Theater der Zeit

Protagonisten

Im Nervenzentrum

von Dorte Lena Eilers, Daniel Ott und Manos Tsangaris

Erschienen in: Theater der Zeit: Frau Kulturstaatsministerin Grütters – greifen Sie ein!? (05/2016)

Assoziationen: Akteure

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Manos Tsangaris, Daniel Ott, der Münchener Biennale wurde oft vorgeworfen, weltfremd zu sein, sich nur für innermusikalische Vorgänge zu interessieren. Was halten Sie mit Ihrer Neuversion der Biennale dagegen?
Daniel Ott: Das eine tun, das andere nicht lassen. Wir kommen aus der Tradition des neuen Musiktheaters, die ich nicht missen möchte. Gleichzeitig habe ich einen großen Wunsch nach Welthaltigkeit. Jedoch ist nicht das, was nach Welthaltigkeit aussieht, automatisch welthaltig und umgekehrt. Es kommt auf ein dialektisches Verhältnis an, das entsteht, wenn etwa in einer strengen Form Abgründe auftauchen oder in der Soap-Opera eine formale Strenge wie beim Sprechtheater des Nature Theatre of Oklahoma.
Manos Tsangaris: Gerade heutzutage, wo uns die Medienrealität überschüttet mit Kompositionen, wo jeder Clip, jede Kleinigkeit, die uns als Information verkauft wird, schon so fein abgeschmeckt ist, finde ich es gut, wenn es direkte Verweise zu dem gibt, was wir als Welt annehmen. Dabei ist es aber genauso wichtig, gerade als Musiker, zu versuchen, die formalen Verschlüsselungen und die Nervenzentren der Grammatik unserer öffentlichen Kommunikation aufzusuchen. Das halte ich sogar für bitter notwendig.

Das ist ein sehr weit gefasster Begriff von Komposition.
Ott:
Ja, für einen Komponisten ist alles Komposition. So wie Beuys sagte, alles ist Plastik.
Tsangaris:
Das ist von Novalis geklaut, über den Umweg von Rudolf Steiner. „Musik, Plastik und Poesie sind Synonymen.“ Da geht es nicht mehr darum, wie diese Tasse klingt und ob du sie gesehen hast, als ich sie über den Tisch geschoben habe. Es geht um die Frage, welche Motivation, welches Motiv, musikalisch gesprochen, dann im Spiel ist. Es geht darum, die Bedingungen der Komposition, der Aufführung, der öffentlichen Kommunikation zu untersuchen, und das auf eine spielerische Art.

Welche Inszenierungen auf der Biennale folgen diesem Gedanken?
Ott:
In fast allen Stoffen sehe ich beides. Formalisierung und Welthaltigkeit. Ich greife jetzt mal „Speere Stein Klavier“ heraus. Hier haben sich die Dramaturgin Elisabeth Tropper, der Regisseur Christian Grammel und der Komponist Genoël von Lilienstern zusammengetan, um die Geschichte Münchens von 1933 bis 1945 zu untersuchen. Das klingt nach einem alten Stoff, gleichzeitig ist diese Zeit in München über die Architektur allgegenwärtig. Auch geht es um die Musik aus dieser Zeit. Wobei die Auseinandersetzung spielerisch erfolgt, auf der transformierten Ebene des Kinderspiels „Schere, Stein, Papier“, bei dem sich plötzlich Abgründe auftun können. Die Frage ist: Was prägt unser Heute?

Eine Relektüre der Stadtarchitektur …
Tsangaris:
… Architektur und kulturelle Praxis. Also Brezel und Hakenkreuz.

Wobei es bei einer solchen klangsoziologischen Untersuchung doch auch interessant sein müsste, dass vor dem Münchner Rathaus jeden Montag Pegida-Anhänger stehen, um den Platz in einer auf zwei Jahre genehmigten Demo mit Muezzin-Rufen zu beschallen.
Tsangaris:
Der Titel unserer ersten Biennale „OmU: Original mit Untertiteln“ kommt recht abstrakt daher, wir wollen nicht mit einer aktualisierenden Schnappatmung auf das reagieren, was gerade passiert. Das machen meines Erachtens eine ganze Menge Leute. Ich denke, dass die Untersuchung der Grammatik, also des Regelwerks der Kommunikation, das Politischste ist, was wir machen können. Wir alle sind einigermaßen geliefert, was die Tentakeln der Kommunikationspraxis angeht. Das ist etwas, wo viel zu wenig auf Strukturen eingegangen wird. Nehmen wir als Beispiel meine beiden Heimatstädte Dresden und Köln. Wenn ich sage „Dresden“, denken alle das eine, wenn ich sage „Köln“, denken alle das andere. Da existiert ein System, das unser Bewusstsein infiltriert, eine Gleichschaltung. Wie funktioniert so eine Gleichschaltung in einer angeblich diversifizierten Gesellschaft, in einer Vielfalt, die aber gar nicht mehr wirklich herauszulesen ist? Da läuft ganz viel über Quantifizierung – welche Nachrichtenportale werden wie oft angeklickt und warum? Und anhand dieser Klicks können Werbeeinheiten verkauft werden. Das ist banal, aber so funktioniert es. Diese Vermischung von Boulevard und angeblicher Information halte ich für hochgefährlich. Komposition kann dies analysieren, wahrnehmbar machen.

Bei Hans Werner Henze, der die Biennale 1988 gründete, schlug die Realität mitunter recht deutlich zu. Die Uraufführung seines Che-Guevara-Requiems „Das Floß der Medusa“ wurde 1968 von der Polizei niedergeknüppelt, nachdem es tumultartige Szenen zwischen Studenten und Veranstaltern gegeben hatte. Kann Musiktheater heute noch polarisieren, gar provozieren?
Tsangaris:
Na ja, Provokation – was heißt das heute? Was hieß es zu Henzes Zeiten, wo, wenn mal ein nackter Busen zu sehen war, die Bild-Zeitung und die Polizei gleichzeitig auf der Matte standen? Wir sind heute in einer viel komplizierteren Situation. Einerseits hört die Dumpfheit nicht auf, Dinge kommen aus dem Gully wieder hoch. Andererseits leben wir in einer Situation, in der wir die Vielzahl der Sprachen, Konnotationen und Bewegungen mit viel feineren Instrumenten betrachten und justieren müssen. Das Problem ist nur: Die Konfiguration der Oper ist nach wie vor schlicht zu eng. Die Beherrschung in den Kommunen, die Beherrschung durch die Lockenwickler-Fraktion nach dem Motto „Wir wollen unser Musiktheater wiedererkennen“, worunter sie dann nur ein paar Repertoirestücke verstehen. Das ist eine inhaltliche und künstlerische Aushöhlung, gegen die wir arbeiten müssen.
Ott: Auch dieses Wort Dreispartenhaus. Was heißt das denn? Das Interessanteste passiert aus meiner Sicht sowieso an den Rändern, zum Beispiel an der Berliner Volksbühne, da finde ich Oper wieder spannend, wenn man sie so weit fassen kann.
Tsangaris:
Wobei ich es für unser Festival wiederum auch wichtig finde, auf eine bestimmte Tradition der kompositorischen Praxis zu pochen. Wir sind sozusagen scharf auf die Kriterien, die die Musik fürs Theater liefern könnte.
Ott:
Wir haben das Musiktheater als Ganzes im Blick. Von 15 Produktionen im Programm haben nur vier etwas mit einem Theater/ Opernhaus zu tun. Es gibt auch Aktionen im öffentlichen Raum, zum Beispiel unsere Volksoper, die wir mit der Volkshochschule zusammen machen. Trachtengruppen, Fotografiegruppen, Kanufahrer sollen partizipieren, das ist große Oper oder eben Volksoper. Ich wehre mich auch gegen die Idee „Wir müssen erst mal was zertrümmern, dieses verkrustete Opernhaus aufbrechen“. Warum? Es gibt andere Produktionsmöglichkeiten, in der freien Szene etwa. Vorgefertigte Gefäße haben mich von Anfang meines Schaffens an gestört. Das Erfinden von Formaten finde ich viel interessanter.
Tsangaris:
Ich stimme Ihnen, Herr Ott, hundertprozentig zu. Aber die Ressourcen sind einfach nicht korrekt verteilt.

Die Stadt München hat den Etat der Biennale zumindest ein wenig aufgestockt.
Ott:
Ja, für unsere internationalen Plattformen, bei denen Biennale-Produktionen entwickelt werden.
Tsangaris: Und zwar nicht nach dem üblichen Schema: Auftraggeber findet einen zumeist männlichen Komponisten, beauftragt ihn mit einem Stück und sucht noch einen Librettisten und ein Ausstattungsteam dazu. – Wir wollten von Anfang an junge Kunstschaffende aus unterschiedlichen Gewerken zusammenbringen, und das auf Augenhöhe.
Ott: Auch unser Kuratorenteam von neun Leuten setzt sich aus den unterschiedlichsten Gewerken zusammen. Die Plattformen sind international …
Tsangaris:
… München, Bern, Buenos Aires, Beijing, Athen, Hongkong …
Ott: … man hat die Chance festzustellen, dass am anderen Ende der Welt vielleicht jemand sitzt, der ganz ähnliche künstlerische Fragestellungen verfolgt wie man selbst. Zudem wirken die Plattformen wie Multiplikatoren für Projekte, die auch jenseits der Biennale in den Ländern weiterverfolgt werden. Wir wollen keine Kolonisatoren sein. Wirklich welthaltig sein bedeutet eben auch andere Kulturen mit einzubeziehen.

Wie schwer ist es, sich selbst als Komponist zurückzunehmen?
Tsangaris: Wir haben beide das Glück, gut zu tun zu haben. Zudem haben wir Erfahrung im Organisieren und Produzieren. Wenn man die Neigung zum Klassensprecher hat, hört das nicht auf. Ich habe, als in meiner Heimatstadt die Schülerunion auftauchte, die Schülerinitiative in der Schule gegründet …
Ott: … ich habe eine Hausbesetzung organisiert …
Tsangaris: … genau, und jetzt werden wir ein Opernhaus besetzen …

Die nötige Macht der Straße sammeln Sie ja schon in der Volksoper. Wobei der Begriff der Partizipation, den Sie in diesem Zusammenhang verwenden, auch systemstabilisierend gelesen werden kann: Wir fassen uns alle an den Händen und sind friedlich.
Tsangaris:
Teller bunte Knete, genau. Es gibt immer wieder solche Begriffe. Früher war es, gerade in unserem Bereich, Vermittlung. Das beinhaltet ja schon einen bestimmten Grad von Diskriminierung …
Ott: … wie schwer vermittelbar …
Tsangaris: … irgend so ein Hund, der im Tierheim nicht mehr genommen wird. Und jetzt ist es eben Partizipation. Wobei es in Bezug auf die Rezeption auch ein ganz wichtiger Aspekt ist: Wo positioniere ich den Rezipienten in einem Stück, so dass ihm klar wird, welche Rolle er in diesem Fließsystem spielt. Das ist eine Form der Partizipation, die natürlich viel sublimer ist, letztlich aber gründlicher und weitreichender funktioniert als irgendwelche äußerlich adaptierten Dinge.

Diese sublime Art der Partizipation zeigt sich auch in Ihren eigenen Arbeiten. Bei Ihnen, Manos Tsangaris, können sich die Zuschauer mitunter in den Räumen bewegen, Daniel Ott, Sie sind Experte für Landschaftskompositionen. Wie würden Sie den Glutkern Ihres Komponierens beschreiben?
Ott:
Der springende Punkt ist – das wird zwar jeder Komponist so sagen – immer wieder bei Null anzufangen, es ist nichts gegeben, es gibt lediglich ein Stichwort, ein Ausgangspunkt, und alles andere folgt daraus. Es gibt eben nicht den Apparat oder die Guckkastenbühne. Es gibt eine Landschaft, die bei der Biennale der Münchner Stadtraum ist. Sobald ich in den öffentlichen Raum gehe, ist nicht mehr klar, was hier die Bühne ist. Gibt es einen Guckkasten? Versuche ich den Guckkasten zu definieren? Die Bühne kann dreidimensional, sie kann um den Zuschauer herum sein. Bei „Staring at the Bin“, Manos nennt es homöopathischen Flashmob, unser Untergrundprojekt, ist am allerwenigsten definiert, wo die Bühne ist. Wir wissen nicht, wo es plötzlich auftaucht und werden wahrscheinlich auch erst nach der Biennale wissen, ah, hier war mal für ein paar Sekunden Bühne.

Warum homöopathisch?
Tsangaris:
Weil es etwas Minimalistisches hat, etwas von Globulus. – Ich habe überhaupt erst angefangen Stücke zu schreiben, weil es damals schon ein ganz konkreter Reflex auf Massenmedien gewesen ist: die Lautsprecherpräsenz in der Musik, die absolute Musik, die sich so weit abgelöst hat, dass man die Musiker nicht mehr braucht, man braucht nur noch die Beschallung. Das Schlüsselerlebnis für mich war, die Rezeptionsrichtung umzudrehen. Mein Ausgangsstück ist ein Stück für eine Person im Publikum. Wie in der Küche, wo man die Nähen und Distanzen sehr genau justieren kann, auch physisch, auch körperlich. Ich habe dann nie mehr Stücke für nur eine Person geschrieben, es mussten zwei, besser noch drei sein. Ich nenne es zum Spaß „Szenische Anthropologie“, also die Frage, was passiert in unserem Wahrnehmungssystem, wie lässt sich der Mensch als Schnittstelle, als der eigentliche Ort der Komposition mit einbeziehen, so das sich mindestens ein Dreieck ergibt zwischen dem Notat, dem plastischen Ereignis im Raum und dem Mensch, der diese Sachen zusammenführt und differenziert.//

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