Theater der Zeit

Auftritt

Theaterkollektiv Pièrre.Vers/asphalt Festival/Düsseldorf Festival: Auf Tuchfühlung mit Schwurbelköpfen

„Schaf sehen. Eine theatrale Verschwörungserzählung“ von Juliane Hendes. Regie und Konzept Christof Seeger-Zurmühlen, Raum und Kostüm Susanne Hoffmann, Komposition und Sounddesign Bojan Vuletic

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Christof Seeger-Zurmühlen

Was ist und muss von der Meinungsfreiheit gedeckt sein und was ist gefährlich für unsere Staatsform? „Schaf sehen. Eine theatrale Verschwörungserzählung“ von Juliane Hendes auf dem asphalt Festival Düsseldorf.
Was ist und muss von der Meinungsfreiheit gedeckt sein und was ist gefährlich für unsere Staatsform? „Schaf sehen. Eine theatrale Verschwörungserzählung“ von Juliane Hendes auf dem asphalt Festival Düsseldorf.Foto: Ralf Puder

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Sie sind nett, richtig nett. Sie nehmen die gerade angekommene Johanna in den Arm, geben ihr das Gefühl, zu Hause zu sein. Sie arbeiten auf dem Feld, kochen extrem leckeres Essen. Und sie sind tolerant. Johanna ist geimpft? Kein Problem, die einen machen´s so, wir machen´s anders. Und regelmäßig kommen viele Gäste. Die lassen dann Hasstiraden, rassistische und antisemitische Sprüche vom Stapel. Und die netten, toleranten Leute schweigen dazu.

Eigentlich hat das Stück ganz anders angefangen. Das Publikum fährt mit dem Fahrstuhl in den Keller des ehemaligen Elektronikgeschäfts, das nun das Zentrum des asphalt Festivals in Düsseldorf ist. Hier zeigt das Theaterkollektiv Pièrre.Vers – die Keimzelle des internationalen Festivals – sein neues Stück. Bisher haben sich die Macher:innen meist mit der Stadtgeschichte und den Auswirkungen nationalsozialistischer Verbrechen beschäftigt. Seit dem vergangenen Jahr ist Pierre.Vers in der Gegenwart angekommen und war mit seiner Produktion „Dunkeldorf“ auf der Shortlist des Berliner Theatertreffens.

Nun sind wir also im Keller. Der Raum ist rot beleuchtet. Ein Moderatorenpaar – die Moni und der Wolfi – informiert uns, dass wir uns jetzt mit Verschwörungserzählungen beschäftigen werden. Wolfi allerdings wirkt unterschwellig aggressiv. Seine Freunde nennen ihn Wolfgang, sagt er, aber wir müssen Wolfi sagen, denn wir sind nicht seine Freunde. Moni wirft ihm einen warnenden Blick zu.

Dann wechselt das Publikum in einen langen Raum mit Säulen. Moni setzt sich eine blonde Perücke auf und verwandelt sich in Anastasia, eine Figur, die der russische Schriftsteller Wladimir Nikolajewitsch Megre erfunden hat. Die nach ihr benannte Anastasiabewegung verbindet Ökolandbau mit völkischer Gesinnung und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Bis dahin wirkt der Abend wie textlastiges Dokumentartheater, musikalisch angereichert durch zweistimmige Kurzgesänge zweier Damen, deren Lächeln ziemlich gefährlich wirkt.

Und dann wird alles ganz anders. Eine Frau namens Johanna unterbricht die Belehrung und erzählt von dem, was ihr selbst passiert ist. Ihr Zwillingsbruder ist in die Szene rechter Verschwörungstheoretiker abgedriftet. Sie ist ihm gefolgt, will ihn nicht aufgeben und kam so zu dem Biobauernhof der netten, toleranten, liebenswerten Menschen. Wieder wechselt das Publikum den Raum, betritt zunächst einen Acker, setzt sich dann um die Wohnküche der netten, toleranten, liebenswerten Familie herum. Johannas Bruder ist immer dabei, als gespenstische Erscheinung, mit der sie den Dialog sucht.

Es ist eine großartige Idee, sich nicht gleich von den Menschen zu distanzieren, die anders denken, weder den seriösen Medien noch den etablierten Parteien glauben, ein Leben jenseits der bürgerlichen Gesellschaft führen. Weil es nichts bringt, sie als Spinner und Nazis zu verdammen. „Schaf sehen“ – der Titel spielt natürlich mit dem Begriff des „Schlafschafs“ – ist ein Stück, das sich erst einmal auf die Faszination dieser Biobauern einlässt. Und erst am Ende die Abgründe und die Aggression zeigt, die von einigen in dieser Gruppe ausgehen.

Die Aufführung könnte allerdings noch viel weiter gehen. Immer wieder versinkt der Text von Juliane Hendes in ausufernden Wortkaskaden. Die Handlung kommt dabei zu kurz, die Charaktere bleiben oberflächlich. Und weil bei Pierre.Vers Regie und Dramatikerin eng zusammenarbeiten, sucht Christof Seeger-Zurmühlen auch nicht nach Momenten, in denen er das Stück aufbrechen könnte. Das Ensemble macht seine Sache gut, bleibt aber wie die Inszenierung etwas brav. So wird die Aufführung – die ich zudem an einem sehr stickigen Abend gesehen habe, an dem der Sauerstoffgehalt zunehmen schwand – etwas mühsam. Aber „Schaf sehen“ hat faszinierende Denk- und Fühlansätze und könnte ein Schritt sein, sich offener mit scheinbaren Spinnern zu beschäftigen. Ohne dabei die eigene Haltung zu verlieren.

Erschienen am 10.7.2024

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