Theater der Zeit

Magazin

Puppen der Mächtigen

Das 20. Internationale Theaterfestival Belaja Wescha im weißrussischen Brest. Ein Reisetagebuch

von Peter Krüger

Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)

Assoziationen: Europa Akteure

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Brest, 13.09.2015
Die Reisevorbereitungen waren kompliziert, das Visum erhielt ich erst gestern. Mein Theaterwahlprogramm ging mit einem grauenhaften Gastspiel des Akademischen Russischen Theaters aus Tbilissi los. „Pferde“, nach einer Erzählung Lew Tolstois. Die Geschichte eines alten Hengstes kurz vor seiner Schlachtung wird in Rückblenden erzählt. Freud und Leid, Liebe und Hass unter Pferden, gespiegelt durch den alten Hengst. Die Menschen sind versoffen und korrupt. Die Akteure, stets operettenhaft auf der Rampe spazierend, interessieren sich wenig für Partnerbeziehungen. Das Schlimmste aber ist die durchgehend komponierte Musik. Viele Geigen und Posaunen, Versatzstücke für eine poetisch gemeinte Handlung.

Um 21 Uhr sah ich auf der Kammerbühne Wsewolod Chubenko aus Wologda mit „Kysia – bestiary of modern times“. Er zeigt die Geschichte eines Katers im Petersburger Gangstermilieu. In rasender Sprechtechnik erzählt er von widerlichen Typen aus der neuen Oligarchenkaste, er kennt all ihre schmutzigen Geheimnisse. Eine zerfledderte Hängematte ist sein einziges Requisit. Chubenko ist ein Artist der Sprache und der blitzschnellen Aktionen. Der Monolog dauert 100 Minuten, eine an ein Wunder grenzende Schau.

15.09.2015
Gestern waren wir auf der ehemaligen Brester Festung. Ein riesiges Monument aus der Sowjetzeit. Der Betonheldenkopf eines Rotarmisten ist ca. 15 Meter hoch. Die Festung Brest hielt im Sommer 1941 dem Angriff Hitler-Deutschlands mehrere Tage lang stand. Auf dem Leninplatz steht nach wie vor der Sowjetheilige in überdimensionaler Bronze.

Das Republiktheater Luceafarul aus Chisinau in Moldawien spielt „Adam und Eva“ von Liviu Rebreanu (Regie Boris Focsha). Ein ältliches, etwas korpulentes Schauspielerpaar mimt die Bibelgestalten. Die schweren Provinzspieler zogen dilettantisch-pantomimisch durch die Weltgeschichte. Viele Zuschauer sind in der Pause gegangen.

16.09.2015
Wir sehen das Gastspiel einer privaten Moskauer Theaterschule. Sie zeigten die Musical-Choreografie-Performance „Wind“. Den machen vier Mädchen und vier Jungen, die uns 80 Minuten lang wortlos im wahrsten Sinne des Wortes aufwirbeln. Mit ihnen spielen sechs Musiker auf den ungewöhnlichsten Musikinstrumenten, alles Gebrauchsgegenstände für eine von mir bisher niemals gehörte Musik. Mittendrin agieren die vier Paare, die vom klassischen Tanz über den Fandango und Tango bis hin zum Rock alles in höchster Profession können. Formationen entstehen, um sofort wieder zerstört zu werden und so zum nächsten ungewöhnlichen Arrangement zu führen. Der Regisseur Georgi Berdzenischwili und ich haben uns sofort befreundet. Wir wollen zusammen ein Brecht-Projekt mit seinem neuen Studienjahr erarbeiten.

17.09.2015
Ich sah Tschechows „Kirschgarten“ in einer Vorstellung des Großen Dramatischen Theaters aus dem litauischen Vilnius (Regie Algirdas Latenas). Im Mittelpunkt steht Ljubow Andrejewna Ranjewskaja. Um sie dreht sich das überdrehte, verkokste Karussell der Gestrandeten. Der Gerichtsvollzieher ist hinter Ranjewskaja her. Vor Angst dreht sie irre auf und mit ihr diese unsägliche Gesellschaft. Immer weiter, kein Ruhepunkt, nicht nachdenken – bis sie zusammenbricht. Ihre Sklaven und Kostgänger folgen. Unverhofft zeigt die Aufführung alle Gäste dieses miesen Clubs in kaum fassbarer Seelentiefe, in ihren Möglichkeiten und Potenzialen, die sie einstmals besaßen. Vergebens.

18.09.2015
„FRO“ des Russischen Theaters im lettischen Riga, eine Adaption nach Texten Andrej Platonows (Regie Ruslan Kudaschow). Vier Frauen und vier Männer agieren in zig Rollen. Das Tempo rast. Das Ensemble ist grandios. Ja, wenn das alles nicht die pure Schönfärberei wäre!

Der Darsteller von Andrej Platonow ist ein schwerer, bräsiger Typ. Platonow war ein dünner, gequälter, kranker Mensch aus Stalins Zeiten. Seine Werke wurden nicht gedruckt, er starb, schwer krank, 1951. Dieses russische Theater verbrämt alles. Nur die Hauptdarstellerin Katja Frolowa versucht heldinnenhaft gegen die Schönfärberei ihres Petersburger Gastregisseurs Ruslan Kudaschow anzuspielen.

Das Staatliche Akademische Theater „M.S. Schtschepkin“ aus dem russischen Belgorod spielt „Kukly“ (Puppen) von Waleri Beljakowitsch. Das Bühnenbild: eine Spiegelwand mit zehn Türen. Über vierzig Akteure zeigen mit Monologen, Gesprächen, Tänzen und Liedern, wie die Menschen über alle Zeiten hinweg immer wieder zu Puppen der Mächtigen wurden. Und unsere vergeblichen Versuche, das Puppendasein abzuschütteln. Eine schöne Idee. Als Treiber tritt Witaly Bgawin auf. Er spielt den Satan. Das Ensemble wird von ihm in einem scharfen Rhythmus gejagt. Bgavin imitiert Putin, Jelzin, Breschnew, Chruschtschow und Stalin. Bei jedem neuen Machthaber gibt es neue Hoffnung. Auch hier: vergebens. Nach dieser grandiosen Theaterleistung reise ich zurück nach Berlin.

Mein „Gastspiel“ in Brest war eine wunderbare Sache. Ich habe sehr begabte Kollegen kennengelernt und „verjüngte“ mich von Tag zu Tag. Die Festivalleitung leistete Heldenhaftes. Die gewonnenen Kontakte werden die Arbeit des Internationalen Theaterinstituts in Osteuropa weiterbringen. //

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