Auftritt
Deutsches Theater Berlin: Ein Plädoyer für den Stillstand
„Herz aus Polyester“ von Sarah Calörtscher – Regie Daniel Foerster, Ausstattung Robert Sievert, Musik Jan Preißler
von Rebecca Preuß
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Sarah Calörtscher Deutsches Theater (Berlin)
„There is no Planet B“, predigt Fridays for Future seit 2018. Wenn wir als Menschheit überleben wollen, müssen wir sorgsam mit unserem Planeten umgehen, Weitsicht beweisen, nachhaltig denken. Aber ist das so? Die Erdlinge haben die Erde in eine nahezu unbewohnbare Wüste aus Plastikmüll verwandelt. In ihrem Blut fließt Mikroplastik. Die Plastifizierung droht, allmählich die gesamte Bevölkerung auszulöschen. Letzter Ausweg: Flucht nach oben.
Die Box-Bühne im Deutschen Theater wird von einem Gitter aus LED-Stäben umspannt. Die drei Erdlinge Leon Rüttinger, Svenja Liesau und Peter René Lüdicke finden sich im sinnbildlichen Herz des Algorithmus wieder. Sie tragen Raumanzüge, Schläuche um die Taille, daran befestigt sind Sender. Ihnen gemein ist ein Ziel: Teil der multiplanetaren Gesellschaft werden, die die sogenannten Protagonisten auf dem Mars gegründet haben. Daria von Loewenich verleiht dem Algorithmus, der über die Eignung der Erdlinge für die Marskolonie entscheidet, eine Stimme und einen Charakter. Später sogar einen Körper und ein haptisches Herz, an dem sich die Erdlinge laben. Alles sehr grotesk.
Im Fragenhagel des Algorithmus stürzen die Erdlinge zwischen den rot leuchtenden Stäben von Seite zu Seite. Sie krallen sich an ihnen fest, als könnten sie dieser ungreifbaren Macht so näherkommen. Aufeinander treffen ein doktorierter Besserwisser, eine vermögende Influencerin, die ihre Instagram-Community über ihre Investitionen abstimmen lässt, und ein älterer Mann, der der Umsiedelung noch skeptisch gegenübersteht.
In ihrer Verzweiflung sind sie gleichermaßen Leidensgemeinschaft wie Konkurrenz. Alles dreht sich um eine Frage: Wer hat es verdient, in die multiplanetare Gesellschaft aufgenommen zu werden. „Was unterscheidet dich von den anderen hier“, fragt der Algorithmus die Erdlinge. „Lebenserfahrung.“ „Kapital.“ „Mein Wissen.“ Erdling Zwei hat in einen Solarbikini investiert, den Drei mitentwickelt hat. „lookingforSOLARBIKINI“ Wie bitte? Den Menschen stehen alle Möglichkeiten offen und sie entscheiden sich hierfür? Langsam wird verständlich, wieso sich das Universum für einen kosmischen Reset der Erde entschieden hat.
Die Zeit, in der Science-Fiction nur ins Kino gehört hat, ist vorbei. Wummernde Bässe mischen sich mit Computersounds und fließen weiter in die Körper der Erdlinge. Die zittern und zappeln zu den Befehlen des Algorithmus, zucken zusammen wie vom Blitz getroffen. Sarah Calörtschers Stücktext, für den sie mit dem Kleist-Förderpreis 2024 ausgezeichnet wurde, könnte kaum besser aufgehen als in diesem Ensemble. Rüttinger, Liesau und Lüdicke harmonieren in ihrem Spiel ausgezeichnet. Dem schnellen Wortwechsel zwischen dem Algorithmus und den drei Erdlingen folgen die Augen des Publikums wie einem Tennisspiel.
Ein Highlight des Abends ist die Performance von Peter René Lüdicke als der die Feuerkugel reitende Urzwerg, eine weitere skurrile Idee des Stücks. Bekleidet mit einem roten Fransenmantel und einer blonden Langhaarperücke schiebt er einen prall gefüllten Einkaufswagen auf die Bühne. Im Gepäck hat er neben Spielzeug-Saxofon, Fußball und Plastikbechern – „Polyethylen, Polyprobylen, Polyethylenterephtalat …“ – den Kern der Uraufführung:
„Ist es die Natur der Dinge, sich immer weiterzuentwickeln? Wie wäre es, wenn wir alle mal entscheiden, zu schrumpfen?“, möchte der Urzwerg wissen. Die Menschen streben immerfort nach Wachstum, Evolution und Expansion, aber irgendwann ist damit Schluss. Charmant komisch mimt Lüdicke die Figur in bester Rumpelstilzchen-Manier. „Vielleicht ist der Stillstand ein notwendiger Zwischenschritt vor dem Schrumpfen.“
Die Botschaft ist nicht neu, ihre Ausgestaltung ist es allemal. Sarah Calörtscher hat eine Spielwiese für digitales Erzählen auf der Theaterbühne geschaffen, wie wir es in Zukunft immer häufiger sehen werden. Zum Schlussapplaus der Premiere verbeugt sich auch die Autorin. Sie trägt den gleichen grau-weiß gestreiften Oversized-Blazer wie Daria von Loewenich als der Algorithmus.
Erschienen am 1.10.2024