Akteure
Ein Gesellenstück
Marie Zielcke hielt sich jahrzehntelang von Bühnen fern, auch ihres legendären Vaters wegen – bis der „Jedermann“ kam
von Michael Helbing
Erschienen in: Theater der Zeit: Neues Musiktheater (10/2025)
Assoziationen: Schauspiel Akteur:innen

Es ist ihre Idee gewesen, ihr Wunsch. Und weil sie es so naheliegend findet, wundert sie sich bis heute, dass zuvor noch niemand darauf kam: den Guten Gesellen des Jedermann mit einer Frau zu besetzen. Soweit sich das überblicken lässt, ist Marie Zielcke die erste und bislang Einzige.
Eine regelrechte Hosenrolle hat sie seit 2022 nicht daraus gemacht, obwohl sie noch bis ins vorige Jahr hinein zu ihrem langen, wild wallenden Haar eine weite schwarze Hose trug, ein helles Jackett, drunter wahlweise ein Unterhemd oder Trägertop. Inzwischen mauserte sich Zielckes Gesell(in) zum Party-Girlie: transparentes Röckchen, Glitzerbody, Netzstrumpfhosen zu Silberstiefeln. Das Haar gebunden und verzopft. Eine gestandene liebeshungrige Frau nährt das ewige Mädchen in sich.
Dabei war ihr Gesell, auch wenn das nicht die erste Intention gewesen sein mag, im Grunde schon immer sehr weiblich; war es im vorherigen Kostüm nebst Spielanlage auf gewisse Weise sogar noch etwas mehr. Zunächst trat Zielcke gleichsam als Jedermanns lässige Geschäftspartnerin auf, die ihm auch zur Bettgenossin taugte. Jetzt ist sie dessen sexy Gespielin im Rausch der Drogen und Gefühle, aus seiner Sicht wohl eher kerniger Kumpeltyp in einer Freundschaft plus. In ihr brennt eine in dieser Tiefe unerwidert bleibend müssende Liebe, die erst im Angesicht des Todes an eine Grenze kommt.
Wie auch immer: Marie Zielcke hat dieser Inszenierung des Berliner Schauspielers, Regisseurs und Produzenten Nicolai Tegeler (I like Stories GmbH) unvermittelt einen Prägestempel aufgedrückt. Aus einer in Hugo von Hofmannsthals Spiel vom Sterben des reichen Mannes angelegten Männerfreundschaft nicht recht auf Augenhöhe, zwischen einem potenten Kerl und einem reichlich blutleeren Faktotum, getragen von einer letztlich geschäftsmäßigen Treue mit viel Opportunismus dabei, ist eine Beziehung voller Eros, nur ohne Ethos geworden. Da geht lange Zeit nichts drüber.
Oft ist der Gute Gesell im „Jedermann“ ein Kofferträger im übertragenen Sinn. Marie Zielcke trägt tatsächlich einen Geldkoffer umher, zu dem die Inszenierung Jedermanns Beutel vergrößerte. Aber sie tut es in größtmöglicher Autonomie. In keiner Sekunde gibt sie den Speichellecker; wenn schon, dann leckt sie, in aller Freiheit und Hingabe, bei Jedermann, nun ja, was anderes eben. Texte wie „Wenn du das andere besorgt hast schnell“ geraten darunter in einen etwas anderen Kontext.
Widersprüche leben
Das alles war so nicht vorgesehen, nicht von Nicolai Tegeler, der, was das vor über 100 Jahren moderne Mysterienspiel des „Jedermann“ betrifft, aus der Berliner Festspieltradition von Brigitte Grothum kommt, die das von 1987 bis 2014 Herbst für Herbst in sakralen Bauten einrichtete. Dort spielte er einige Jahre lang selbst den Gesellen. Und hatte das auch in der eigenen Inszenierung wieder vor. Zielcke, deren Agent er überdies ist, trug er indes wohl Schuldknechts Weib an, als es zunächst um Auftritte bei der Landesgartenschau im brandenburgischen Beelitz ging.
Sie aber kam ihm mit dem Gesellen um die Ecke, mal wieder gegen ihre Natur, sich nicht allzu gerne in den Vordergrund zu drängen. Hoppla, jetzt komm ich, das kann sie spielen. Privat ist das gar nicht ihr Ding. Aber wenn’s drauf ankommt, weiß sie, Ehrgeiz zu entwickeln. Zielcke lebt ihre Widersprüche.
Tegeler muss ein bisschen konsterniert gewesen sein, bevor ihm die Idee dann doch immer besser gefiel. Inzwischen ist diese Konstellation mit ihr und Julian Weigend in der erst manisch, dann panisch wirkenden Titelrolle der konstante Nukleus in einer sich auch in diesen beiden Rollen ständig verändernden Inszenierung mit ansonsten wechselnden Besetzungen. Es tritt, der Grothum-Tradition folgend, viel Film- und Fernsehprominenz auf, mit mal großer, mal geringer Theatererfahrung. Hier wechseln Darsteller die Rollen, dort Rollen die Darsteller. Nur Michaela Schaffrath als Jedermanns Werke und Tine Wittler als ein in die Base verwandelter Vetter blieben ebenso auf ihren Positionen.
Bislang über 30 Aufführungen hat es gegeben: Open Air in Beelitz, Weimar und Regensburg, dazu in einer Berliner Kirche und im Reichshof Bayreuth, wo ab Mitte Oktober erneut fünf Vorstellungen anstehen. Es gab dabei, nur z. B., bereits vier Buhlschaften: Jenny Löffler, Olivia Marei, Dorkas Kiefer, aktuell Susanne Bormann. Mit dieser Rolle hätte, einige dramaturgische Kniffe vorausgesetzt, ihr Gesell auch gut und gerne verschmelzen können, so wie er beziehungsweise sie daherkommt. Stattdessen erzeugt man Spannung unter Konkurrentinnen: Ist die Quasi-Gemahlin oder die De-facto-Gespielin Jedermanns Liebste und Treuste? Dass auch der Gesell, so wird sie stets angesprochen, dessen Todesreise flieht, bedeutet ihm die größte Enttäuschung, den tiefsten Fall.
Effektiv vielleicht ein Drittel der insgesamt 100 Minuten steht Marie Zielcke auf der Bühne. Das ist viel in einem Stück, in dem ständig alle kommen und gehen, während nur Jedermann bleibt. Es ist aber auch viel mehr, als sie beim Lesen zunächst erwartet hatte. Dabei hat man doch so einiges vom ohnehin übersichtlichen Gesellen-Text gestrichen. Raum bekommen dafür ein Kichern und Lachen, Raunen und Grunzen, Frohlocken und Schmollen. Viel Wollust und noch mehr Lust, alles zu wollen.
Ein Caster entdeckte sie fürs Fernsehen
Zielckes Bühnenpräsenz ist aber von eher intensiver als extensiver Natur. Hier ist ein Theatertier am Werk. Sollte man jedenfalls meinen. Dabei hat diese Schauspielerin, 46 Jahre alt, so gut wie nie zuvor auf einer Bühne gestanden, sondern in über 30 Berufsjahren fast ausschließlich vor der Kamera. Einen einzigen Sommer lang spielte sie mal Theater: 2012 bei den Nibelungen-Festspielen unter Dieter Wedel in Worms. In „Das Vermögen des Herrn Süss“ von Joshua Sobol war sie Sibylle Remchingen und eröffnete den Abend in 17 Vorstellungen mit einem Monolog. Sie starb jedes Mal tausend Tode, vor Aufregung. Und die Arbeit bei Wedel war für sie mit viel Druck verbunden.
Jene mit Tegeler habe einen verspielteren Charakter und viel mehr mit Spaß zu tun, sagt sie. Bei ihm könne man was ausprobieren. Die Probenzeiten dieser privat finanzierten Produktion empfindet sie zwar als mitunter absurd kurz. Dafür entwickelt sich die Inszenierung in den Aufführungen. Und seitdem, zum ersten Mal in ihrem Leben, hat Marie Zielcke wirklich sehr viel Lust aufs Theaterspielen.
Was sie schon immer damit verband: ihre Familie. Was sie bislang davon fernhielt: ihre Familie. Ihr Vater, den sie erst spät persönlich traf, ist eine Theaterlegende, an der sie sich keinesfalls messen oder ausrichten lassen wollte: Roberto Ciulli, Impresario des Mülheimer Theaters an der Ruhr.
Bei ihm war einst Angelika Zielcke engagiert, eine Schauspielerin, die später nach Köln und Bonn wechselte, zuletzt nach Würzburg. Bei ihr wuchs Marie Zielcke auf sowie durch sie in die Theaterwelt hinein; sie verbrachte viel Zeit auf Probe- und Hinterbühnen und hat bis heute den Geruch aus der Maske in der Nase. In Aufführungen fühlte sie sich von einer gewissen Strenge eingeschüchtert. Man musste stillsitzen und verstand so gut wie nichts. Faszinierend war’s dennoch.
Eine Idee davon, wie Theater auch sein kann, bekam sie, als sie ihren Vater in „Der kleine Prinz“ sah, nachdem er zuvor höchstselbst die Karten abgerissen hatte. Und in Hannover, wo sie zwölf Jahre lebte, lernte sie als regelmäßige Zuschauerin im Staatstheater kennen, was sie als neue Leichtigkeit beschreibt. Heutzutage hat sie das Gefühl, dass es fürs Theater doch mehr Mut braucht als für Filme.
Mit Theater begann aber auch ihre Karriere: „Mädchen in Uniform“ an einem musischen Gymnasium in Köln. Die Lehrerin ließ wochenlang dafür vorsprechen. Marie Zielcke wollte unbedingt die Hauptrolle und übte dafür mit ihrer Mutter. Sie hat sie bekommen. Da war sie 15. Ein Caster sah sie in dem Stück und entdeckte sie fürs Fernsehen. Mit 17 verließ sie dafür die Schule, ohne Abitur.
Sie hat seitdem alles Mögliche gespielt: Experimentelles und Konventionelles, in Kinofilmen von Oskar Roehler („Silvester Countdown“, „Die Unberührbare“, „Agnes und seine Brüder“), in Fernsehsoaps („Eine wie keine“) oder -serien („Betty Diagnose“). Sie macht da kaum Unterschiede. Hauptsache, es berührt sie so sehr, dass sie glaubt, es unbedingt machen zu müssen.
Dass sie es des Geldes wegen tun müsste, hat sie seit der Pandemie hinter sich gelassen. Zielcke nennt das ihren größten Luxus, für den sie mit Wonne anderen Jobs nachgeht. Nahe Hannover arbeitete sie in einem Café und erwarb sich Barista-Kompetenzen. In Berlin, wohin es sie zum dritten Mal in ihrem Leben zog, schmiert sie u. a. in der Kantine der Komischen Oper Brötchen für die Technik und findet es herrlich, Theaterluft zu schnuppern, ohne selbst raus zu müssen. Überdies heuerte sie beim Filmtheater Colosseum an, einem der ältesten deutschen Kinos. Diesen Job liebt sie heiß und innig. Dergleichen bedeutet ihr Autonomie, Lebensunterhalt und Rollenstudium in einem.
Bühnen der Stadt- und Staatstheater blieben ihr verschlossen. Sie kann keine klassische Ausbildung vorweisen. Darüber sieht, so ihre Erfahrung, kaum jemand hinweg, falls man sich keinen ganz großen Namen gemacht hat. Könnte sie sich noch an einer Schauspielschule anmelden, sie täte es sofort.
Doch die Schule der Schauspielerin Marie Zielcke ist das Leben, das sie nimmt, wie’s kommt und geht. Im vergangenen Jahr sah Florian Battermann von der Braunschweiger Komödie am Altstadtmarkt den „Jedermann“ im Weimarhallenpark. Da war Zielcke gerade dabei, in und bei Hannover ihre Zelte abzureißen. Jetzt wird sie doch wieder sehr viel Zeit in ihrer alten Gegend verbringen. Sie spielt ab Dezember bei Battermann in „Mehr Schein als Sein oder Ein Sechser mit Nebenwirkungen“, eine Komödie von Angela Burmeister. Im nächsten Jahr kommt am Neuen Theater Hannover eine Rolle in „Suche impotenten Mann fürs Leben“ nach Gaby Hauptmann hinzu.
Zweimal Boulevardtheater also, mit mehreren Aufführungsserien und Gastspielreisen. Sie liebt es jetzt schon. Egal, wie viel Drama sie schon spielen durfte, sie habe sich immer nach Komödie gesehnt, sagt sie. Sie darf sich auf kleinen privaten Bühnen neu ausprobieren, erstmals unverstärkt, ohne Mikroport. Ein nächster Aufbruch, wie so viele zuvor. Sie wird ihn angehen wie üblich: mit Neugier und Zuversicht. Die bleiben wohl, allen leisen Zweifeln zum Trotz, ihre guten Gesellen.