Aus der Praxis
„Queer sein bedeutet für mich, das Leben zu genießen. Und es anderen möglich zu machen, es genießen zu können.“
Ein Gespräch zu QUEERTOWNS
Per Videokonferenz und gemeinsamem Online-Schreibtool tauschten sich Marguerite Windblut (Theaterpädagog*in), Carolin von Ohle (FSJ Kultur/Teilnehmer*in) aus Essen sowie Jose (Teilnehmer*in) und Katrin Maiwald (Theaterpädagog*in) aus Leipzig stellvertretend für alle vier beteiligten Theater über ihre Erfahrungen in der Konzeption und Umsetzung des Projektes aus. Darüber hinaus benannten sie ihre daraus resultierenden Wünsche und Visionen für eine queere, machtkritische Theaterpädagogik und die Zukunft am Theater.
von Carolin von Ohle, Marguerite Windblut, Jose und Katrin Maiwald
Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)
Assoziationen: Theaterpädagogik Dossier: Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters Theater Junge Generation Junges Ensemble Stuttgart Schauspiel Essen Theater der Jungen Welt
KATRIN: Was war dir in der Konzeption im Austausch mit den vier theaterpädagogischen Abteilungen wichtig, Marguerite?
MARGUERITE: Mir war zu Beginn sehr wichtig, worüber wir ‚eigentlich reden‘, wenn wir über queer oder queere Projekte sprechen, weil jede*r hat ja eine eigene Definition des Begriffes queer und ich wollte einen Austausch über die Perspektiven der Kolleg*innen haben.
KATRIN: Den Punkt kann ich gut verstehen. Ich hatte zwischendurch auch die Sorge, dass wir den Begriff queer teilweise sehr oberflächlich, vielleicht auch als ‚Modeerscheinung‘, verwenden könnten. Deshalb war mir die queere Selbstpositionierung von uns beiden sowie die der Kolleg*innen sehr wichtig. Auch unser Fokus auf den (queeren) Generationendialog, wenn wir dann mit den jungen Menschen, also den Teilnehmer*innen, zusammenkommen.
Was heißt queer für euch?
MARGUERITE: Was heißt queer für euch? Was habt ihr mit queer bisher so erlebt? Auch oder vor allem am Theater?
JOSE: Ich benutze den Begriff queer erst seit ein paar Jahren für mich, ich glaube, seit ich neunzehn bin. Entdeckt habe ich ihn für mich, weil er so umfassend ist und so viel Freiraum und Identitätsfragen zulässt. In meiner Kindheit hatte ich keine queeren Vorbilder und mein ganzes Wissen rund um Gender- und Sexualitätsfragen musste ich mir selbst aneignen, weil es dazu keine Anregung von außen gab.
CARO: Queer ist ein Begriff, der eine Menge Assoziationen beinhaltet – positive, wie Freiheit, sich selbst zu entdecken und auszuleben, aber auch negative, die von außen einfließen. Unterdrückung, Angst um die eben genannte Freiheit oder sogar das eigene Leben. Queer ist Widerstand, die Sprengung der Norm – eine liebevolle Revolution. Genau wie Jose haben mir in meiner Kindheit und frühen Jugend queere Vorbilder und Informationen über alles neben der cis-het-Norm gefehlt. Im Theater, auch in den Jugendgruppen, in denen ich bisher gespielt habe, hab‘ ich queere Repräsentation vermisst. Der erste direkte Berührungspunkt waren dann Die Queerspekten, der queer-feministische Spielclub am Schauspiel Essen.
KATRIN: Queer leben und denken bedeutet für mich, Feminismus als Praxis zu verstehen, die auf sozialer, politischer, künstlerischer, kultureller Ebene versucht, das Patriarchat zu dekonstruieren und als Machtstruktur zu überwinden. Es bedeutet für mich, im Theater, in dem gesellschaftliche Machtstrukturen ja nicht nur reflektiert, sondern eben auch reproduziert, wiederholt, gelebt werden, immer wieder gespiegelt zu bekommen, dass meine Lebensweise ‚anders‘, marginalisiert oder meine Forderungen nach Gleichberechtigung zu ungeduldig, übertrieben oder anstrengend wahrgenommen werden. Und gleichzeitig eben dort auch queere Verbündete zu treffen sowie eine große Offenheit und viel Interesse für queere Diskurse zu finden. Ich sehe mich in der Verantwortung, meine Privilegien als unter anderem weiße, nicht-behinderte cis-Frau und Akademikerin zu reflektieren. Queer ist nach meinem Verständnis immer auch der Anspruch, mich intersektional zu positionieren und stetig in der Sprache, im Denken und Handeln zu reflektieren.
MARGUERITE: Queer sein bedeutet für mich, Fragen zu stellen. An mich selbst, an andere, an das Leben und alles, was darin liegt. Queer bedeutet, Bestehendes anders zu denken, Varianzen zu ermöglichen, ein Spektrum zu eröffnen. Entscheidungen zu treffen, aber diese mit möglichst vielen Perspektiven zu hinterlegen. Queer sein bedeutet für mich, das Leben zu genießen. Und es anderen möglich zu machen, es genießen zu können. Am Theater habe ich besonders am Anfang meiner Arbeitslaufbahn eher Ausgrenzung erlebt. Das Thema, auch in den vielen Facetten, die es mitbringt, war irgendwie kein Thema. Geschichten für die Bühne wurden mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit aus einer heterosexuellen Perspektive erzählt.
Queer ist Widerstand, die Sprengung der Norm – eine liebevolle Revolution.
QUEERTOWNS – Was für ein Projekt war das für euch?
KATRIN: Was ist QUEERTOWNS? Welchen Aufbau, welche Struktur hatte das Projekt?
CARO: Teams aus Theaterpädagog*innen/-macher*innen und Künstler*innen eröffneten einen Raum für queere Jugendliche von 14 bis 21 Jahren. Vier Gruppen, zusammengekommen aus interessierten Einzelpersonen an vier Theatern in vier Städten, arbeiteten in den Osterferien 2022 parallel und gemeinsam. Es entstand ein künstlerischer Output mit vier unterschiedlichen Präsentationen (Filme, Performance mit Masken, Radioshow). Um uns über die Städte hinaus zu vernetzen, wurde eine Art ‚Buddy-System‘ entwickelt, bei dem jede teilnehmende Person einen ‚Buddy‘ zugeteilt bekommen hat, mit dem sie über einen Messenger Kontakt aufnehmen und sich über die Projektwoche austauschen sollte.
KATRIN: Wir entschieden uns für den Messengerdienst Signal und starteten auch direkt am ersten Tag mit einer Vorstellungsrunde aller Beteiligten dort. An Tag drei gab es einen künstlerischen Austausch zwischen jeweils zwei Gruppen und am fünften Tag schlossen wir unser Projekt mit einem gemeinsamen Festival ab, machten Warm-Ups per Zoom und tauschten uns über Signal zu den Präsentationen aus.
JOSE: Marguerite, welchen künstlerischen Ansatz habt ihr in Essen gewählt und warum?
MARGUERITE: Unser künstlerischer Ansatz war zunächst das Entwickeln von Figurenmonologen. Die Teilnehmenden sollten sich ihre eigene Queer-Icon (das konnte/durfte jede*r sein, ob real oder fiktional) aussuchen und aus der Perspektive dieser, einen kurzen Monolog entwickeln und performen. Jeder Monolog verhandelt ein persönliches Thema der Figur. Die entstandenen Monologe wurden dann von der queeren Filmemacher* innenperson Palomito gefilmt und postproduziert. Wichtig war uns mit dem Queer-Icon-Thema etwas Inhaltliches zu finden, an das die Teilnehmer*innen schnell anknüpfen können. Der zweite Punkt war, dass wir mit dem Film eine Form wählten, die etwas Bleibendes hinterlässt. Und Ihr in Leipzig?
KATRIN: In Leipzig haben wir uns gemeinsam mit Adam Williams, Bildungsreferent*in bei RosaLinde e.V., den Themen (Un-)sichtbarkeit in der Stadt sowie Individuum versus Community und Empowerment gewidmet. Bewegungsabläufe und Bildmaterial aus der Stadtrecherche der Teilnehmenden bildeten die Grundlage für unsere tänzerische Auseinandersetzung im Proberaum. Unsere Praxis und Methoden kamen aus dem Community Dance. Entstanden sind eine 20-minütige Choreografie mit vielen Improvisationselementen, die wir an einem Abend auf dem Gelände der Baumwollspinnerei zurück in den Stadtraum brachten, sowie ein kurzer Film verantwortet von Tilman König, dessen Tonspur komplett eigenständig von der Gruppe erarbeitet wurde und dessen Schnitt ebenfalls in einem partizipativen Prozess entstanden ist.
JOSE: Katrin, Marguerite, welche Entwicklungen konntet ihr bei den Teilnehmer*innen beobachten?
KATRIN: Ich hatte den Eindruck, dass sehr viel Wissen über geschlechtliche, romantische und sexuelle Vielfalt ausgetauscht werden konnte, persönliche Erfahrungen geteilt wurden, wir uns gegenseitig beraten und empowert haben. Ich konnte darüber hinaus wahrnehmen, dass fast alle Teilnehmenden im Laufe der Woche ihren Wunsch, etwas ‚richtig‘ oder ‚perfekt‘ machen zu möchten oder zu müssen, ablegen bzw. verringern konnten. Für eine Teilnehmerin war der Begriff queer vorher unbekannt. Sie hatte sich vor allem angemeldet, weil sie Lust auf Tanz hatte. Es war schön zu sehen, mit welcher Offenheit sie sich allem neuen Wissen gestellt hat. Gegen Ende hat sie sich nochmal explizit als cis-weiblich und heterosexuell positioniert.
MARGUERITE: Wir hatten Menschen in dem Projekt, für die es teilweise an ihren Wohnorten schwierig ist, queer zu leben. Für diese war die Zeit in dem Projekt unglaublich wertvoll und erholsam. Der Gedanke, danach wieder in die alte Struktur zu müssen war für sie vielleicht auch ein bisschen schmerzvoll – aber es geschah mit einem anderen, gestärkten Selbstbewusstsein und dem Wissen, dass Bande geknüpft wurden.
KATRIN: Gibt es Nachfolgeprojekte?
MARGUERITE: Am Schauspiel Essen gibt es in den Osterferien im April 2023 wieder ein queeres Ferienprojekt. In Stuttgart und Leipzig queere Spielclubs. Auch in Dresden wird der Kontakt zu den queeren Jugendlichen und dem städteübergreifenden Team der Theaterpädagog*innen gehalten.
Queere Theaterpädagogik – Was braucht das Theater der Zukunft?
MARGUERITE: Was ist für euch queeres Theater und queere Theaterpädagogik?
KATRIN: Für mich akzeptieren queeres Theater und queere Theaterpädagogik den Fakt, dass wir es in jeder Gruppe von Menschen immer mit einer großen sexuellen, romantischen und geschlechtlichen Vielfalt zu tun haben. Es geht darum diesen vielen Ausdrücken und Lebensweisen Raum zu geben, Mut zu machen, sie in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit auch leben und zeigen zu können. Dabei ist es wichtig, sich in Bezug auf Antidiskriminierung und strukturelle Machtverhältnisse intersektional stetig weiterzubilden und auch unbequemen Erkenntnissen zu stellen. Also nicht das Narrativ zu wiederholen, dass wir als Theater oder Theaterpädagogik per se offen, tolerant, demokratisch oder diskriminierungsarm wären. Darüber hinaus bedeutet queeres Theater für mich auch, den Mut zu haben, mit einer künstlerischen oder sozialen Praxis eingespielte Ästhetiken immer wieder zu irritieren.
MARGUERITE: Zum Thema Narrative wünsche ich mir Stoffe, Geschichten queer erzählt. Und das mit einer kompletten Selbstverständlichkeit – mit allen Facetten, Glücksmomenten sowie Problemen. Collagierte, brüchige Erzähl weisen für Inszenierungen, interdisziplinärer, eklektischer Einsatz von Bewegung, Sprache, Ton, Licht, etc. oder auf der Ebene von Erzählung klassische Stoffe mit explizit queeren Darsteller*innen – hier vor allem auch queere Liebe und Begehren als etwas Alltägliches. Sowohl in der Theaterpädagogik, als auch in der gesamten Personalstruktur eines Theaters sollen viele queere Leitungspersonen, wie auch Künstler*innen, Schauspieler*innen und Menschen in den Gewerken arbeiten. Sowohl in der Stadt als auch in ländlichen Regionen. Und das in allen Bereichen und zu fairen Konditionen.
CARO: Sehe ich genauso. Und ich glaube, dass viele nicht-queere Mitarbeiter*innen im Theater noch dafür sensibilisiert werden müssen, dass es Bedarf und eine Notwendigkeit für queere Repräsentation gibt. Es gilt, Safer Spaces zu schaffen, die für alle gute Bedingungen für persönliches und kollektives Empowerment beinhalten.
JOSE: Ich denke, es braucht in erster Linie immer sehr viel Mut von Theatermacher*innen, sich mit Themen auseinanderzusetzen, von denen sie vielleicht selbst nicht betroffen sind. Queerness gibt es überall, wir brauchen nur den Space und das Vertrauen, um uns auszudrücken. Es gibt so viele Geschichten, die noch nicht erzählt sind, aber so viele, die immer wieder erzählt werden. Deswegen wünsche ich mir vom Theater Mut, nach Menschen zu suchen, die sonst nicht so viel im Theater vertreten sind. Sowohl auf der Bühne als auch bei der Konzeption, um queere Perspektiven durch eigene Biografien sichtbarer machen zu können.
Viele nicht-queere Mitarbeiter*innen im Theater müssen noch dafür sensibilisiert werden, dass es Bedarf und eine Notwendigkeit für queere Repräsentation gibt.
ALLE: Die Zeitgestaltung von Probenzeit in theaterpädagogischen Projekten erscheint uns unter Berücksichtigung queerer sowie diskriminierungskritischer Aspekte als etwas Freies, das verstärkt an die Bedürfnisse der Teilnehmer*innen angepasst gehört. Neben den üblichen regelmäßigen Terminen braucht es andere Zeiträume aber auch offene Angebote, die ohne regelmäßige Teilnahme funktionieren. Zeit ist ein Faktor, der beliebig und unterschiedlich gestaltet werden kann und der im besten Fall in Kollaboration mit so vielen Beteiligten unterschiedlicher Positionierungen wie möglich als Rahmen entsteht. Hier von institutioneller Seite noch offener zu werden, lohnt sich und macht Mut, Flexibilität und Unterschiedlichkeit in alle Bereiche des Theaters (und des Lebens) hineinzulassen.