Theater der Zeit

Seitenblick

Wachrütteln

Tim Sandweg und Rebecca Gonter im Gespräch über Nachhaltigkeit im Figurentheater

Spätestens seit Fridays for Future setzen sich immer mehr Künstler*innen des Figuren- und Objekttheaters mit den drängenden ökologischen Problemen auseinander. Das Nürnberger Theater Salz+Pfeffer und das Produktionshaus Schaubude Berlin haben sich im vergangenen Jahr zusammengetan, um den Austausch zum Thema Nachhaltigkeit szeneintern zu stärken – unter anderem mit dem Online-Stammtisch „Puppets for Future“. Für double sprechen Rebecca Gonter, Nachhaltigkeitsbeauftragte am Theater Salz+Pfeffer, und Tim Sandweg, Künstlerischer Leiter der Schaubude Berlin, über die Dimensionen von Nachhaltigkeit, die Suche nach Vernetzung und die Vorbildfunktion von Theater.

von Rebecca Gonter und Tim Sandweg

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Bayern Berlin Puppen-, Figuren- & Objekttheater Schaubude Berlin Theater Salz und Pfeffer

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Tim Sandweg: Mich würde zu Beginn interessieren, wie ihr es geschafft habt, das Thema Nachhaltigkeit im Team zu verankern und in euerm Betrieb zu institutionalisieren – bis zur Zertifizierung nach der Gemeinwohlökonomie.

Rebecca Gonter: Dass Wally Schmidt und Paul Schmidt das Thema Nachhaltigkeit erfolgreich ins Team tragen konnten, liegt sicherlich daran, dass sie es als Theaterleitung vorleben und einfordern. Das fing früh an: Bereits 2012 beim Umbau des Theaters haben sie großen Wert auf die Umsetzung von ökologischen Maßnahmen gelegt, und lange bevor ich ins Team gekommen bin, hatten sie entschieden, dass im Theater Salz+Pfeffer nur vegetarisch gegessen wird – auch wegen der CO2-Emissionen. Später haben wir dann an der Theatertheke komplett auf ökologisch-regionale Getränke in Pfandflaschen umgestellt. Diese ersten Schritte waren intuitiv; vor drei Jahren wurde der Wunsch stärker herauszufinden, wo wir stehen und wo weitere Potenziale liegen. Außerdem wollten wir, wenn uns das Thema Nachhaltigkeit intern so wichtig ist, dies auch nach außen transparent mit einem Zertifikat zeigen. Bei der Recherche nach Zertifizierungsmöglichkeiten sind wir auf die Gemeinwohlökonomie gestoßen, deren ganzheitlicher Ansatz uns überzeugt hat: Es geht nicht nur um die Ökologie, sondern auch um das Soziale und die Ökonomie. Damit konnten wir uns identifizieren.

Kannst du etwas genauer beschreiben, nach welchen Kriterien die Zertifizierung erfolgt?

In dem Prozess werden fünf Berührungsgruppen – das sind die Lieferant*innen, Finanzpartner*innen und Eigentümer*innen, Mitarbeitende, Kund*innen und Mitunternehmen sowie das soziale Umfeld – nach vier Kriterien begutachtet: Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Ökologie, Transparenz und Mitentscheidung. Die Bewertung in diesen 20 Unterpunkten führt zu einer Punktzahl von -1000 bis +1000; wenn man bei der Null landet, hat man die gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Die Idee ist, Verbraucher*innen anhand dieser Punktzahl eine transparente Grundlage für ihre Kaufentscheidung zu schaffen.

Ich nehme an vielen Figurentheatern einen Respekt vor der Vielschichtigkeit des Themas Nachhaltigkeit wahr – das spielt auch in unserer Auseinandersetzung an der Schaubude Berlin eine Rolle. Ich finde es sehr ermutigend von dir zu hören, mit welch kleinen Schritten ihr angefangen habt und wie unkoordiniert das war. Natürlich ist es sinnvoll, die großen Baustellen, bei denen man sehr viel CO2 einsparen kann, zu identifizieren – aber das sind meistens Prozesse, deren Umsetzung sehr lange dauern, weil man von Vermieter*innen oder Geldgeber*innen abhängig ist. Da finde ich die Energie, die entsteht, wenn Dinge beeinflussbar sind, sehr wichtig.

Gerade diese ersten Maßnahmen kann man ja relativ einfach umsetzen und man hat schnell Erfolgserlebnisse.

Ihr habt als erstes Theater die Bilanzierung nach der Gemeinwohlökonomie durchlaufen. Dadurch nehmt ihr ja eine Vorreiterrinnenrolle ein.

Diese Rolle anzuerkennen war ein Prozess, der erst im letzten halben Jahr der Bilanzierung stattgefunden hat. Im Juli 2021 waren wir in Klausur. Die Einrichtung bei Rothenburg, in der wir übernachtet haben, machte auch eine Gemeinwohlbilanz. Sie hatten gerade erst angefangen, aber bereits mehrere Artikel darüber in der Presse, dass sie sich bilanzieren lassen, wo sie aktuell stehen und dass sie die ersten in der Region seien. Da haben wir uns gefragt, warum wir eigentlich noch nie mit der Presse gesprochen haben, obwohl wir das erste Theater sind, das sich damit befasst hat. Das war ein Impuls, mehr mit Leuten zu reden und mit dem Prozess rauszugehen – man kann eine Vorreiterinnenrolle ja schwer einnehmen, wenn man nicht darüber redet. Es ist sehr spannend, wer plötzlich auf uns zukommt und wo sich Türen öffnen. Wir wurden von einer Mitarbeiterin des Staatstheaters Nürnberg angeschrieben: Ihr seid ja total weit, wollen wir uns austauschen? Wir hatten unsere Vorreiterinnenrolle zunächst nur im Bereich Figurentheater gesehen, da war es spannend, dass sich auch Menschen aus der Region an uns wenden.

Vielleicht nehmen die kleineren freien Strukturen auch wieder eine Avantgarde-Stellung ein. Während große Theater nach wenigen Vorstellungen die Ausstattung verschrotten, gehen wir im Figurentheater sehr bewusst mit Material um, die Produktionen spielen sehr lange, alte Bühnen werden recycelt, es gibt Materialdepots in der freien Szene. Das hat natürlich durchaus auch eine Ambivalenz: Unsere Ausgangsressourcen sind ja ganz andere als in städtischen Institutionen.

Genau, unsere Boote sind zwar kleiner, dafür können wir aber wendiger agieren und uns schneller zu Wetteränderungen verhalten – das können die großen Tanker nicht. Wir waren dann im Staatstheater bei einer Nachhaltigkeitsveranstaltung zum Thema „Weltacker“ und daraus und aus Folge-Begegnungen entstand ein Stammtisch der Metropolregion, parallel dazu mit euch „Puppets for Future“ als bundesweites Genre-Netzwerk. Das ist sehr spannend, aber auch sehr zeitintensiv: Ich habe den Eindruck, es gibt noch sehr viel Bedarf an Gespräch und Austausch. So langsam geht es aber auch an die Frage nach Strukturen und Visionen. Hier in Nürnberg kam beispielsweise die Idee auf, ob es nicht sinnvoll wäre, ein Büro für Nachhaltigkeit für die Kultur zu gründen, das alle Häuser betreut, bevor alle ihre eigenen Nachhaltigkeitsbeauftragten einstellen.

Ich fand es interessant, welche Themen in unserem ersten Stammtisch „Puppets for Future“ aufkamen: Das ging von Geldanlage über das Touring bis hin zu der Frage, wie wir uns als Theaterschaffende an Protesten beteiligen können. Es ging aber auch um Diversität, Inklusion und soziale Aspekte. Da finde ich den Nachhaltigkeitsbegriff, der sich nicht nur auf die Ökologie bezieht, sehr hilfreich, um verschiedene Dimensionen nicht gegeneinander abzugrenzen, sondern sie miteinander zu denken. Um die Frage zu bearbeiten, wie wir unser Zusammenleben sichern wollen, müssen wir ja das Wechselspiel aus all diesen Faktoren betrachten: Wer sind wir als Menschen eigentlich in dieser Umwelt? Das ist dann auch wiederum ein Thema, das sich mit den Mitteln des Figurentheaters gut bearbeiten lässt. Hat sich bei euch durch den Prozess etwas in eurer Kunst geändert?

Es gab seit 2014 eine ganze Reihe von Produktionen, in die ökologische Fragen eingeflossen sind. Etwa „Mahlzeit“, wo bereits vegetarisch gekocht wurde, dann „Die Bienenkönigin“, wo der Umgang mit anderen Lebewesen und der Natur ein großes Thema ist, oder „Über(s)fischen“, einer Produktion auf dem Lastenfahrrad. Mittlerweile geht es aber auch um die anderen Dimensionen der Nachhaltigkeit: Bei unserem neusten Stück „Spuk in der Kuschelburg“ wollten wir, dass sich alle Kinder mit der Hauptfigur Mika identifizieren können, weswegen nie benannt wird, welches Geschlecht sie hat, und wir uns entschieden haben, ihr eine hellblaue Haut mit roten Punkten zu geben.

Für mich liegt eine große Chance in der Arbeit für junges Publikum und ich empfinde es als unsere gesellschaftliche Aufgabe, dass wir uns sehr genau Gedanken darüber machen, was wir Kindern erzählen. So wie in eurem Stück: Welche Rollenbilder leben wir vor? Welche Figuren zeigen wir, damit sich möglichst viele Kinder repräsentiert fühlen? Wie schaffen wir ein Bewusstsein für unterschiedliche Erfahrungshorizonte und dafür, dass diese Vielfalt eine Chance ist? Bei den jungen Menschen wird ja der Grundstein für eine zukünftige Gesellschaft gelegt.

Wir diskutieren bei uns viel über das Thema Vorbildfunktion. Beim letzten Stammtisch der Metropolregion gab es dazu zwei interessante Positionen. Eine Vertreterin vom Theater Erlangen meinte: „Kunst ist doch ein Spiegel der Gesellschaft. Wir können nicht besser sein, das funktioniert nicht.“ Da fiel mir ein interessantes Beispiel von Detlef Grooß vom Orchester des Wandels ein, das als Argument dagegensetzt: Als die Sicherheitsgurte in Autos eingeführt wurden, hat sie niemand angenommen – es hat ja vorher auch ohne funktioniert. Irgendwann wurde es aber Pflicht, dass sich in Filmen die Darsteller*innen anschnallen, wenn sie ins Auto steigen, und innerhalb eines Jahres haben sich alle angeschnallt. Mit Strafen hat es nicht funktioniert, aber wenn man es ständig sieht und es vorgemacht wird, dann macht man es automatisch auch. Vielleicht haben wir als Kunstschaffende also schon die Möglichkeit, wachzurütteln. Im Theater werden Fragen, die man vielleicht noch gar nicht hatte, beantwortet. Das möchte ich erreichen: Einen guten Zugang finden zu den Menschen, die vielleicht noch nicht auf dem Weg sind.

www.salzundpeffer-theater.de
www.schaubude.berlin

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