
Wie schmutzig es ist, wie chlorig
Ich sah dem Wasser an, was es braucht
e (KIEBITZ) Wasser hat keine Farbe
e (FREIBAD) Kein Wasser hat keine Farbe
e Drei Tage haben sie nichts getrunken
e Sind aufgebrochen zur Grenze, Berit sagt, es gibt einen Ort
e Sagt, dass es nach der Grenze, hinter dem nächsten Grat in einer kleinen Stadt, Wasser geben sollte, ein höllisch großes Reservoir
e (VERWALTUNG) Ist das Schnee?
e (KIEBITZ) Es schneit
e Tatsächlich rieseln Flocken auf sie hinab
e Das ist der Beweis, die Welt ist komplett aus den Fugen geraten
e (FREIBAD) Fang sie nicht mit der Zunge auf'
e (KIEBITZ) Es ist kein Schnee
e Es ist Asche
e (KIEBITZ) Ich habe Kopfschmerzen
e (FREIBAD) Wie ist dein Herzschlag
e (GOLDREGENPFEIFER) Wir müssen weiter, das Feuer kommt näher'
e Kopfschmerzen, beschleunigter Herzschlag
e Erschöpfung, brennende Augen, Schwindel
e (GOLDREGENPFEIFER) Wir müssen weiter
e (FREIBAD) Komm, Ines, komm weiter
e Sie kann nicht mehr
e (GOLDREGENPFEIFER) Du musst
e (FREIBAD) Ich erkenne die Symptome akuter Dehydrierung
Wir schaffen es vielleicht noch
Zwei Stunden ohne Wasser
Danach fallen wir ins

Ines?
e (KIEBITZ) Meinst du, er kommt mit
e (GOLDREGENPFEIFER) Wer
e (KIEBITZ) Ich möchte hierbleiben
Ich möchte meine Augen ausruhen, nur kurz
Der Boden ist weich
Es ist doch wunderbar hier
Die Sonne scheint
Das hast du immer zu mir gesagt:
Die Sonne scheint, mein kleiner Kiebitz, alles wird gut
e (GOLDREGENPFEIFER) Hab ich nie gesagt
e (KIEBITZ) Was
e (GOLDREGENPFEIFER) Würde ich nie sagen
Mama vielleicht, oder dein Vater
Vielleicht hab ich’s vergessen
e (KIEBITZ) Ich kann mich hier etwas ausruhen
Aber sobald ich mich hinsetze
Nicht mehr weitergehe, merke ich
Wie durstig ich bin
Wie meine Zunge klebt wie
Alles rau ist und
Dass mein Mund nicht mehr nach Mund schmeckt
Und dann denke ich, dass es vielleicht jetzt vorbei ist und
Dass das gar nicht schlimm wäre
Aber was, wenn der Durst mitkommt?
e (GOLDREGENPFEIFER) Steh auf
e Aber sie steht nicht auf
e (KIEBITZ) Nur kurz ausruhen
e Und Era kann auch nicht mehr
e (GOLDREGENPFEIFER) Bitte
e (KIEBITZ) –
e (GOLDREGENPFEIFER) Berit, hilf mir
Berit?
e (FREIBAD) Der Schuhkarton
e (GOLDREGENPFEIFER) Nein, du brauchst ihn jetzt nicht
e (FREIBAD) Schlimmer
Ich hatte nie einen
e Weiter unten am Hang fällt ein brennender Baum
Eine Glutexplosion treibt in die Höhe
e Funken, die das Feuer weiter ausbreiten
e Sie sehen schön aus, drehen sich im Wind
Und Era sieht den Funken lange nach
e Ein Funke kreist
Weit oben, direkt über ihr, erlischt er
Segelt nach unten, landet weich auf Ines’ Schulter und
Zerfällt dort fast unsichtbar zu Staub
e Era zielt mit der Pistole auf Ines’ Kopf
Ohne sie zu berühren
Weil sie nicht will, dass Ines es mitkriegt
e So hört es nicht auf
e Sie sagt etwas
e Vielleicht etwas wie, hab dich lieb, oder noch mehr
Es sind Worte, die sich die Schwestern so nie sagen und die
Im Lärm des nahenden Feuers kaum hörbar sind
e Und Ines erwidert es wie ein Echo, zu mehr fehlt ihr die Kraft
e Sie legt den Finger an den Abzug und spürt das Gewicht der Waffe
e Aber sie zögert
e (KIEBITZ) Tu es
e Sie will stark sein
Sie will ihre Schwester vor den Flammen retten
Und dann Berit
Und dann sich selbst
e Sie lässt die Waffe sinken
e Sie lässt die Waffe sinken
e Sie lässt die Waffe sinken, weil
Weil sie begreift, dass
e (GOLDREGENPFEIFER) Was? Was begreift sie denn?
e Dass sie nicht aufgeben will
e Dass sie, auch wenn sie sich selbst nicht mehr retten will
Die Kraft noch finden muss – für die andern
e So hört es nicht auf

DIE NICHT GEREGNET WERDEN

e Die Trockenheit war bisher nicht zu uns gekommen
e Wir lebten im Schatten, versuchten, keinen Tropfen zu verschütten und die Sonne von unseren Köpfen fernzuhalten, während sie auf die Dächer unserer kleinen Stadt brannte, die vor Jahren, ja Jahrzehnten, ein höllisch großes Wasserreservoir gebaut hatte, auf das schon unsere Vorfahren stolz gewesen sind
e An Grundwasser war schon lang nicht mehr zu denken
e Wir füllten es wenn möglich auf, versuchten viel, schickten Hubschrauber los, dressierten Adler und Hornissen, schossen Drohnen in den Himmel auf der Suche nach den Wolken. Und wenn sie fündig wurden, trieben sie die Wassergiganten in unsere Richtung und wir impften die Wolken mit einer Mixtur aus Stickstoff und Zement, um sie endlich bei uns abregnen zu lassen
e Niemand kam mehr in unsere Stadt
e Dabei hätten wir gerne gezeigt, dass wir noch da sind
e Hätten stolz einen Stuhl angeboten, feierlich ein feines Glas gereicht. Wir waren offen für die Fremden, für Durstige, sogar für die Drängler, die stets zu wenig bekommen
e Wären sie bloß gekommen, sie hätten eine Ration erhalten, da waren wir uns einig.
e Aber niemand brachte uns etwas aus der Welt da draussen und niemand wollte etwas von uns abhaben, bis an dem Samstag, es war im Frühling, und die wirre Era sprach abwesend und leise
e Früher, schwoll der Bach vom Schmelzwasser an, an Tagen wie diesen
e Sagte sie, wir ließen sie reden, sie war schon sehr alt
e Ein Fahrrad rollte an diesem Samstag gemächlich durch die Hauptstraße einwärts in die Stadt, es war rostig und platt, aber es war eines, das wir nicht kannten und wir sahen es, wir wollten es sehen
e Auf dem Fahrrad saß niemand
e Aber neben dem Fahrrad, da ging eine Frau, von der alle dachten, sie müssten sie kennen, und sich fragten, ob sie schon mal hier gewesen sei, aber niemand konnte ihren Namen aussprechen, allen lag er auf der Zunge, ganz vorne auf der Spitze drauf, es schien, als müsste man ihr nur einmal in die Augen blicken und dann die Zunge in Bewegung setzen, als springe ihr Name dann frei heraus, aber niemandem sprang der Name raus, alle zogen bloß gedanklich fest an ihren Zungen, um sie zum Reden zu bewegen
e Wir konnten ihren Namen nicht sagen, aber wir sahen ihre zerbeulte Hose, den Mantel, den leichten, und das fliegende Haar, die grauen Augen, die weichen Wangen und den Mund, der sich scheinbar bewegte, auch wenn sie nicht sprach
e Sie schaute sich um, nickte langsam und grüßte
e Und wir nickten und grüßten und schauten nur stumm, bis endlich ein Mädchen es wagte zu fragen
e Wer bist du
e Sie schwieg
e Denn sie war dabei nach der Stimme zu suchen, die die Frage gestellt hatte
e Da schubste schnell jemand, es war wohl die Schwester, das Mädchen nach vorne, so dass es fast fiel
e Das Mädchen fing sich und schaute die Frau an, die freundlich nickte
e Und das Mädchen, das kleine, bereute die Frage, war umgeben von allen und doch ganz allein
e Es schaute sich um und weil alle nickten, berappelte es sich und fragte erneut
e Wer bist du
WOLKE Wer bin ich
e Die Frau musste lachen, es war viel zu plötzlich und auch viel zu laut
e Wer ich bin, kann ich dir, vielleicht, sagen, aber nur wenn ich auch weiß, wer mich das fragt
e Und alle blickten streng auf das Mädchen und raunten etwas, was es nicht verstand, und das Mädchen schwieg, einfach weil es das konnte. Also schwieg auch die Frau. Sie schwieg freundlich, das spürte das Mädchen und es trat langsam zurück zu der Schwester und die Schwester, die schon dastand, seit die Frau mit dem Fahrrad die Stadt betreten hatte, sagte sodann
e Sie heißt Valentina und sie ist erst zehn
e Und Valentina, von der Schwester verraten, räusperte sich, aber wohl nur aus Trotz und weil sie nicht wusste, was sie sonst sollte, wenn alle sie anschauten in diesem Moment
e Und Valentina schaute die Frau an, mit sicherem Abstand, und sie hatte in ihren zehn Jahren noch keine gesehen wie sie
e Und die Frau hatte Valentina bereits schon vergessen, fing an zu reden, erzählte ganz frei
e Aus ihrem Mund sprudelte es, es war frisch und klar und es zog alle an
e Valentina wusste nicht, dass so etwas aus dem Mund eines Menschen kommen konnte und sie spürte, dass die Frau, die da sprach, schon überall gewesen war und alles gesehen hatte, dass sie, wie der Schatten, zu allem gehörte, und, wie die Luft, alles umgab. Dass schon ihre Vorfahren sie gekannt hatten und die Krebse und Algen genauso wie die
e Valentina wusste, dass diese Person, die da vor ihr stand, etwas war, was neu war – was neu war und alt
e Was niemand hier benennen konnte und alle doch zu kennen wussten, seit langem, schon immer. Sie sah diesen Mund, der sich bewegte, und sie hörte und fühlte die Worte daraus:
WOLKE Mit einem Tropfen fängt es an
Nicht erst beim Fluss
Nicht erst beim Duschstrahl, der läuft
Über den Kopf, die Nase, Schulter, Hüfte, Knie, Ferse
Nein
Es fängt an mit dem Tropfen, spürt ihr ihn?
Stellt ihn euch vor
Wie er fällt und fließt und sich sammelt
e Und wir spürten den Tropfen, wie sie das sagte
e Und wir sammelten uns, kamen aus unseren Häusern, wie ein Volk aus Ameisen, das über die Erde wimmelt und miteinander gemeinsam hat, dass niemand ausspricht, was alle wissen
e Alle kamen und hörten ihr zu
WOLKE Ich bringe euch die Geschichte, wie die ersten Menschen
Bevor sie Menschen waren
Anfingen zu gehen
Sie gingen, weil sie im Auftrieb des seichten Wassers
Stehend besser nach Nahrung suchen konnten
Und ähnlich fängt auch die Geschichte
Vom Flusswasser an, das in den Talsperren gestaut ist
Auf der nördlichen Erdhalbkugel
Hinter Dämmen eingesperrt von Menschen
So dass in dieser Geschichte
Das Gewicht des gestauten Wassers
Ein Kippen der Erdachse bewirkt
Die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten verändert
Spürt ihr das Stocken in der Geschichte?
e Und während sie so eifrig erzählte, regten sich unsere Zungen mit ihr, es war, als wären es unsere Sätze, die sie da sagte, als würden unsere Zungen schon wissen, was sie erzählen will
e Nur die irre Era, die alte, wurde unruhig, hing gar nicht an ihren Lippen, bewegte ihre Zunge nicht mit den Worten, keifte und klatschte, störte alle mit lautem Gemaule und als wir sie fragten
e Era, was ist es
e Sammelte Era ihre Gedanken
GOLDREGENPFEIFER Merkt ihr denn nicht, was sie mit uns macht?
Sie bringt es zu uns.
Es wird uns ereilen.
e Geh weg, Era, du mit deinem Charakter
e Und Era, die krude, suchte Valentina und gab ihr ein Zeichen, das niemand verstand, doch das Valentina sichtlich bewegte
e Geh
e Sagten wir
e Und Era, die gute, ging sodann weg ohne Murren, war schnell aus unseren Augen verschwunden
WOLKE Aber die beste Geschichte von allen Geschichten
Ist die Geschichte vom letzten Tropfen
Und vom Glas, das ihn enthält
Es ist eine Geschichte von einem Ort so wie hier
Und niemand wusste, dass dieses Glas, dieses eine
Den letzten Tropfen enthielt, den letzten überhaupt
Und dann stieß jemand
In der Geschichte
Ganz aus Versehen
An das volle Glas
Nur an den Rand
Doch das reichte aus
Und das Glas begann zu tanzen
Drehte sich
Wie etwas, das sich auf der Stelle dreht, aber
Die Kreise, die vom Glas gezogen wurden, wurden
Nicht kleiner
Immer größere Kreise zog das Glas
Und drehte sich weiter
e Und während sie sprach, merkten wir nicht, wie die Sonne lang brannte auf unsere Köpfe
e Und während sie sprach, merkten wir kaum, wie sie, die Wolke, immer dicker wurde und grösser
e Nur Valentina, das Mädchen, konnte es merken, weil sie spürte, wie der Schatten ein anderer wurde, wie ein dunstiger Schatten sie kühlte auf ihrer Kinderhaut
e Hört auf
e Rief da Valentina
e Hört auf ihr bei der Geschichte zu helfen, mit ihr zu erzählen, hört auf, hört doch auf
e Doch wir hörten nicht, mussten unsere Zungen bewegen und unsere Köpfe und Augen der Sonne ergeben. Und während wir sprachen, wurde sie düster und dunkel, wurde groß und gefährlich und wunderschön
e Sie stiehlt unser Wasser, stiehlt alles Lebendige, seht ihr das nicht
e Rief Valentina
e Sie stiehlt es und nimmt es und gibt nichts zurück
e Und Valentina sprang und winkte, rüttelte und tanzte einen Tanz der Ohnmacht, des Schreckens, der wachen Verzweiflung. Doch wir konnten nicht hören. Wir wollten nicht hören, nicht sehen, nicht wissen
e Hört auf
e Wir waren in der Sprache der Wolke gefangen und merkten nicht, wie alles sich auflöste, anfing zu schmelzen
e Hört auf
e Die Häuser und Dächer, die Mauern um uns, die Straßen und Gassen, die Tore und Türen und Fenster und Fässer und alles, was stand. Ja, auch die Bäume, die letzten, die dürren Gräser, das leidliche Unkraut und was sonst schon seit langem nur vorgab zu wachsen
e Und unsere Kleider schmolzen, das Leder, die Wolle, die Seide, das Gold, alles schmolz leise
e Und dann unsere Knochen und
e Hört auf
e Bald die Gedanken
e Und während wir schmolzen, sprach sie weiter, die Wolke, flog und erzählte von sich, von dem, was wir werden, von uns, uns als Ganzes, von uns, wie wir eins werden, endlich wieder eins
e Hört auf
e Und unter unseren Stimmen, die uns wegtrugen, lag eine Stille, die alt war und dunkel, wie das Meer, wie das All, und wir stiegen und stiegen, und das Steigen hörte nicht auf, ein Fallen aus allem, wie losgelassen stiegen wir auf
e Hört auf
e Hört auf
e Nur Valentina zerging nicht, blieb standhaft, blieb mehr als nur Stimme, blieb auf ihren Füssen und wusste auf einmal, dass, wenn niemand zuhörte, alles Rufen nichts half
e Sie verstummte
e Sie schaute uns nach
e Und die Wolke, die große, die wir schon waren, sah sie
e Sah: Valentina klein und alleine, wie ein Fleck, wie ein Körnchen, ein trockenes Saatkorn in der staubigen Welt
e Wir starrten zurück auf den Punkt, diesem einen, und begannen uns auszumalen, was wohl werden würde, aus dem entfernten, winzigen Fleck
e Was wird aus dem Fleckchen bloß werden?
e Wird es wieder wachsen?
e He! Was wird denn jetzt werden? Was fängst du nun an?
e Wir sind die Tropfen, eine Wolke, uns hört man dort, wo wir uns sammeln, oben das All, unten die Erde, die weiter schmilzt. Wir erinnern uns, auch wenn sich niemand an uns erinnert: wir haben uns damit abgefunden, zu sein, was wir sind.
Wir hätten hören können, hinsehen, handeln – die Zeichen waren da.
Jetzt aber sind wir ein Ganzes, sind groß und weit und warten darauf, dass wir, vielleicht, eines Tages den Kreislauf durchlaufen, vielleicht irgendwann
geregnet werden
Denn so fängt es an

Der Text entstand 2020/21 im Auftrag des Theater St. Gallen im Rahmen von Stück Labor.
© Felix Bloch Erben GmbH & co. KG. Berlin.

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