Magazin
Starke Frauen trotzen dem Rassismus
Eine neue Sicht auf die spanische Theaterszene beim 39. Heidelberger Stückemarkt
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Europa Dramatik Dossier: Spanien

Die Demütigung sitzt tief. Am Rande eines Familienfests sucht eine junge Frau Ruhe im Schatten eines Baums. Da kleben ihre Haare in der harzigen Rinde fest. Mit einer Küchenschere schneidet ihr der Vater die Haare ab. Mit diesem bösartigen Ritus beginnt der Leidensweg der Heldin in María Velascos Stück „Ich will die Menschen ausroden von der Erde“. Mit dem starken, poetischen Text entschied die Dramatikerin und Regisseurin den internationalen Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts für sich. Die Auszeichnung, die das Land Baden-Württemberg gestiftet hat, ist mit 5000 Euro dotiert.
Frauen sind in der spanischen Theaterszene stärker denn je. Da denkt die männlich dominierte Gesellschaft um. Das spiegelte die Auswahl der Kurator:innen José Manuel Mora und Carlota Ferrer. Die Vielfalt der Stimmen und Formen dominierte beim internationalen Wettbewerb wie auch bei den Gastspielen spanischer Bühnen. Drei Autorinnen und einen Autor hat das spanische Kuratoren-Team ausgewählt. Mit María Velasco siegte eine Dramatikerin, die nicht nur radikal einen feministischen Ansatz verfolgt. Formal überzeugte ihr Text in der Vierer-Auswahl durch die Lust am Experiment ebenso wie durch Sprachkraft: „Sie sieht aus wie eine Kahlköpfige, eine dieser Frauen, die geschoren wurden, und gedemütigt, in Francos Spanien, oder im Zweiten Weltkrieg. Und da tröstet sie der Baum.“ Große poetische Bilder verbindet Velasco mit dem kritischen Blick auf die politische Wirklichkeit in dem südeuropäischen Land, das von katholischer Tradition geprägt ist. Franziska Muche hat die großen Sprachbilder kongenial übersetzt.
Neue Dramatik auch jenseits der Metropolen Madrid und Barcelona zu entdecken, war das Ziel von Ferrer und Mora. Inhaltlich überzeugte auch Xavier Uriz’ Text „Thanatologie“. Da geht es um eine Häufung von Suiziden in der Gesellschaft, die schließlich als Pandemie eingestuft werden. Klug, wenngleich formal zu schlicht gebaut, spiegelt der mallorquinische Autor die politische Dimension der Vereinzelung in der Gesellschaft und der Suizide in einem persönlichen Schicksal. Thomas Sauerteig hat den Text aus dem Katalanischen übersetzt. Ein junges Publikum spricht Ruth Rubio mit dem Stück „Die Feuerfesten (Universum 29)“ an. Der spielerisch konzipierte Text bezieht sich auf ein Experiment, das der Verhaltensforscher John B. Calhoun 1972 mit Ratten durchführte.
Auch bei der Auswahl der Produktionen am Spanien-Wochenende setzten die Kuratoren auf ein breites Spektrum. Die Autorin Rocío Bello, deren Familiendrama „Mein Italienfilm“ ebenfalls im Autor:innenwettbewerb vertreten war, gastierte mit ihrem Kollektiv Los Bárbaros. Das Team aus Madrid verbindet Fiktion und Wirklichkeit mit Videokunst. Im Stück „Die Erklärungen“ begeben sich die Theaterschaffenden auf die Suche nach den Wurzeln ihrer eigenen Theaterkunst. Auf der Leinwand wie auf der Bühne fanden die Performerinnen Rocío Bello und Elena H. Villalba schnell einen Draht zum Publikum.
Mit einer Überschreibung von Shakespeares großer Tragödie „Othello“ überzeugte die Regisseurin und Bühnenbildnerin Marta Pazos. Mit dem jungen galizischen Autor Fernando Epelde hat Pazos einen neuen Blick auf die kontroverse Figur des afrikanischen Generals gewagt, der seine europäische Ehefrau tötete. Die Intrige, die rassistische Militärs gesponnen haben, durchschaute Shakespeares Held nicht. Pazos lässt in der schauspielerisch starken Frau Männer und Frauen aus ihren Körpern heraustreten und mit unterschiedlichen Stimmen sprechen. Grandioses Schauspielertheater und die Choreografie von María Cabeza de Vaca zeigen den Schmerz, den diese Risse in der Gesellschaft offenbaren. Die weibliche Sicht auf die gesellschaftlichen Strukturen, die Othello zum Mörder seiner eigenen Ehefrau machen, offenbart einen neuen Blick auf den englischen Klassiker. Pazos steht für eine Generation junger spanischer Regisseurinnen, die den Horizont des spanischen Theaters weiten. //