Akteure
„Weder Sonder- noch Einzelfall“
Das Geschichtstheater der Autorin und Regisseurin Carolin Millner
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: Tilda Swinton – Zwischen Bühne und Film (12/2025)
Assoziationen: Akteur:innen Anhaltisches Theater Dessau

Selten werden beim Einlass zu einem Theaterstück Taschen durchsucht. Am 9. Oktober in Halle/Saale empfangen Securitys das Publikum, denn an diesem Tag jährt sich der rechte Anschlag auf die Synagoge im Paulusviertel zum sechsten Mal. 52 Juden und Jüdinnen begingen Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, als der Täter vergeblich versuchte, mit Schusswaffen und Sprengsätzen in das Gebäude einzudringen. Daraufhin tötete er die Passantin Jana L. und griff den Kiez-Döner an, wo er Kevin S. erschoss. „Und nächsten Mittwoch?“, eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Tat und ihrer Folgen, lädt ein, von der Straße in das Schaufenster des Neuen Theaters zu treten und mit der Erinnerungsarbeit zu beginnen. Nur von einer Glaswand vom nächtlichen Treiben getrennt verdeutlicht der Spielort die Verletzlichkeit, die viele Menschen im öffentlichen Raum jeden Tag spüren.
Der Anschlag in Halle
Regisseurin und Autorin Carolin Millner hat sich in ihrer Laufbahn viele spannungsreiche Stoffe vorgenommen, aber selten liegen sie so nah wie die Tat in Halle. Die drei Schauspielerinnen Aline Bucher, Sybille Kreß und Elke Richter, die Aussagen von Überlebenden, jüdische Geschichte und zukünftiges Zusammenkommen diskutieren, sprechen aus der Position der Dominanzgesellschaft. Diese war nicht mit dem Anschlag gemeint, hat sich aber dennoch getroffen gefühlt. Ein Großteil, aber nicht alle Zuschauenden gehören ebenfalls zu den nicht-betroffenen Hallenser:innen und bringen eigene Erinnerungen und Deutungen des antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Anschlags mit in den Theatersaal, die von der Inszenierung ergänzt und hinterfragt werden. Nach dem Attentat zog sich eine Faszination für den Täter durch die Presse. Er sollte als fauliger Apfel aus der Gemeinschaft der ‚Erinnerungsweltmeister‘ ausgeschieden werden, als schreckliche Ausnahme des reflektierten Regelfalls.
Auch Halle habe sich nach dem Anschlag mehr um das Selbstbild gesorgt als um die Überlebenden, klagt eine Schauspielerin mit den Worten von Betroffenen an. Bei einer Gedenkveranstaltung habe die Stadt „Erinnerungstheater“ (Y. Michael Bodemann) gespielt, das der Dominanzgesellschaft vor allem Entlastung liefern soll – bloß keine Schuldzuweisungen, strukturelle Kritik oder Rachegefühle von Betroffenen. In diese Position lassen sich die Überlebenden jedoch nicht bringen: „Aber eines war ich nicht – überrascht. Ich war keine Sekunde lang überrascht. Für mich war Halle weder ein Sonder- noch ein Einzelfall“, wird auf der Bühne in den Worten einer Synagogenbesucherin klargestellt. Vom gegenwärtigen Anschlag springt die Inszenierung hundert Jahre zurück, um die Kontinuität des Antisemitismus zu zeigen. Ein Kaufhaus wird auf der kleinen Bühne aufgeklappt, die sich wie ein Polly-Pocket-Koffer immer wieder neu entfaltet, und das Publikum erhält einen Einblick in die Geschichte jüdischen Handels in der Stadt. Nur wenige Meter jenseits der Theaterbühne ragt eines der ehemals jüdischen Kaufhäuser in den Himmel, das von zwei Schwestern geführt und ab 1933 arisiert wurde.
Die historischen Schichten aus Enteignung und Gewalt spiegeln sich im Kostüm von Maylin Habig. Ihre Entwürfe schieben Schwarz-Weiß-Fotografien von Plattenbauten, Skulpturen an der Giebichensteinbrücke von Gerhard Marcks, dessen Werke später als ‚entartete Kunst‘ diffamiert wurden, und Touristenattraktionen der sachsen-anhaltinischen Stadt ineinander. Auch in „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ arbeiteten Bühnen- und Kostümbildnerin Maylin Habig und Millner gemeinsam an der Aufarbeitung deutscher Geschichte. Der Bauplan der Villa Cohn, die inzwischen nicht mehr existiert, zeichnet sich auch hier als Architektur der Vergangenheit auf den Kostümen ab. Am Theater Dessau machen sie mit Briefen von der Jüdin und Wohltäterin Julie von Cohn-Oppenheim und der Stadtkarte, die das arme jüdische Ghetto und ein bürgerliches Viertel unterschied, eine Topografie der Erinnerung begehbar.
Im Verbund mit Bühnen- und Kostümbildner Nils Wildegans arbeiten die drei als „Eleganz aus Reflex“ die neuere und fernere deutsch-deutsche Geschichte in dichten Textcollagen auf. Dabei halten sich theoretisch angereicherte Analysen die Waage mit Gesten des Alltags. „Wie schaffe ich das, in einer Alltagsszene, beim Kaffeetrinken oder Ankleiden, größere gesellschaftstheoretische Themen einzubinden?“, fragt sich Millner beim Inszenieren historischer Stoffe. In „Das blaue Halstuch“, einem autofiktionalen Musiktheaterstück von Klaus Wirbitzky über das Aufwachsen im geteilten Berlin, sind es die alltäglichen Handlungen – Neptun-Fest feiern, Orient-Zigaretten rauchen und heimlich RIAS hören –, die eine genaue Beobachtung des Vergangenen erlauben. „Ich versuche, die Stoffe in einer Alltagspoesie zu verhandeln, so dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich vorstellen können, diesen Raum mit uns zu teilen und an dieser Verhandlung teilzunehmen“, erklärt sie.
Techniken des epischen Theaters
Nie geht es in den Arbeiten Carolin Millners darum, ein heiles oder vollständiges Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Im Zusammenwirken von Ausstattung, Text und Spielweisen treten die Lücken hervor. Um genügend Distanz zu schaffen, bedient sie sich an Techniken des Epischen Theaters: „Wir spielen nicht einen Unfall nach, sondern es geht darum, dass die Spielenden die Abläufe zeigen. Dadurch entsteht Distanz“, erläutert sie. So wird das Publikum eingeladen, die eigene Denkweise und Erinnerung abzugleichen, ohne in ihr zu versinken. Einen ähnlichen Prozess durchläuft auch das Team, mit dem sie ihre anspruchsvollen Produktionen erarbeitet. Während der Probenzeit in Halle besuchte sie mit den Schauspielerinnen die angegriffene Synagoge und schaute „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ von Konrad Wolf, um sich Thema und Schauspieltechnik anzunähern. Der DEFA-Film verfolgt in ruhigem Takt die große Frage, welche Rolle Kunst für ihre Umwelt spielen sollte und wie sie an die Shoah erinnern kann. Millners Arbeiten über jüdische Geschichte vor und nach 1933 sind geprägt von dieser Problemstellung.
Je nachdem, wie viel Zeit verstrichen ist, variiert die Herangehensweise der Regisseurin. In Halle schien es ihr unmöglich, eine Erzählung über die vor sechs Jahren Ermordeten zu dichten, die das Stück zusammenhält. Mit 150 Jahren Abstand zur Biografie der Familie Cohn lässt sie sich größere Freiheiten und spinnt Handlungsbögen, die von Einschüben zur Gegenwart des Antisemitismus unterbrochen werden. Als Nicht-Jüdin sucht sie sich Hilfe bei Bildungsvereinen, der jüdischen Gemeinde vor Ort und Sensitivity Readings, um den richtigen Ton zu treffen. Dabei tun sich unerwartete Stolperfallen auf: „Manchmal macht man sich Gedanken um etwas, wo die Betroffenen denken, das ist eigentlich Pillepalle. Dann gibt es Sachen, die ich gar nicht auf dem Schirm habe. Z. B. wollte ich mal eine Sirene einbauen und mir wurde erzählt, dass das viele Israelis triggern würde.“Aus einem Millner-Abend tritt man nicht beschwingt in die Nacht. Für Unterhaltungstheater gibt es andere Anlaufstellen: „Bettina Wegner wurde mal gefragt, warum sie keine lustigen Lieder schreibt. Sie antwortete: ‚Wir leben im Zeitalter der Arbeitsteilung. Es gibt genug, die das tun.‘ Das denke ich zu meiner Theaterarbeit auch. Es gibt genügend Inszenierungen, die etwas ganz anderes machen. Ich fände es schön, durch die Distanz das Publikum zu berühren und zum Nachdenken zu bringen.“ Anzuerkennen, dass man in einer strukturell antisemitischen und rassistischen Welt lebt und das auch verinnerlicht hat, ist kein angenehmer Prozess. Millners Inszenierungen laden zur ideologiekritischen Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte ein. Für Ostalgie, Schlussstrichdebatten und Erinnerungstheater bleibt kein Platz auf der Bühne. Kritik versteht sie als Voraussetzung für eine zukünftige Gemeinschaft, die in Liedern und der musikalischen Begleitung von Florian Hein zeitweilig anklingen. So versammelt sich das Publikum zu Beginn von „Und nächsten Mittwoch?“ im Halbkreis auf der Straße und wird angeleitet, das Lieblingslied von Jana L. anzustimmen. In Halle steckt es schon im Titel, es gilt aber für alle Millner-Produktionen. Weder ihre künstlerische Arbeit noch die, die sie vom Publikum erwartet, ist mit einem Lied oder einer Aufführung abgeschlossen. Ihre Inszenierungen können der Anstoß sein, sich mit den eigenen Denkmustern, der Familien- und Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen, die uns tagtäglich umgibt. Erst wenn die eigene Schuld in die Erinnerung integriert ist, können gemeinsame Zukünfte denkbar werden.

















