Auftritt
Oper Frankfurt: Eine Frau mit Schatten
„Hercules“ von Georg Friedrich Händel, Musikdrama in drei Akten, Text von Thomas Broughton – Musikalische Leitung, Inszenierung Barrie Kosky, Bühnenbild & Kostüme Katrin Lea Tag, Licht Joachim Klein
Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Musiktheater Georg Friedrich Händel Barrie Kosky

Ein mythologischer Stoff ohne Mythos. Eine opernhafte Heldengeschichte ohne Helden. Ein Oratorium ohne biblisches Sujet oder Moral. Georg Friedrich Händels zwitterhaftes „musical drama“ Hercules stand bereits bei seiner Uraufführung am 5. Januar 1745 im King’s Theatre am Londoner Haymarket unter keinem guten Stern. Als Impresario1 hatte er sich verkalkuliert, sein Sängerensemble war erkrankt und die einflussreichen Damen der Gesellschaft waren empört, dass er auch über die „stille“ Fastenzeit hinaus ein Oratorium auf die Bühne bringen wollte. Händel brach die Spielsaison ab und bot im Daily Advertiser den Abonennt:innen die Rückerstattung aller restlichen Konzertkarten an. Begeistert wurde das Werk jetzt bei seiner Erstaufführung in Frankfurt aufgenommen.
Eigentlich gehört Hercules, HWV 60 (Händel-Werke-Verzeichnis), nach einhelligem musikwissenschaftlichem Urteil zu den Wunderwerken der Musikgeschichte, zum „Gipfel des Händelschen und… des Musikdramas der Zeit vor Gluck“ (Romain Rolland). Doch auf den Opern-Spielplänen konnte es sich bisher nicht etablieren. Keinen Gefallen tat der Musik wohl auch die im Geist des Nationalsozialismus inszenierte Aufführung anlässlich der XI. Olympischen Spiele 1936 in Berlin, auf der „nicht weniger als elf Chöre und zwei Sinfonie-Orchester“ agierten und „zur Bassverstärkung“ neben einem Cembalo ein Trautonium eingesetzt wurde.
Kammermusikalisch ging es hingegen jetzt im Orchestergraben der Frankfurter Oper zu. Am Pult der Barockexperte und Cembalist Laurence Cummings. Er führte das Frankfurter Opern- und Museumsorchester auf historischen Instrumenten und in historischer Stimmung; leichtfüßig, durchsichtig, mit atmender Phrasierung und sprechender Artikulation. Gleiches historisches Stilgefühl ließen Cummings und sein Regisseur Barrie Kosky allerdings auf der Bühne bei den Sänger:innen vermissen. Unabhängig davon, ob Oratorium oder Oper: Händels Hercules bleibt mit seinen klangsatten Arien und Chören sowie ausdrucksstarken Rezitativen ein barockes Werk, Musik, die zwischen repräsentativen Außen- und intimen Innenwelten vagiert. Sämtliche Affekte werden objektiv vermittelt mithilfe rhetorisch kunstvoll geführter Melodien, deren Motive und Figuren für die unterschiedlichen Gemütsbewegungen und Seelenzustände der Protagonist:innen stehen. Auf der Frankfurter Bühne hingegen herrschte fast schon (vulgärer) Verismo2 inklusive hysterischem Geschluchze, albern exaltiertem Gekichere, Flamenco-Geklatsche, Geschrei und Getrampel und je nach Stimmung viel Bussi Bussi und Umarmungen, besonders unter den Frauenfiguren, die sich wie Teenies benahmen, mal Freundinnen, dann wieder Zicken. Er „habe von den Muppets alles über Theater gelernt, bevor ich am Theater war“, schreibt der australische Regisseur in seiner unlängst erschienenen Autobiografie.
„Großes Kopfkino“ hatte Dramaturg Zsolt Horpácsy an der Frankfurter Oper in seiner Werk-Einführung vor der Premiere versprochen. Händels Textdichter, Thomas Broughton, ein gelehrter Geistlicher aus Salisbury, hatte in seinem Libretto Motive aus mehreren antiken Dichtungen über den Tod des Herakles zu einer eigenen Version zusammengefügt. Regisseur Kosky hingegen setzt den Schwerpunkt auf die „gruselige Familiengeschichte“ (Horpácsy), auf das Seelendrama um Hercules Ehefrau Dejanira, die einst knapp einer Vergewaltigung entging und nun ihrem aus dem Krieg heimkehrenden Ehemann, der Untreue mit Prinzessin Iole, der Tochter des unterworfenen und getöteten Gegners, bezichtigt. Der „mythologische Rest“, wie Herkules‘ gewaltsamer Flammen-Tod und seine Apotheose, interessiert Kosky nicht und sei für das Verständnis der Oper ohnehin „nicht wichtig“, wie Horpácsy versicherte. Tatsächlich hat die Figur des Hercules in Händels Oratorium nicht viel zu sagen bzw. zu singen, drei Arien nur, im Gegensatz zu Dejanira, die es auf sechs Arien bringt, dazu ein Duett und eine durchkomponierte Wahnsinns-Szene. Gesanglich überzeugte die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy als Dejanira – mit Abstrichen allerdings. Hochexpressiv, als eine Frau mit Schatten, von blinder Eifersucht zerstört, zwischen Sehnsucht, Verlassenheit, Hoffnung, Angst und schließlich Wahn. Doch ihren Koloraturen hätte man mehr Glanz und Fülle gewünscht. Auch die kubanisch-amerikanische Sopranistin Elena Villalón als zarte, wenn auch nicht harmlose Iole konnte mit leichtem, hellem Sopran in dieser komplizierten Familienkiste einnehmen, wenngleich ihr Temperament oft mit ihr durchging und ihr wildes Gestikulieren nicht zu Händels barocker Musik passen wollte. Allerdings machte Katrin Lea Tag (Bühnenbild, Kostüme) es den Protagonisten auf ihrer überbeleuchteten und wie leergefegten Bühne nicht leicht. Im ersten Teil stand lediglich ein fliederfarbenes Sofa da mit einer melancholischen Herkules-Statue in Denkerpose; im zweiten Teil eine als Standfigur vor einem Wolkenhintergrund wie auf einem Lufthansa Plakat. Die gut eingespielten Sänger (sie alle sind oder waren im Ensemble der Frankfurter Oper) konnten sich buchstäblich nur am Rahmen der Bühne abreagieren. Auch Kleider (könnten) Leute machen, doch Katrin Lea Tag ließ die von Stimmungsschwankungen getriebene Dejanira im Outfit einer biederen Oberstudienrätin oder Chefsekretärin auftreten, später im blumigen Sommerkleid und last but not least im unvermeidlichen schwarzen Unterrock in ihrer Wahnsinns-Szene nach Herkules‘ Tod. Herkules sensibler Sohn Hyllus (Tenor Michael Porter) in Birkenstocksandalen blieb nicht nur im Auftritt, sondern auch in Stimmgebung und differenziertem Ausdruck blass. Feinfühlig und lyrisch delikat hingegen gestaltete die japanisch-amerikanische Mezzosopranistin Kelsey Lauritano ihre Rolle als Lichas. Von Händel eigentlich als Bote und Hosenrolle gedacht, mutiert er in Koskys Inszenierung zur jüngeren Schwester des Hercules. Der österreichische Bass Anthony Robin Schneider, stimmlich ein Mann wie ein Baum, und ironischerweise mit stattlichem Feldherrenmantel ausgestattet, hatte allerdings wenig zu sagen. In einer kleinen Rolle als Priester des Jupiters: Erik van Heyningen mit freundlich sonorem Bassbariton.
Der eigentliche Star des Abends aber war der Chor der Frankfurter Oper, von Kritikern der Opernwelt zum „Opernchor des Jahres“ gewählt. Bei keinem Oratorium Händels darf er fehlen, ganz im Sinne der griechischen Tragödie, als handelndes Kollektiv, als kommentierende Menge oder geheimnisvolle Verkünder von prophetischen Botschaften. Kosky greift auf eine szenische Hercules-Aufführung von 1925 in Münster unter der Regie von Hanns Niedecken-Gebhard zurück und bedient sich des von Kurt Jooss seinerzeit entwickelten Bewegungschors. Dicht zusammengedrückt, geifernd schleichen sich auf der Frankfurter Bühne die Chor-Sänger:innen (Einstudierung Tilman Michel) in gebückter Haltung an Dejaniera heran, bauen sich mit düsteren Gebärden immer mächtiger vor ihr auf, umzingeln, umfassen sie und skandieren: „Jealousy!“ Beeindruckend, fantastisch!
Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Komische Oper Berlin, an der Kosky bis 2022 als Intendant und Chefregisseur wirkte. Dort kommt Hercules im März 2024 auf die Bühne.
1 insbes. im 17., 18. und 19. Jahrhundert Begriff für den Leiter (oder unter Umständen auch Besitzer) eines Opernhauses oder Theaters bzw. eines Opern- oder Theaterunternehmens.
2 Der Verismus (italienisch verismo, von vero ‚wahr') bezeichnete ursprünglich ein Genre der italienischen Literatur im 19. Jahrhundert, die sich einer exakten Beschreibung und mit sozialkritischem Engagement dem Leben von Bauern und Fischern widmet. Innerhalb des Gesangs bezeichnet er darüber hinaus eine sich vom Belcanto unterscheidende Stilrichtung.
Erschienen am 5.5.2023