Theater der Zeit

Ukraine

„Der Krieg hat nicht erst mit dem Angriff begonnen“

Wie Theaterschaffende aus der Ukraine in Heidelberg und in München arbeiten

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Baden-Württemberg Bayern Europa Theater und Orchester Heidelberg Residenztheater

Foto: Alexander Chekmenev

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Menschen, die auf dem Bahnhof stehen und vor den russischen Bomben fliehen. Längst ist das Leben in Luftschutzkellern Alltag für die Männer und Frauen in der Ukraine. In drastischen Bildern zeichnet die Dramatikerin Oksana Savchenko aus Kiew Bilder vom Krieg. In ihrem Audiowalk „Die Nacht verdeckt den Morgen“ schreibt sie über ihre eigenen Kriegserlebnisse. Trauer, Wut und Schmerz sprechen aus den Zeilen. Immer wieder verlässt die Autorin da die professionelle Distanz, die ihr bisher im Schreiben so wichtig war. „Ich möchte Zeitzeugin sein. Meine ­Erlebnisse für spätere Generationen festhalten.“

Nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar 2022 flohen unzählige Menschen vor Tod und Bomben in europäische Nachbarländer. Auch Oksana Savchenko verließ das Land mit ihrem Mann und der 13-jährigen Tochter. Das war alles andere als freiwillig. Mit leiser Stimme spricht sie von Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt worden sind. Und sie erinnert an die Toten, die der Krieg täglich fordert. In ihrem Audiowalk, der Anfang Oktober im Rahmen des Widerstandsfestivals Remmi­demmi am Theater Heidelberg zu sehen war, ist die Angst der Menschen in jeder Zeile zu spüren. Im Bunker kauern Frauen und verzweifeln vor Sorge um ihre Familien, die es nicht mehr rechtzeitig geschafft haben. Warnungen vor den russischen Angriffen gibt es über das Mobiltelefon. Der Kampf um eine Steckdose zum Auf­laden des Akkus entscheidet da über Leben und Tod. Vor dem ehemaligen Heidelberger Gefängnis ­sitzen die Zuhörer:innen auf ­kalten Treppen. In der historischen Altstadt wird es dunkel. Mit Kopf­hörern hören sie die sehr persönlichen Kriegsgeschichten. Die ­dokumentarisch klaren Texte berühren. Immer wieder sprengen Savchenkos klug gewählte Worte die Vorstellungskraft.

Mit sieben anderen Theaterkolleginnen aus der Ukraine ist die Autorin aus der Hauptstadt Kiew nun am Theater Heidelberg engagiert. Arbeitsmöglichkeiten für Künstler:innen aus dem vom Krieg gebeutelten Land zu schaffen, das machen einige Bühnen in Deutschland möglich. Holger Schultze, der Intendant des Stadttheaters, hat in unterschiedlichen Bereichen Stellen geschaffen. Da habe er tüfteln müssen. Und auch im Theateralltag ist das nicht leicht zu stemmen. „Im Augenblick kümmere ich mich oft darum, Fahrräder zu besorgen oder bürokratische Hürden zu überwinden.“ Glücklich ist der Theaterchef, dass auch sein Ensemble da beherzt mitzieht – zum Beispiel, wenn es um Behördengänge oder um die Betreuung der Kinder geht. Russische oder ukrainische Mitglieder des Orchesters, die schon länger in Deutschland leben, übersetzen. „Der Wunsch zu helfen baut ­Barrieren ab“, findet Schultze. Denn die Zusammenarbeit der im Krieg verfeindeten Nationen sei manchmal ein Balanceakt. Dennoch klappe die Integration gut: „Wir haben als internationales Haus die Chance, die Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen.“ Schultze findet es wichtig, auch hier in Deutschland mehr über den Krieg und seine Hintergründe zu erfahren – und das aus erster Hand. Da bietet das Theater aus seiner Sicht das perfekte Forum.

Kontakte in die Ukraine, die 1991 mit dem Zerfall der ­Sowjetunion ein unabhängiges Land wurde, pflegt das Heidelberger Theater schon lange – 2017 war die Ukraine zudem Gastland beim eigenen Stückemarkt. Damals stellte Oksana Savchenko beim internationalen Autor:innenwettbewerb ihr Stück „Lora“ vor. Bevor die Dramatikerin und Journalistin ihr Land verlassen musste, hat sie mit Kolleg:innen in Kiew das Theatre of Playwrights aufgebaut, das im März 2022 eröffnet werden sollte. Diese Pläne hat der russische Angriff vorerst zunichte gemacht. Ans Aufgeben denken Oksana Savchenko und ihre Kolleg:innen aber nicht: „Wir möchten alle wieder in unserem Land arbeiten.“ Diese Sehnsucht spricht aus den aktuellen Texten der Autorin. Doch der Krieg macht ihre künstlerische Arbeit zurzeit unmöglich.

Freiräume für Autor:innen schafft auch das Residenztheater in München. Dort arbeitet Oleksandr Seredin nun als Hausautor. „Es ist ein großes Privileg für mich, dass ich hier schreiben und über den Krieg sprechen darf.“ Für drei Monate hat der Künstler ein Visum bekommen. In den vergangenen Jahren war er Hausregisseur am Alexander-Puschkin-Theater in Charkiw. Diese Bühne beschäftigte sich traditionell im Sinne des Namensgebers mit russischen Stücken. Der Krieg zeigt Seredin nun jedoch, „dass wir um unsere ukrainische Identität kämpfen müssen“. Das ist und bleibt sein Ziel, „auch wenn der Krieg unsere künstlerische Arbeit im Land unmöglich macht“.

2016 und 2017 gewann er den jährlichen Dramatiker:innen­wettbewerb Tizhden Actual Play. Digitale Projekte zu entwickeln, das reizte den jungen Künstler schon immer. 2020 gründete er das Theaterlabor Trajectory. Doch im Augenblick steht für ihn die politische Wirklichkeit im Vordergrund: „Ich versuche, die Kriegsereignisse in der Ukraine schreibend festzuhalten.“ Wenn Seredin über den Krieg spricht, klingt seine Stimme leiser. Am Morgen habe er mit seiner Mutter in Charkiw telefoniert, „heute wurde die Stadt bombardiert und sie haben keine Elektrizität mehr“. Über das Mobiltelefon war dieser letzte Rest der Kommunikation aber noch möglich. Wann er wieder mit ihr Kontakt aufnehmen kann, das weiß er nicht.

Dass er für seine künstlerische Arbeit ein Visum bekommen hat, ist für Seredin wichtig. „Wir müssen über den Angriff auf unser Land sprechen, denn dann hat die russische Kriegs­propaganda keine Chance.“ Das will er mit dem Theaterstück tun, das er für das Festival Welt/Bühne schreibt. „Meine Worte sind meine Waffe.“ Als Künstler sei sein Platz nicht an der Front. „Aber wir alle verteidigen unser Land, jede und jeder mit den jeweiligen Mitteln.“ Dass er am Residenztheater über die Kämpfe sprechen darf, das bedeutet ihm viel. „Im Augenblick geht es weniger um die Kunst als darum, die Wahrheit auszusprechen.“ Das tut er täglich, wenn er sich mit seinen Kolleg:innen am Theater trifft oder wenn Menschen in München den Kontakt mit ihm suchen.

Erste Einblicke in das Werk, das Kriegserlebnisse spiegelt, hat er bei einem internationalen Autor:innenforum im Residenztheater gegeben. Da las er gemeinsam mit Odile Gavrile Katese aus Ruanda und der indischen Autorin Deepika Awind. „Der Krieg bei uns in der Ukraine betrifft ganz Europa und die Welt“, ist der ukrainische Dramatiker überzeugt. Darüber mit anderen Künstler:innen ins Gespräch zu kommen, ist ihm ein Anliegen. „Kriege gibt es ja nicht nur in der Ukraine, sondern an vielen ­anderen Orten auf der Welt.“ Es gehe alle an, wenn durch einen Angriffskrieg gegen die Menschlichkeit verstoßen werde.

Das Bewusstsein des Publikums für die Situation internatio­naler Künstler:innen zu schärfen, ist Almut Wagner ein Anliegen. Die Chefdramaturgin des Residenztheaters hat Oleksandr Seredin nicht nur nach München geholt, um ihm eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten. „Es geht uns um den internationalen künstlerischen Austausch.“ Dennoch gibt Wagner zu bedenken, dass es beim Krieg gegen die Ukraine „zunächst einmal wichtig ist, schwer traumatisierten Menschen zu helfen und ihnen ein Leben in ­Sicherheit zu ermöglichen“. Unabhängig von Stückaufträgen sieht sie darin eine wichtige Aufgabe der Bühnen. Dass das Schauspielensemble des „Resi“ nach den Vorstellungen Geld für die ­Ukraine sammelt, gehört für sie ebenso zur selbstverständlichen Hilfe wie die Hilfstransporte mit Theaterfahrzeugen in das vom Krieg zerstörte Land.

Den Alltag in Deutschland zu meistern, ist auch für die ­ukrainischen Mitglieder des Theaters und Orchesters in Heidelberg herausfordernd. Olga Pavichenko hat als Maskenbildnerin an großen Häusern in der Ukraine und in Europa gearbeitet. Jetzt steht die Mutter einer elfjährigen Tochter vor der Herausforderung, die deutsche Sprache zu lernen. „Da bieten uns die Stadt und das ­Theater gute Möglichkeiten.“ Ihre elfjährige Tochter habe die Sprache schnell gelernt und besucht jetzt die fünfte Klasse des Gym­nasiums. Darauf ist die Mutter stolz. Beruflich musste sich Olga Pavichenko umstellen: „An ukrainischen Bühnen sind die Maske und Frisuren getrennt.“ Die deutschen Kolleginnen brächten ihr nun bei, wie man Perücken knüpft. „Das zu lernen, fordert mich heraus.“ Im Gegenzug verblüfft sie das Team der Heidelberger Maske mit ihren Detailkenntnissen als Visagistin. Wie verständigt sich Olga Pavichenko denn mit den Ensemblemitgliedern, wenn sie diese schminkt? „Wir haben da unseren genauen Plan.“ Und die Kommunikation klappe, „manchmal auch ohne Worte“.

Das bestätigt auch die Orchestermusikerin Valentyna ­Dolinska. „Wir sind hier sehr gut aufgenommen worden“, spricht sie für sich und ihre Kolleg:innen. Die Musikerin, die mit ihrem Orchester in Kiew gearbeitet hat, ist glücklich, dass sie nun in ­Heidelberg die Viola spielen darf. „Wir Musiker:innen sind international bestens vernetzt“, sagt die Künstlerin. In der malerischen Stadt Heidelberg falle es ihr und ihrer Tochter etwas leichter, „die traumatischen Ereignisse des Krieges zu verarbeiten“. Doch das sei nicht leicht. Sprachprobleme hat Dolinska nicht, „denn das Heidelberger Orchester ist international besetzt“. Dass sie so gut aufgenommen worden sei, macht die Musikerin glücklich. Dennoch war sie froh, dass sie beim Gastspiel ihres Orchesters aus Kiew in Berlin dabei sein durfte.

„In unserer jungen Theatergeneration ist es ganz selbstverständlich, sich international zu vernetzen“, sagt Mykola Diachenko. Der 17-Jährige kommt aus Mariupol und hat bis 2022 an der dortigen Hochschule für Musik und Kunst studiert. In Heidelberg ist der Saxofonist nun als Theatermusiker engagiert. Das Leben in der Region Rhein-Neckar gefällt dem jungen Künstler ebenso gut wie die Kontakte zu den Künstler:innen in Heidelberg. Diachenko kommt aus einer Musikerfamilie, die mit ihm nach Deutschland gekommen ist. Obwohl ihn die Bilder vom Krieg in seiner Heimat belasten, denkt der junge Mann an seine Ausbildung. Deshalb ­bewirbt er sich an deutschen Musikhochschulen. „Und ich möchte die Sprache lernen.“

Klappt die Verständigung im Orchester in englischer Sprache und über die Musik ganz selbstverständlich, fällt die Integra­tion im Schauspiel deutlich schwerer. Das spürt die Schauspielerin Vladlena Sviatash jeden Tag im Probenalltag. Die junge Künstlerin stellt klar, dass das Leben als Künstler:in in der Ukraine bereits in den vergangenen Jahren sehr schwer war. „Der Krieg hat nicht erst mit dem Angriff begonnen.“ Da erinnert sie sich an eine Produktion im Kindertheater am 18. Dezember 2017 in Novolugansk. „Wir haben vor den Jungs und Mädchen und vor ihren Eltern gespielt.“ Das habe die russische Armee mitbekommen und das Gebäude beschossen. „Während der Vorstellung haben sie geschossen.“ Für die Kinder, die das miterleben mussten, sei das „ein traumatisches Erlebnis“ gewesen.

Wie schafft es Vladlena Sviatash nun, mit ihren deutschen Kolleg:innen auf der Bühne zu stehen? In der Produktion „Das Licht der Welt“ von Raphaela Bardutzky hat sie beim Festival für neue Dramatik eine Aktivistin gespielt, die sich für den Klimaschutz stark macht. Regisseurin Daniela Löffner hat den Text in deutscher und in englischer Sprache umgesetzt. Ganz selbstverständlich wechseln die Spieler:innen da zwischen den Sprachen. Das Publikum wird über Untertitel abgeholt. Hart geht dieses Drama mit den hohen Ansprüchen der Generation Klimastreik ins Gericht. Die jungen Aktivist:innen, die eine bessere Welt erschaffen wollen, zerstören sich selbst. Schön zeigt diese Produk­tion, dass es zwischen den jungen Menschen in Europa keine Schranken gibt. „Die Klimakatastrophe geht uns alle an“, ist ­Vladlena Sviatash überzeugt. Die Künstlerin ist glücklich, dass sie ihren Beruf auch in Zeiten ausüben darf, da viele Theater in der Ukraine zerbombt werden. Viele ihrer Kolleg:innen hätten dieses Privileg nicht. „Umso mehr sehe ich für mich die Pflicht, auch hier über den Krieg und über diese brutale Zerstörung zu sprechen.“ Diese Erfahrung möchte sie auch in ihre weiteren Rollen in Heidelberg einbringen. //

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