Theater der Zeit

Auftritt

Theater Bonn: Bilder des Missbrauchs

„Rigoletto“ von Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave – Musikalische Leitung Daniel Johannes Mayr, Inszenierung Jürgen R. Weber, Ausstattung Hank Irwin Kittel, Video Gretchen Fan Weber

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Musiktheater Theaterkritiken Theater Bonn

Anastasiya Taratorkina in „Rigoletto“ in der Regie von Jürgen R. Weber. Foto Hans Jörg Michel
Anastasiya Taratorkina in „Rigoletto“ in der Regie von Jürgen R. WeberFoto: Hans Jörg Michel

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Der Herzog nähert sich der jungen Gilda. Er hält eine Torte in der Hand. Er wird sie ihr ins Gesicht drücken. Nicht als Gag wie in einer Stummfilm-Slapstick-Komödie, in der sich das Opfer wehren kann. Sondern als Zeichen der Demütigung. Der Herzog hat die Macht und er kann sie missbrauchen, immer und überall. Er wartet ab, genießt den Moment, dann klatscht die Torte in Gildas Gesicht. Spontane Buhrufe aus dem Publikum. Am Ende der „Rigoletto“-Premiere gibt es lauten Protest gegen die Inszenierung von Jürgen R. Weber. Der Regisseur trägt Sonnenbrille zu schwarzem T-Shirt, breitet triumphal die Arme aus, geht auf die Knie. Oper wie in alten Zeiten, als das Regietheater das Schauspiel verließ – mal wieder ein kleiner Skandal. Ein Scandaletto.

Dabei zeigt Jürgen R. Weber bloß den Inhalt von Giuseppe Verdis Oper, nur in etwas krasseren Bildern als gewohnt. Im „Rigoletto“ geht es um nichts anderes als Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung, um eine dekadente Männergesellschaft, die ihren Trieben freien Lauf lässt und von niemandem kontrolliert wird. Verdi und Librettist Francesco Maria Piave lassen die Handlung – nach dem damals vielerorts verbotenen Stück „Le Roi s’amuse“ von Victor Hugo – in Mantua spielen. Das Herzogtum gab es Mitte des 19. Jahrhunderts längst nicht mehr, der Spielort sollte helfen, die Zensur zu umgehen. Wie politisch diese Oper ist, war von Anfang an klar.

Der Herzog mit dem verführerischen Tenor und den geschmeidigen Arien (Ioan Hotea) trägt ein Totenkopf-T-Shirt und ist der Chef einer gefühllosen Bande, in der viele Frauenkleider tragen. Die missbrauchten Frauen sitzen im Rollstuhl. Eine bringt ein totes Kind zur Welt. Nach der Pause läuft ein Video, in dem Würmer aus der Babypuppe krabbeln. Der Ekel ist kein Selbstzweck. Die Bilder zeigen, dass die Horde die nächste Generation tötet und kein weiteres Leben ermöglicht.

Kein Wunder, dass Rigoletto – Hofnarr und Entertainer der abgefuckten Gesellschaft – seine Tochter Gilda versteckt. Doch damit nimmt er ihr jede Möglichkeit, sich zu entfalten. Gilda ist gehbehindert und schleppt sich an Stöcken über die Bühne.. Die erotische Begierde des Herzogs wird dadurch nur noch gesteigert, er wittert ein weiteres Opfer.

Daniel Johannes Mayr begleitet die spannende und psychologisch klar durchgearbeitete Inszenierung mit dem Beethoven Orchester souverän und effektvoll. Überragend gestaltet Bariton Giorgos Kanaris den zerrissenen Rigoletto, Täter und Opfer, ein hilfloser Mitläufer, der keine Chance hat, die Katastrophe zu verhindern. Eine sehr interessante Stimme hat Anastasiya Taratorkina. Sie singt Gilda mit großer Beweglichkeit, glitzernder Sehnsucht und anrührendem Entsetzen, hat in den Höhen eine für eine italienische Oper seltene metallische Kraft, die ins dramatische Sopranfach deutet. Das passt zur Anlage der Rolle in der Bonner Inszenierung perfekt.

So gelingt ein aufregender und präziser „Rigoletto“ in einem sehr wandelbaren und effektvollen Bühnenbild von Hank Irwin Kittel, in dem sich die Wände bewegen und immer neue Räume definieren. Jürgen R. Weber hat Verdis Anliegen in die Gegenwart transportiert. Das Buhgewitter bei der Premiere wird er aushalten.

Erschienen am 24.10.2023

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