Theater der Zeit

Auftritt

Theater Dortmund: Marx das Theater – Marx es! Marx es! Marx es ab!

„Das Kapital: Das Musical“ von Nick Ronjun Yu in einer Fassung für die deutsche Theaterrealität von Kieran Joel, Marie Senf und Ensemble – Regie Kieran Joel, Musikalische Leitung und Songs Leonardo Mockridge, Bühne Justus Saretz, Kostüme Tanja Maderner, Choreografie Lisandra Bardél

von Stefan Keim

Assoziationen: Musiktheater Debatte Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Julia Wissert Kieran Joel Theater Dortmund

Das Musical als Gegenangriff in Dortmund: „Das Kapital: Das Musical“ in der Regie von Kieran Joel. Foto Birgit Hupfeld
Das Musical als Gegenangriff in Dortmund: „Das Kapital: Das Musical“ in der Regie von Kieran JoelFoto: Birgit Hupfeld

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Es hat schon verrücktere Ideen gegeben als aus dem „Kapital“ von Karl Marx ein Musical zu machen. Aber nicht so viele. Der chinesische Dramatiker Nick Ronjun Yu hat es getan und erzählt mit bissigem Humor davon, wie die ja eigentlich kommunistisch regierte chinesische Gesellschaft von kapitalistischen Ideen unterwandert wird. Eine Ahnung davon ist noch in der deutschsprachigen Erstaufführung zu spüren, wenn die Schauspielerin Marlena Keil zu Beginn Ausschnitte aus dem Originaltext von Karl Marx liest. Da geht es darum, wie die Strukturen einer kapitalistischen Gesellschaft das Leben und Denken der Menschen bestimmen. Zum Teil ohne, dass sie es bemerken.

Doch dann löst sich das Dortmunder Ensemble vom Stück, überträgt aber die Grundidee auf die eigene Situation. Seitdem Julia Wissert Intendantin ist, gibt es heftige Kritik. Zu einseitig sei das Programm, das bürgerliche Publikum bleibt weg, überhaupt sind die Quoten zu niedrig. Fast die gesamte Dramaturgie ist schon wieder weg, auch im Ensemble gibt es starke Fluktuationen. In diesen Wochen wird über eine Vertragsverlängerung entschieden.

Und nun geht das Schauspiel zum Gegenangriff über. Nach einer schmissigen Shownummer in der Kulisse einer Einkaufsgalerie – es handelt sich wirklich um ein Musical – bricht der neu ins Ensemble gekommene Lukas Beeler die Aufführung ab. Die anderen sind entsetzt, wollen ihn von der Bühne bugsieren, er wehrt sich temperamentvoll und kämpferisch. Beeler will „geiles Theater“ machen, mit Stars auf der Bühne, toller Technik, nicht so ein Billigmusical mit den beschränkten Mitteln eines Stadttheaters. Das Ensemble diskutiert, benutzt die eigenen Namen, benennt schonungslos alles, was in letzter Zeit schiefgelaufen ist. Und auch das, was von Medien unterstellt wurde.

Antje Prust spielt mit Schnurrbart und im schwarzen Herrenanzug die Intendantin Frau Kunstmann. Eine liebevolle, aber auch scharfe Parodie auf Julia Wissert, die sich sehr für queere Theaterformen interessiert. Sie versucht, den Schauspieler mit Argumenten zu überzeugen.  „Ich hör’ dich“, sagt sie einmal, aber das klingt hohl, sie will ihn nur dazu bringen, endlich die Show weiterzuspielen. Ein kraftvolles Statement, denn Julia Wissert wurde einige Male autoritäres Verhalten vorgeworfen. Immerhin scheint sie so viel Humor und Selbstironie zu haben, dass sie diese Persiflage zulässt.

Überhaupt wirkt das Ensemble an diesem Abend befreit. Lukas Beeler – der hier den fiktiven, gerade frisch in Dortmund engagierten Lukas Beeler spielt – startet eine kapitalistische Aktion. Er probiert den Finanzmarkt aus, wie ihn Karl Marx zutreffend beschrieben hat. Erst sammelt er Geld von lokalen Sponsoren ein und erfüllt mit Freuden ihre seltsamen Forderungen. Sei es ein Abendessen mit der Akteurin Marlena Keil oder ein völlig beklopptes Festival, in dem die zehn Lieblingsstücke des Publikums an einem Abend gespielt werden. Mit explosiver Spielfreude zeigt das tolle Ensemble ein wildes Mash-Up aus „Faust“, „Maria Stuart“, „Woyzeck“, „Dantons Tod“ und vielen anderen Stücken.

Nach einigen weiteren Volten – von denen manche etwas zu viel sind wie eine nicht so dolle Schlagernummer – schmeißt der inzwischen zum Kulturunternehmer avancierte Lukas Beeler alle Kolleg:innen raus. Es gibt bald keine Aufführungen mehr, das Publikum kommt nur noch ins Theater, um exaltiert zu klatschen. Wenn der Applaus eine bestimmte Lautstärke erreicht, ist der Abend ein Erfolg und die Börsen jubeln. Marx das Theater! Marx es! Marx es! Marx es ab! Nur Ex-Intendantin Frau Kunstmann vergießt einige Herzenstränen und klammert sich an den roten Vorhang. Dann tritt Antje Prust aus ihrer Rolle heraus und beschreibt ihren Konflikt. Eine politische Schauspielerin sei sie, nun werde sie zum Musicalmäuschen, aber verdammt nochmal, das Singen und Tanzen macht schon Spaß.

Der Abend endet offen, aber hier liegt der Impuls zur Wiederbelebung des Theaters. Ja, man kann die Kunstform des Musicals kapern, um kritische Inhalte rüberzubringen. Ja, man kann auch über komplexe und schmerzhafte Themen sinnlich erzählen. Ja, man darf sogar lachen. Und singen und tanzen. Und man kann aus dem „Kapital“ wirklich ein Musical machen. Das Schauspielhaus war endlich mal wieder voll, der Jubel gewaltig. Ein perfektes Timing für die anstehende Entscheidung, ob Julia Wissert verlängert wird. Egal, wie das ausgeht, es bleibt die Frage, nach welchen Kriterien eigentlich der Erfolg eines Theaters gemessen wird. Der Abend stellt sich dem Kernproblem, wie Kunst im Kapitalismus funktionieren kann, hat eine sehr ernste Grundlage – und verbreitet dennoch Freude. So kann’s weitergehen.

Erschienen am 11.9.2023

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