Theater der Zeit

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Theater unser

Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

von Anne Fritsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Bayern Theater unser

Blick hinter die Kulissen: Probe der Kreuzigung in Oberammergau. Foto Sebastian Schulte
Blick hinter die Kulissen: Probe der Kreuzigung in Oberammergau.Foto: Sebastian Schulte

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Profanes und Heiliges

Oberammergau ist ein gar nicht so kleines Dorf, das auf den ersten Blick vielen anderen in Bayern ähnelt. Eine Mischung aus Profanem und Heiligem, aus Hässlichem und Schönem, Kitsch und Kirche, Beton und Natur. Eingerahmt von durchaus schroffen Bergen wie dem Kofel, der wie ein einzelner Zahn hinter dem Ort aufragt und so wirkt, als wäre er nur aus Versehen hier. Lion Feuchtwanger, der 1910 nach Oberammergau kam, nannte ihn boshaft einen „rechten Reklameberg“. „Der Hochgebirgscharakter dieses Bergs erweist sich als Täuschung: nur die dem Dorf zugekehrte Seite ist schroff und wuchtig, der ganze Berg hat fünfhundert Meter Bodenhöhe und verschwindet sogleich, wenn man sich von Oberammergau entfernt.“ (Lion Feuchtwanger: „Oberammergau“, 1910). Erwandert hat Feuchtwanger den Kofel wohl nicht, sonst wüsste er, dass die Reklame hier durchaus hält, was sie verspricht: Trotz seiner nur 1342 Meter hat der Kofel auf dem letzten Stück bis zum Gipfel durchaus kraxelige und gebirgige Passagen vorzuweisen.

Im letzten Jahrhundert hat sich einiges getan im Ort: Längst sind nicht mehr alle, die hier wohnen, oberbayerische und katholische Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Über die Jahrzehnte kamen eine Menge Menschen aus verschiedenen Teilen Europas und der Welt nach Oberammergau. Und seitdem die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche nicht mehr Bedingung für die Teilnahme an den Passionsspielen ist (dazu später mehr), hat die Zahl der Kirchenaustritte auch hier zugenommen. Dass die Öffnung für Anders- und Nichtgläubige bei einem Teil der Bevölkerung zunächst nicht gerade für Begeisterung sorgte, ist ebenfalls kein Alleinstellungsmerkmal des Ortes. Als 1990 Carsten Lück als erster Protestant eine Hauptrolle spielte, sahen nicht wenige darin den Anfang vom Ende.

Tatsächlich war das Gegenteil der Fall; das vermeintliche Ende bedeutete vielmehr einen Neuanfang: Dass nun alle, die lange genug im Ort leben, mitmachen dürfen und niemand ­wegen seines Glaubens (oder Nichtglaubens) ausgeschlossen wird, ist die Voraussetzung dafür, dass die jahrhundertealte ­Tradition auch im 21. Jahrhundert ein von der gesamten Dorf­gemeinschaft getragenes Projekt bleiben kann. Eine sich ver­ändernde Gesellschaft braucht sich verändernde Regeln. Und eine Theaterinszenierung dieses Ausmaßes braucht eine Mehrheit, die es trägt. Blieben alle Nicht-Katholiken außen vor, wäre der Zuspruch heute wohl kaum noch so groß.

Das Passionstheater, das apricotfarben und im Vergleich zu den anderen Gebäuden überdimensioniert im Zentrum steht, prägt das Dorf auch optisch. Zusammen mit all den Kruzifixen ist es eine alltägliche Erinnerung an die Spiele. Zusätzlich verweisen die Namen von Häusern und Straßen auf die Passion, ihre Orte, Figuren und vergangenen Größen: Am Kreuzweg, Dedlerstraße, Judasgasse, Pater-Rosner-Straße … Sogar eine Kaspar-Schisler-Gasse gibt es. Benannt nach dem Mann, der vermeintlich die Pest nach Oberammergau brachte und schließlich das Passionsspiel initiiert haben soll. Das Kunsthandwerkerzentrum ist im Pilatushaus untergebracht, das Schwimmbad findet man im „Himmelreich“ … Eine Runde über den Friedhof ist wie eine Reise durch vergangene Passionen. Hier sind sie alle versammelt, die Daisenbergers, die Zwinks, die Langs, die Stückls, die Rutzens, die Preisingers und viele mehr. All die Namen, die die Spiele über die Jahrhunderte prägten: Spielleiter, Darsteller, Musiker. Es fühlt sich an, als würde man alte Bekannte besuchen, auch wenn man ihnen zu Lebzeiten nie begegnet ist. In der Pfarrkirche St. Peter und Paul mitten auf dem Friedhof hängt bis heute im rechten Seitenaltar das Kreuz, vor dem die Dorfbewohner 1633 ihr Gelübde gesprochen und sich verpflichtet haben, fortan alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen. Die Jahrhunderte sieht man ihm nicht an. Hier gibt man acht auf seine Historie.

Die Spielwütigen

Wo ihre Vorfahren im 17. Jahrhundert an einen Gott glaubten, der sie vor Unheil beschützen kann, ist über die Jahrhunderte das Theater selbst zu etwas geworden, an das hier (fast) alle glauben. Egal, welcher Religion sie angehören oder an was sie sonst so glauben. Für die einen steht nach wie vor die religiöse Pflicht im Vordergrund, für andere das Gemeinschaftserlebnis und die Tradition, für wieder andere die Kunst – und für nicht wenige eine Mischung aus all diesen Aspekten. Für alle hier aber ist das Theater einfach ein Teil ihres Lebens, über den zwar mitunter heftig gestritten wird, der aber in seiner Notwendigkeit nie infrage gestellt wird.

Darin unterscheidet sich Oberammergau grundlegend von anderen Dörfern und auch Städten: Hier prägt das Theater die Menschen. Nicht nur eine Elite, sondern alle. Man kommt einfach nicht drum herum. Jeder Spielberechtigte, jedes Kind im Ort bekommt eine Einladung, an den Spielen teilzunehmen. Die Aufforderung, Theater zu spielen, ist selbstverständlicher Teil des Aufwachsens in Oberammergau. Man muss sich eher aktiv dagegen entscheiden als dafür. Das Passionsspiel ist Bestandteil des Dorflebens und des Dorftratsches. Es zwingt alle, die hier wohnen, sich mit künstlerischen Fragen – und miteinander – auseinanderzusetzen. Oder, wie Rochus Rückel, einer der Jesus-Darsteller 2022, sagt: „Generell ist die Passion immer Thema, es vergeht garantiert kein Tag in Oberammergau, wo nicht irgendwie irgendwo zehnmal über die Passion gesprochen wird.“ Wenn in einer Schulklasse oder einer Clique fast alle mitmachen, hat das eine Sogwirkung auf die Übrigen. Im Wirtshaus wird über dramaturgische Fragen diskutiert wie anderswo über Politik. Dieses Theater verlangt ihnen einiges ab, hat dem Ort aber gleichzeitig zu internationaler Bekanntheit und Wohlstand verholfen. Egal, wie erbittert da auch mal gestritten wird: Hier würde niemand infrage stellen, dass ­Theater relevant ist.

Und das, obwohl die Grundkonstanten erst mal so gar nicht brisant klingen: nur alle zehn Jahre, uralte Rituale, immer dieselbe jahrtausendealte Geschichte, religiöse Thematik, keine internationalen Stars, sondern ­Laien. Trotzdem oder gerade deswegen ist das Interesse der Bevölkerung (und der Besucher aus aller Welt) ungebrochen, es nimmt eher zu als ab. Josef Georg Ziegler schrieb in seinem Bericht über die Spiele 1990: „Die Faszination des Oberammergauer Passionsspieles rührt daher, dass es ihm gelang, ein Spiel vom Volk für das Volk zu bleiben. Das ganze Dorf betrachtet es als seine Angelegenheit und ist stolz darauf.“ (Josef Georg Ziegler: „Das Oberammergauer Passionsspiel“, 1990).

Für den Spielleiter liegt die Herausforderung nicht darin, die Menschen zum Mitmachen zu motivieren, sondern darin, die vielen Spielwütigen auf der Bühne unterzubringen. Denn eigentlich sind es viel zu viele, das sagt Christian Stückl immer wieder. Oder zumindest: deutlich mehr als nötig. Das Volk tritt in Schichten an, für alle gleichzeitig ist schlicht kein Platz auf der Bühne. Hier und da muss auch eine zusätzliche Volksszene erfunden werden, damit alle zu ihrem Recht kommen. Nein: Nachwuchsprobleme gibt es definitiv nicht, die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner macht auf oder hinter der Bühne mit. Während Theater fast überall eine Veranstaltung von wenigen für wenige ist, eine Nischenveranstaltung, ist es hier etwas, an dem (fast) alle teilhaben können – und wollen. Das Spiel hat in diesem Ort eine gesellschaftliche Relevanz, von der Stadt- und Staatstheater nur träumen können. Diese kämpfen landauf, landab um Aufmerksamkeit und versuchen, die Menschen durch Beteiligung zur Begeisterung zu verführen. In Ober­ammergau dagegen ist das Theater seit dem 17. Jahrhundert ­positiv besetzt. Das gemeinsame Spielen wurde für die Vorfahren zum Lebensretter, für die Nachkommenden zum Gemeinschaftsprojekt und Wirtschaftsfaktor.

Nein: Oberammergau ist kein ganz normaler Ort im bayerischen Voralpenland. Oberammergau ist Theaterort durch und durch. //

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