Auftritt
Magdeburg: In den Köpfen blühen die Landschaften
Theater Magdeburg: „Tod der Treuhand“ (UA) von Carolin Millner. Regie Carolin Millner, Ausstattung Maylin Habig
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)
Assoziationen: Theater Magdeburg
Magdeburg und die Treuhand, das ist vielleicht ein besonders traumatischer Fall. Mit dem Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann (SKET) stand eine der größten Firmen am Ende der DDR zur Disposition, mit 30 000 Beschäftigten in 18 Betrieben. Das SKET dürfte auch einer der größten Fische für die zugleich in westdeutschen Maschinenbau-Vorständen tätigen Treuhand-Manager gewesen sein, denn hier ließen sich lästige Konkurrenten abwickeln und zugleich deren lukrative Ost-Europa-Geschäfte abgreifen. Diese auch persönlich profitable Vernichtung wurde sogar mit staatlichen Beihilfen gefördert, sodass sich ab 1997 die Europäische Kommission mit den Vorgängen befasste.
Ganz so hart wollte Carolin Millner, im benachbarten Halle/Saale geboren und in Stuttgart aufgewachsen, die Sache zum Vereinigungsjubiläum nicht angehen. Sie interessierte, „wie viel die Treuhand überhaupt noch machen konnte und was nicht auch schon vorher entschieden war“. Das klingt, als hätte es noch eine geheime Macht gegeben, der die Abwicklungs- und Privatisierungsbehörde hilflos ausgeliefert gewesen wäre. Für eine solche These, die alle Erkenntnisse zur Treuhand und die Erfahrungen der Betroffenen praktisch auf den Kopf stellt, hätte es tatsächlich eines auf harten Recherchen basierenden Dokumentartheaters à la Hans-Werner Kroesinger bedurft. Doch die Autor-Regisseurin entschied sich dagegen und für eine Art Lebensgefühl-Aufarbeitung von SKET-Magdeburgern.
Diese sitzen in Gestalt von zwei Frauen und zwei Männern an einem Wasserbassin, das auch eine Schleuse sein könnte oder vielleicht einmal auch industriell genutzt wurde. Maylin Habigs Bühnenbild lässt verschiedene Deutungen zu, ebenso wie der Titel „Tod der Treuhand“ auf ihr Absterben wie auch ihre Ermordung verweist. Die vier sind aber nicht nur Alltagsmenschen, sondern an ihrem Becken der Erinnerung auch halb-amphibische Wesen – mit Schwanzflossen oder Neptun-Dreizack auf dem Kopf. Dem Dokumentarischen wird also mit Poetischem begegnet und dem Untergangskapitalismus mit Undine-Romantik, was für ein Treuhand-Stück immerhin eine ganz neue Richtung ergeben könnte.
Der Einstieg erfolgt mit privat wirkenden Gesprächen über Urlaub und Theater. Bald wird in Rückblenden deutlich, dass sich hier ehemalige Werksangehörige erinnern: die Frauen bezeichnenderweise in der Verquickung mit Männerbeziehungen, die Männer typischerweise etwas verdrossener. Ein Potpourri von Kurzszenen beginnt, in denen im Kleinformat so gut wie alles vorkommt, was man im Allgemeinen über die Treuhand und ostdeutsche Großbetriebe so weiß. Warum die Figuren dafür auch Wasserwesen sein sollen, wird nicht klar. Auf der höheren Ebene der Undine-Romantik kommt man jedenfalls nicht an. Und wenn nicht der reale Herr Oberländer, letzter SKET-Generaldirektor – gespielt von Anja Signitzer – auftreten würde, wäre auch der engere Magdeburg-Bezug noch dünner. Der Inszenierung, die sich selbst als „Stückentwicklung“ ausweist, ist deutlich anzumerken, wie sie ihr Material aus privaten Gesprächen und nicht etwa Recherchen entwickelt hat.
Dass aus dieser Massenentwurzelung der Boden für rechte Stimmungen wurde und mit welcher Kaltblütigkeit und Arroganz die Manager ihre Ziele erreicht haben, das wird alles hier und da mit angespielt. Am Ende fluten Pflanzen in die Schleuse, als ob die Natur diese bewusst herbeigeführten Fehlentwicklungen der Wiedervereinigung ausgleicht. Von dieser freundlichen Harmlosigkeit ist man in der Erwartung einer Aufklärung und Neubewertung dieser auf Jahrzehnte noch nachwirkenden Ereignisse schwer irritiert. Wenn das der Blick der ost-west-deutschen Millennials auf ihre Herkunftsgeschichte sein soll, dann haben Helmut Kohls „blühende Landschaften“ zumindest in deren Köpfen verheerend gesiegt. //